Rachmaninow zum 150. Geburtstag
Sergei Rachmaninow
Klavierkonzert Nr. 3 d-Moll op. 30
Die Glocken op. 35
Dauer ca. 1 Std. 55 Min. inkl. Pause nach dem 1. Teil nach ca. 45 Min. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.
Gut zu wissen
Rachmaninow zum 150. Geburtstag
Kurzgefasst
Rachmaninow zum 150. Geburtstag
Anlässlich des 150. Geburtstags von Sergei Rachmaninow spielen die Philharmonia Zürich und das Tonhalle-Orchester Zürich vier Konzerte. Im Lauf dieser Reihe dirigieren die jeweiligen Chefdirigenten Gianandrea Noseda und Paavo Järvi beide Orchester in beiden Konzerthäusern. Den Anfang macht Gianandrea Noseda mit der Philharmonia Zürich im Opernhaus. Auf dem Programm steht das berühmte Klavierkonzert Nr. 3 mit dem Starpianisten Yefim Bronfman sowie die monumentale Tondichtung Die Glocken für Solostimmen, Chor und Orchester, in der Rachmaninow Schlitten-, Hochzeits-, Feuer- und Totenglocken erklingen lässt.
Dieses Konzert ist Teil des «Tribute to Sergei Rachmaninow», einer Kooperation der Philharmonia Zürich und dem Tonhalle-Orchester Zürich.
Videobotschaft von Gianandrea Noseda
Herzliche Einladung von Gianandrea Noseda vor der Villa Senar, dem Sommerhaus Rachmaninows am Vierwaldstättersee!
Volker Hagedorn trifft...
«Hat er geraucht?» «Kette», sagt sie, «eine Zigarette nach der anderen.» Wir stehen vor dem Gärtnerhaus, der Nieselregen hat kurz mal aufgehört, unterm Himmelsgrau hören wir von der Villa her einen Laubsauger brummen. Gärtnerhaus? Es ist selbst eine kleine Villa von dezenter Eleganz, kubisch, einstöckig, Flachdach, weiss, die Längsseite zum geschwungenen Parkweg hin, der Eingang unter dem rund umlaufenden Balkon versteckt. Das erste Gebäude, das er auf diesem Anwesen bezog, 1931. Von hier aus überwachte er den Bau der Villa Senar, benannt nach Sergei und Natalja Rachmaninoff. Mit ff. So stand es auf seiner Visitenkarte, so wird er hier am Vierwaldstättersee buchstabiert.
Auch von Andrea Loetscher, der Konzertflötistin und Kulturmanagerin, mit der ich rund um die Villa unterwegs bin, die für die Sergei Rachmaninoff Foundation das Kulturprogramm leitet und realisieren wird, nach der Renovierung. Wenn die Villa fertig ist, zum zweiten Mal. Noch wird das kubische Wunderwerk von einem Gerüst umschlossen und überdacht, von einem Aussenskelett, durch das schon die neu aufgebrachte Originalfarbe leuchtet, goldwarmes Ocker. Im Gärtnerhaus sind die Möbel zwischengelagert. Da findet man ein grüngepolstertes Stahlrohrsofa à la Corbusier, aber auch Neobarockes und Art déco, eine biedermeierliche Standuhr, einen schlichten Arbeitstisch, eine gewaltige Truhe – nein, das ist der Überseekoffer. Der Deckel mit grünem Leder bezogen und mit Messing beschlagen, das Innere blau und leer.
So stand er wohl auch in diesem Haus, frisch ausgepackt, als es losging. Wir sind seinem Besitzer jetzt vielleicht näher als in einer wohlsortierten Schau. In einer seltsamen Zwischenwelt bewegen wir uns an diesem frühen Tag des Jahres, in dem er 150 Jahre alt geworden wäre, in einer Mittagsstunde, aus der sich die Gegenwart zurückgezogen hat wie die Sonne hinter die Wolken über dem See. Dafür ist Rachmaninoff überall. Alles hier erzählt von ihm, auch die Bäume, auch der sanfte Schwung des Terrains. Denn er bestimmte jedes Detail.
«Er hat sogar einen Felsen abtragen lassen, den sie hier ‹Gibraltar› nannten», sagt Andrea Loetscher, während wir zum See hinabgehen. «Es sollte vermutlich mehr wie in Iwanowka aussehen.» Wie jenes Landgut 600 Kilometer östlich von Moskau, das Rachmaninoff 1917 zum letzten Mal sah, ehe er das ins Chaos gestürzte Russland verliess. Iwanowka, wo er die meisten seiner Werke komponierte und sich in die Cousine verliebte, die er 1902 heiratete, Natalja. Mit ihr suchte Sergei, als Pianist einer der bestbezahlten seiner Zeit, diesen Flecken der Schweiz im Jahr 1930 aus, als er 57 war und sie 53. Er suchte Ruhe in einem Europa, in dem schon wieder die politische Spannung wuchs.
Von oben gesehen, auf der Landkarte oder vom Satelliten aus, ähnelt die Halbinsel eine halbe Schiffsstunde östlich von Luzern dem Kopfprofil eines Löwen mit halb aufgerissenem Maul, nach links gewandt. Etwa da, wo das Auge wäre, befindet sich das Areal von 20’000 Quadratmetern, das der Musiker für 250’000 Schweizer Franken kaufte. Heute ist das eine der teuersten Lagen des Planeten. Wären nicht die Denkmalschutzauflagen für ein unschätzbares Kulturerbe, hätten Rachmaninoffs Erben das ganze Anwesen wohl für 30 Millionen Franken verkaufen können. Der Kanton Luzern konnte es aber für acht Millionen erwerben und bezahlte noch mal drei Millionen für die Renovierung. Das klingt viel einfacher, als es zustandekam…
Wir sind am Ufer, an einem Ausblicksplatz mit Steinbänken. Andrea Loetscher zeigt ins Grau über dem leicht bewegten Wasser: «Das ist der schönste Blick, den man am Vierwaldstättersee überhaupt haben kann.» Ohne Wolken sähe man drüben den Pilatus. «Es ist noch schöner, wenn’s nicht schön ist, wie jetzt» fügt sie hinzu. Mit Sonne sei es nämlich fast schon kitschig. Vom See aus konnte man früher bei gutem Wetter bequem die Villa sehen, jetzt verstellen die kanadischen Fichten den Blick, die der Musiker am Uferweg anpflanzen liess, wie auch die Scheinzypresse hinter der perfekt platzierten Steinbank, wie, im Park weiter oben, die Lärchen, Birken, Silbertannen, den Tulpenbaum und noch viel mehr, wovon er 1932 in einem Brief an seine Schwägerin schwärmt. Ein Stück weiter nach Süden ist das Bootshaus, darin schaukelte bis 1939 sein überlanges Motorboot, in dem er auf einem Foto fast etwas verloren sitzt. Er liebte die Moderne in der Technik so, wie er sie in der Musik ablehnte. Im Frühjahr 1930 lässt er seinen nagelneuen Lincoln mit V8-Motor von New York nach Le Havre einschiffen und steuert das Luxusauto von dort bis in die Schweiz. Für seine Villa verpflichtet er Schweizer Architekten, die zu den besten des «Neuen Bauens» zählen, Möri & Krebs, und lässt für ihren Entwurf ein Chalet abräumen. Man könnte meinen, der Mann verfüge über unbegrenzte Mittel – aber die Weltwirtschaftskrise trifft auch ihn, im Januar 1933 telegrafiert er: «Bau stoppen». Drei Wochen später gibt er wieder grünes Licht, gut ein Jahr später, im März 1934, steht der Bau.
«Vielleicht doch zu schnell gebaut», meint Andrea Loetscher, als wir zur Villa hochgehen über ein wunderbar geschwungenes Treppchen. Die Renovierungsbedürftigkeit des Baus geht eben nicht nur auf die jüngeren Jahrzehnte zurück, als zwar der Enkel des Künstlers hier nach dem Rechten sah, es aber an Mitteln fehlte. Rachmaninoff scheint es eilig gehabt zu haben mit seinem Paradies, das er sich sogar als letzte Ruhestätte dachte. Es gibt Briefe und Berichte aus den 1930ern, die von nachlassender Gesundheit und nicht mehr ganz zuverlässiger Virtuosität zeugen. Es gibt aber auch die geniale Rhapsodie über das Thema von Paganinis 24. Caprice, die er hier gleich nach dem Einzug schrieb, am neuen D-Flügel mit ein paar Extras, den ihm Steinway & Sons zum 60. Geburtstag geschenkt hatte. «Der stand da links.» Wir stehen draussen vor dem riesigen, sprossenlosen Glasfenster des «Studiums», wie Rachmaninoff den für ihn wichtigsten Raum nannte, sein Studio, drei Stufen tiefer als das Hauptgebäude und diesem nach Westen vorgelagert.
Drinnen sieht man jetzt nur Malerutensilien. Ich denke sie mir weg und stelle mir vor, wie er von hinten aus dem Salon kommt, der «sehr grosse, hagere, ernste Gentleman», wie ein New Yorker Kritiker ihn 1935 beschreibt, sich mit dem Rücken zu uns an den Flügel setzt, mit Blick auf die Fotografien über dem Bücherregal, und seinem fernen, nahen Kollegen Paganini huldigt, indem er dessen berühmtes Thema zwischen Ironie und Pathos dekonstruiert, ein letztes Mal für Klavier und Orchester komponierend, nicht zufällig in Konzertlänge.
Andrea Loetscher telefoniert inzwischen mit einem, der den Schlüssel zum Haus haben könnte. Denn die Handwerker sind gerade nicht da, und wie vor einem richtigen Umzug muss halt auch improvisiert werden. Ich tröste uns damit, dass man sich Claude Debussys Haus in Paris nicht mal auf Sichtweite nähern kann, weil es einer saudischen Prinzessin in einer gated community gehört. Ausserdem hat es etwas schön Konspiratives, hinter einer Bauplane bis zur Haustür mit seinen Initialen in Stahl zu gelangen: «SR». Der Eingang fürs Personal ist links davon und tiefer. «Es ist sehr hierarchisch», sagt Andrea Loetscher fast etwas entschuldigend. Naja, er hat wenigstens dazu gestanden, der antirevolutionäre Grossbürgersohn aus dem Zarenreich. Heute werden Hierarchien kaschiert, ohne verschwunden zu sein. Verrückt nur, wie sich das hier mit einer Architektur verbindet, die alles Herrschaftliche, allen Pomp abgeworfen hat.
«Ich gehe durchs Haus und fühle mich wie ein Millionär – obwohl nicht jeder Millionär so ein Haus hat», schrieb er nach dem Einzug. In der Tat haben die allerwenigsten Millionäre so einen guten Geschmack. Und es ist mehr als geschmackvoll. Das ganze Ensemble, der Park, die Bauten, die Pflanzen sind ein Werk, ein wunderbares Spätwerk, eine Komposition in Balance von Form und Detail. Und komponiert man nicht eigentlich für alle? Insofern steht der Villa Senar ihre Uraufführung erst noch bevor, weiter wachsend in der Zeit wie die kanadischen Fichten am Ufer. Ihr Schöpfer konnte Senar nur fünf Jahre lang geniessen. Im August 1939 spielt er noch bei den Luzerner Festwochen; zu der Zeit hat er sich, besorgt über die deutsche Expansionspolitik, schon eine Wohnung in New York gesichert, wohin er mit Natalja am 23. August aufbricht.
Der Mann mit dem Schlüssel kann doch nicht kommen. Egal. Holen wir in Gedanken schon mal die Möbel aus dem Gärtnerhaus, stellen den Esstisch und Stühle für acht Personen aufs Parkett in den hellen Salon. Denken wir uns unter die Gäste, die vom – wie immer bei Rachmaninoff – russischen Personal bedient werden, den 36jährigen Pianisten Vladimir Horowitz aus der Ukraine, der sich später mit dem Gastgeber ans Klavier setzen wird – denn das tat er – und selbst einer von dessen besten Interpreten ist. Hoffen wir auf vergleichbare Begegnungen in der Zukunft und rauchen vorm Gärtnerhaus noch eine mit SR. Es nieselt wieder. «Es ist nützlich zu wissen», hat er zu Beginn der Bauarbeiten geschrieben, «dass hier wie überall die regnerischen Leute überwiegen. Die sonnigen sind selten.» Könnte sein, dass Rachmaninoff seine Meinung ändert, wenn hier an seinem Geburtstag am 1. April sein Flügel wieder erklingt…
Das Gespräch führte Volker Hagedorn.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 98, Februar 2023.
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