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Platée

Jean-Philippe Rameau (1683-1764)
Ballet bouffon in einem Prolog und drei Akten
Libretto von Adrien-Joseph Le Valois d’Orville und Balot de Sovot
nach einem Stück von Jacques Autreau

In französischer Sprache mit deutscher und englischer Übertitelung. Dauer 2 Std. 25 Min. inkl. Pause nach ca. 1 Std. 10 Min. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.
Die Einführungsmatinee findet am 26 Nov 2023 statt.

Gut zu wissen

Trailer «Platée»

Pressestimmen

«Grandios gelingende Mischung aus guter Laune und Underdog-Schicksal»
Süddeutsche Zeitung, 11.12.23

«Mathias Vidal spielt und singt Platée mit einer hohen, so klaren und schönen Stimme voll jungenhafter Anmut und menschlicher Würde.»
SWR2, 11.12.23

«Mit viel Sensibilität, mit Witz und Tempo im besten Sinne unterhaltsam»
Deutschlandfunk, 11.12.23

«So theatralisch, dass die Wände wackeln»
NZZ, 12.12.23

«Barocke Klangpracht vom Feinsten»
Südkurier, 12.12.23


Interview


Eine grausame Komödie mit verrückter Musik

In Jean-Philippe Rameaus Oper «Platée» geht es um eine hässliche Nymphe, die sich in Gott Jupiter verliebt. In der neuen Inszenierung am Opernhaus Zürich spielt der allegorische Stoff in der Welt des Theaters und des Balletts – und es wird sehr viel getanzt. Die Dirigentin Emmanuelle Haïm und die Regisseurin Jetske Mijnssen über ihren Spass mit einer genialen Barockoper.

Emmanuelle und Jetske, ihr beide habt euch nach dem grossen Erfolg mit Hippolyte et Aricie in Zürich als nächstes Rameau-Projekt Platée gewünscht. Warum gerade diese Oper?
Emmanuelle Haïm: Ich möchte vorausschicken, dass ich damals bei Hippolyte et Aricie sehr glücklich über die Zusammenarbeit mit Jetske war. Jetske ist für dieses Repertoire genau die Richtige. Man braucht für die Tragédie en musique, die französische Barockoper, grosse Sensibilität für diese besondere Art von Theater und für die französische Sprache. Ich hatte deshalb grosse Lust, mehr mit ihr zu machen.
Jetske Mijnssen: Auch ich hatte den Wunsch, wieder mit Emmanuelle zusammenzuarbeiten, sollte ich je wieder eine Oper von Rameau machen. Da gab es diese sehr spezielle Chemie zwischen uns. Wie Emmanuelle Hippolyte et Aricie zum Leben erweckt hat, war so einzigartig und aufregend – man kann das auf keiner einzigen Aufnahme wiederfinden. Das Opernhaus hat uns aufgefordert, einige Titel von Rameau zu prüfen. Immer wieder landeten wir bei Platée, da uns beiden die Idee gefiel, nach der tragischen Oper Hippolyte et Aricie nun eine Komödie zu machen und damit in eine ganz andere Welt einzutauchen.
Emmanuelle Haïm: Ich habe schon viele Rameau-Opern dirigiert, Castor et Pollux, Dardanus, Les Boréades etc. aber tatsächlich noch nie Platée. Das hat mich natürlich gereizt. Platée ist ein Meisterwerk, ein hochtheatrales Stück, ungewöhnlich für damals und für uns heute. Für Platée gab es keinerlei Vorbilder, keinerlei Modelle. Es gab die Tragédie lyrique, das Ballet héroique, aber keine musikalische Komödie in der Hofoper. Kommt dazu, dass Platée zwar lustig ist, aber gleichzeitig eine grausame, bittere Ebene hat. Die Leute waren damals, bei der Uraufführung von 1745, sehr überrascht und wussten nicht, was sie darüber denken sollten.

Die Oper hat eine ungewöhnliche Titelfigur: Platée ist eine unansehnliche Sumpfnymphe, die glaubt, Jupiter höchstselbst habe sich in sie verliebt. Was für eine Figur ist Platée?
Jetske Mijnssen: Zunächst einmal kenne ich keine andere Oper, in der eine Figur so viel zu singen hat. Jupiter und Juno haben dagegen kaum Musik. Platée ist das Zentrum, es ist ihre Geschichte. Platée ist eine Rolle für einen hohen französischen Tenor...
Emmanuelle Haïm: Hippolyte, Dardanus, Castor, Atys – all diese Helden sind sogenannte Haute-contres. Das hat nichts mit Countertenören zu tun, die im Falsett singen! Ein Haute-contre ist ein richtiger tenore di grazia, jemand, der ziemlich hoch singen kann und auf dieser hohen Tessitura auch bleiben kann.
Jetske Mijnssen: Platée ist also ein Mann, der eine Frau darstellt. Und diese Frau ist eine Nymphe, eine hässliche Nymphe. Das ist natürlich nicht ganz unproblematisch. Was ich an der Figur so sehr mag, ist ihr charmantes Wesen. Platée verhält sich wie eine Teenagerin, verliebt sich sofort in jeden, wird aber nie wirklich zurückgeliebt. Trotzdem steht sie zu ihren Sehnsüchten, zu ihrem Recht auf Liebe und Erotik. Platée ist uns sehr nah, sie ist eine offene Person. Wie Emmanuelle sagte, haben wir es aber mit einer grausamen Komödie zu tun: Platées Begierden, ihre Lust werden als Hochmut eingestuft. Das muss am Ende abgestraft werden, und die alten Verhältnisse müssen wieder hergestellt werden. Platée wird von den Göttern und der Gesellschaft getäuscht, verspottet und verlacht: Einfältiges Wesen, glaubst du wirklich, dass sich der oberste Mann des Olymp zu dir herablassen und dich heiraten würde? Aber am Ende ist Platée die einzige Figur, die uns durch ihre Aufrichtigkeit berührt. Ihr gilt Rameaus Empathie.

Einen Schwächeren der Lächerlichkeit preiszugeben, das wird bereits im Prolog der Oper angekündigt.
Emmanuelle Haïm: Im Prolog tauchen allegorische Figuren des Theaters und der Kunst auf: Die Muse Thalia und Thespis, der Begründer des antiken Dramas, die gemeinsam mit Momus, dem Gott des Spottes und der Häme, ein Spektakel aufführen wollen. Der Titel des Prologs heisst L’origine de la comédie. Wie wir wissen, entsteht Komödie nur, wenn sie grausam ist und auf jemandes Kosten geht. Dadurch, dass diese Oper als Komödie verkleidet ist, war es damals überhaupt möglich, bitterböse zu sein. Die Theater-Allegorien kündigen nämlich an, nicht nur die Menschen, sondern auch die Götter zu verspotten – was letztlich heisst: dich, Publikum, euch, ihr Sponsoren! König und Königin!

Die Oper wurde in Versailles anlässlich der Verheiratung des Dauphins mit seiner spanischen Cousine in Anwesenheit des Königs uraufgeführt. Die Braut selbst soll sehr hässlich gewesen sein…
Emmanuelle Haïm: Es ist schon sehr überraschend, dass das Stück damals nicht zensuriert wurde! Im ursprünglichen Mythos ist die Braut Platée, mit der Juno an der Nase herumgeführt werden soll, sogar eine hölzerne Puppe.

Wir haben in Bezug auf Platée immer ganz selbstverständlich von «ihr» gesprochen. Aber die Rolle wird, wie gesagt, von einem Mann gesungen. Wie gehst du mit diesem Travestie-Thema um, Jetske?
Jetske Mijnssen: Mir war schnell klar, dass mich ein Mann, der eine hässliche Frau spielt, über die gelacht wird, nicht so sehr interessiert, und dass ich das auch nicht so lustig finde.
Emmanuelle Haïm: Die Idee, die hinter dieser Besetzung steckte, war, dass eine alte Frau eben eine tiefe Stimme hat. Das kommt noch aus der italienischen Oper mit ihren Ammen, den alten Frauen und Dienerinnen, die von Männern mit Tenorstimme gesungen wurden, und geht zurück bis zu Shakespeare, wo alle Frauenrollen von Männern gespielt wurden. Wir Frauen aber sind perfekt, wir sind Göttinnen, und sollten wir lächerlich sein, müssten wir natürlich von Männern dargestellt werden! Im Ernst: Ich sehe natürlich dein Problem, Jetske.
Jetske Mijnssen: Im Stück gibt es Nymphen, Najaden, Satyre, Halbgötter, Götter, Winde, alle Arten von Kreaturen und allegorische Figuren. Die Frage, wer Platée bei uns ist, hängt also auch damit zusammen, in welcher Welt wir diese Oper spielen wollen – und wie wir mit den Ballettnummern umgehen.

Rameau nennt seine Oper ein «Ballet bouffon».
Emmanuelle Haïm: Das war Rameaus Erfindung! Im ursprünglichen Librettotext steht davon noch nichts. Die Nummern, bei denen getanzt werden soll, sind geradezu überproportional in diesem Stück. Wir haben hier sogar noch mehr Tanzmusik als in einem «Ballet héroique» wie bei Rameaus Zais oder Les Indes galantes.
Jetske Mijnssen: Das Stück ist eine Hommage an das Theater. «Formons un spectacle nouveau!», heisst es im Prolog. Immer wieder wird mit den Mitteln der Kunst auf die Kunst selbst hingewiesen. Daher haben wir uns gefragt, ob das alles nicht direkt in einem Theater stattfinden sollte, einem Zweispartenhaus mit einem Opern- und einem Ballettensemble. Platée ist bei uns der Souffleur, ein junger Mann, der das Theater liebt, der in diese Welt ganz eindringen will und sich in Jupiter, den Startänzer, verliebt. In dieser Welt ist eben auch das Ballett eine ganz natürliche Sache. Es gibt Shownummern, Situationen backstage und Probensituationen.

Damit umgehst du das, was Melchior Grimm, ein Zeitgenosse Rameaus, einmal kritisch über die französische Barockoper bemerkte: Sobald nämlich die Handlung käme, werde sie durch einen Tanz unterbrochen, und sobald man sich an die Tänze gewöhnt habe, gehe die Handlung wieder weiter…
Jetske Mijnssen: Die Tänze müssen inhaltlich ins Geschehen integriert werden. Das haben wir bereits bei Hippolyte et Aricie versucht: Tanz und Handlung sollten nicht separat nebeneinander existieren.
Emmanuelle Haïm: Das wurde auch zu Rameaus Zeiten so gesehen: Personifizierte Winde auf der Bühne waren bei ihm in singende Winde und tanzende Winde aufgeteilt, also in singende und tanzende Menschen, die das gleiche Kostüm trugen. Es war wohl auch Rameau klar, dass die Anzahl der Tänze das normale Mass übertrifft. Im dritten Akt macht er sich sogar darüber lustig: Platée, die sehnlichst auf den Beginn der Hochzeit mit Jupiter wartet, wird mit unendlich vielen Divertissements auf die Folter gespannt. Man weiss, wer diese Tänze damals choreografierte, aber mir sind leider keine Dokumente der damaligen Choreografie bekannt. Das würde uns heute sehr helfen, zum Beispiel bei der Frage, wie schnell diese Tänze gespielt werden sollen – man kann ja nur bis zu einer bestimmten Geschwindigkeit springen, tanzen und hüpfen!

Emmanuelle, welches sind die musikalischen Besonderheiten dieser Oper?
Emmanuelle Haïm: Rameau war ja bereits über 60 Jahre alt, als er diese Oper schrieb, doch Platée klingt unglaublich jugendlich, frisch, witzig und modern. Rameau experimentiert, er schreibt visionäre Musik und verlangt an einer Stelle sogar Vierteltöne. Die Rhythmen variieren ständig, die Deklamation ist unglaublich biegsam und die Harmonien sind raffiniert. Über den Orchesternoten stehen manchmal witzige Hinweise wie «Hier gibt sich Platée wichtiger, als sie ist». Die Art, wie Rameau die verschiedenen Ausdrucksebenen und Emotionen Platées in Musik setzt, ist unendlich nuancenreich. In dieser Oper steckt viel schwarzer Humor, Ironie und manchmal auch eine gewisse Bitterkeit. Nie wieder hat Rameau so eine verrückte Musik geschrieben.

Damit wären wir bei einer weiteren bemerkenswerten Figur in diesem Stück angelangt: bei der wahnsinnigen La Folie, einer Allegorie. Wer ist sie?
Jetske Mijnssen: Sie ist die einzige, die eine grosse, isolierte Arie hat. Es ist sensationell, was sie stimmlich hier zu absolvieren hat, aber sie gibt damit auch ziemlich an. Bei uns ist sie vollends in das Stück integriert und eine ziemlich exaltierte Hauschoreografin, die andere terrorisiert. Sie gibt mythologische Geschichten von Verwandlung und Erneuerung der Leidenschaft zum Besten, auf die wir in unserer Inszenierung choreografisch und szenisch reagieren.
Emmanuelle Haïm: La Folie tritt in der Geschichte auf, um Platée mit ihrer endlosen Darbietung wütend zu machen. Es gibt einen Moment, bei der La Folie eine wilde Kadenz über einen endlos langen Basston singt – da gibt es nirgends Harmonien –, und das alles auf den Vokal «u», als ob ein Wolf den Mond anheulen würde. Dann wiederum singt sie mit viel zu vielen Silben, so dass niemand mehr verstehen kann, was sie eigentlich sagen will. Ich liebe dieses Loblied auf die Verrücktheit. La Folie sagt: Seht her, was ich alles kann! Manchmal bin ich supersensibel – und jetzt präsentiere ich euch die zärtlichste Musik! Sie sagt: Seht her, ich kann tragisch sein! Ich kann das Glanzstück der Harmonie schreiben! Und man hört die entsprechende Musik dazu. «Admirez tous mon art célèbre!», aber es ist letztlich Rameau selbst, den wir bewundern müssen und der mit Platée ein Meisterwerk an Originalität und Modernität geschaffen hat.
Jetske Mijnssen: Es ist ein brillantes Stück, aber durchaus eine Herausforderung, es auf die Bühne zu bringen. Gerade im dritten Akt, wenn sich die Hochzeit durch die Tänze herauszögert, muss man sich einiges einfallen lassen. Emmanuelle und ich haben daher eng bei unserer Fassung zusammengearbeitet.

Wie seid ihr hier vorgegangen?
Emmanuelle Haïm: Das ist kein einfaches Repertoire, das stimmt. Man muss sich gut organisieren. In den Ausgaben ist es sehr schwer herauszufinden, was für welche Aufführung verändert wurde. Es gibt ein paar Quellen, die die Version von 1745 betreffen, dann wissen wir von einigen Veränderungen bei den Pariser Aufführungen von 1749 und 1754. Doch was ist nun die richtige Version? Ist es die letzte, die erste? Vor allem: Welches ist die richtige Version für uns heute? Im Unterschied zu Hippolyte et Aricie, wo sich die Fassungen gravierend unterscheiden, sind es im Fall von Platée eher Details, die den Unterschied machen, die aber alle interessant sind. Da entdeckt man in einer Version: Ach, hier atmet Platée zweimal! Das macht einen komischen Sound. Hat man sich vorher dagegen entschieden, möchte man das jetzt wieder zurückhaben.
Jetske Mijnssen: Es ist ein paar Mal passiert, dass wir uns im Vorfeld für eine Version entschieden haben, dann aber bei den Proben merkten, dass wir die Dinge wieder ändern müssen. Wir reagieren hier beide aufeinander.
Emmanuelle Haïm: Es hing auch schon damals viel von praktischen Dingen ab, von den Fähigkeiten der Sängerinnen und Sänger etwa. In der Bibliothek der Opéra Garnier gibt es einige Quellen zu Platée, und man kann es kaum glauben: Hier wurden Noten über Noten geklebt! Man musste Papier sparen.

Emmanuelle, Platée ist ja eine Aussenseiter-Figur. Könnte man das auch von Rameau behaupten?
Emmanuelle Haïm: Definitiv. Rameau begann ja sehr spät zu komponieren, er hat keine professionelle musikalische Ausbildung genossen. Er begann mit dem Orgel- und Cembalospiel, schrieb Abhandlungen, komponierte zunächst kleine Kantaten, Musik für Cembalo. Erst mit 50 Jahren schrieb er dann wie aus dem Nichts seine erste Oper Hippolyte et Aricie, und es war ein Meisterwerk. Aber auch dann dauerte es noch, bis er akzeptiert und wertgeschätzt wurde. Er hatte bis zu seinem Tod viele Feinde, eckte überall an. Als er inmitten der Proben zu Les Boréades starb, wurde das Werk sofort abgesetzt und kam nicht zur Uraufführung. Rameau schrieb auch ein bisschen zu schwierig für die Musiker der damaligen Zeit, er scherte sich einfach nicht darum, war kompromisslos. Er hatte auch sehr genaue Vorstellungen, wie die Libretti aussehen sollten. Er war ein Mann des Theaters und darin visionär. Regelmässig überwarf er sich mit seinen Librettisten.

Emmanuelle, was bedeutet es dir, Rameau ausserhalb Frankreichs aufzuführen?
Emmanuelle Haïm: Sehr viel. Ich finde, dass dieses Repertoire exportiert werden muss und nicht exklusiv für eine kleine Kennerschaft bleiben darf. Ich wünsche mir, dass dieses Stück möglichst viele Menschen erreicht. Einige unserer Sängerinnen und Sänger haben noch nie Rameau gesungen, aber sie lieben und schätzen seine Musik sehr. Das finde ich toll. Für mich ist das hier eine grosse Bereicherung.

Jetske, wie ist es für dich, mit Mathias Vidal als Platée zu arbeiten?
Jetske Mijnssen: Das ist ein Geschenk. Als wir vor einigen Jahren dieses Projekt in Angriff nahmen, mir Emmanuelle mehrere Vorschläge für den Sänger der Titelrolle machte und ich Mathias zum ersten Mal hörte, wusste ich sofort, dass er es ist, den ich haben wollte. Er hat diese berührende Ehrlichkeit, Offenheit und Naivität. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine klare Vorstellung, wie unsere Platée werden würde, aber mit Mathias sah ich plötzlich den ganzen Abend vor mir. Ich habe mich zu einem sehr frühen Zeitpunkt mit ihm in Verbindung gesetzt, um ihm mitzueilen, dass er einen Mann spielt und keine Frau. Das ist wichtig in der Vorbereitung dieser Partie. Und auch, dass er tanzen muss. Mathias gibt sich der Sache komplett hin.

Das Gespräch führte Kathrin Brunner
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 107, Dezember 2023.
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Volker Hagedorn trifft...


Mathias Vidal

Mathias Vidal verkörpert Platée in Rameaus gleichnamiger Oper und singt damit zum ersten Mal am Opernhaus Zürich. Er ist besonders im barocken Repertoire international erfolgreich, mit Rollen in Opern von Monteverdi, Purcell, Rameau, Lully, Cavalli, Campra oder Boismortier, aber auch in Operetten und Opéra-comique-Produktionen wie «Orphée aux enfers», «La Vie parisienne» oder «La Périchole».

In dieser Probe ist er nicht die Hauptperson, und das passt ganz gut zu Mathias Vidal als dem, der er jenseits der Bühne ist. Extrem bescheiden. Wie intensiv er sein kann, stimmlich, szenisch, das wissen die Zuschauer und Kollegen seines gewaltigen Repertoires von Monteverdi bis zur Moderne, aber dieses Potenzial wird jetzt gerade nicht gebraucht. Er steht am Rand der Probebühne und wartet, bis La Folie, die funkelnde Sopranistin Mary Bevan, und die acht Tänzer ihn erreicht haben, umschlungen, ihm einen Hut aufgesetzt, ihn und seine Kollegin zu einem Tänzchen geführt haben, das vorn am Cembalo gespielt wird, während Emmanuelle Haïm mit Schwung dirigiert. Abbruch. Regisseurin Jetske Mijnssen tauscht sich mit dem Choreografen Kinsun Chan aus, Haïm überprüft selbst ein paar Takte am Cembalo, Mathias Vidal trinkt einen Schluck Tee.

Es ist eine von diesen Proben, bei denen aus wenigen Takten mehrere Baustellen werden, ineinander übergehend, in denen zwischen Konzept und Improvisation etwas so Komplexes zusammenwächst, dass man als Zaungast nicht gleich durchblickt und umso mehr die gut gelaunte Gelassenheit geniesst, mit der alle dabei sind. Und natürlich die Musik, diesen Rameau’schen Tonfall, der aus dem späten französischen Absolutismus schon in andere Zeiten vorzugreifen scheint, der noch etwas filigran Barockes hat und schon… ja, was? Als Mathias Vidal und Theo Hoffmann, der den sarkastischen Kleingott Momus spielt, einen knappen Dialog singen, schwebt ein Hauch Offenbach über die Szene, etwas Französisches jenseits der Revolution, von der Platée noch gut vier Jahrzehnte entfernt ist, die Komödie mit der Tenor singenden Sumpfnymphe.

«Gounod, Massenet, Bizet», sagt Mathias Vidal, als wir uns im Foyer darüber unterhalten. «In diese Richtung muss man Rameau singen. Es ist dieselbe Familie, dieselbe DNA. Das ist nicht Lully oder Charpentier, wir sind in der grossen französischen Oper.» Das gelte nicht zuletzt für seine Partie. «Für einige in Frankreich bin ich überhaupt nicht der Beste für dieses Repertoire. Sie wollen die Stimme sehr leicht für das ganze Barock, meine ist ihnen zu stark. Dabei habe ich keine Siegfriedstimme! Aber Rameau, das ist keine Kammermusik.»

«Haute-contre» habe nichts mit Countertenor zu tun, es bedeute bei Rameau einfach Tenor, so wie «dessus» die alte Bezeichnung für Sopran ist, «bas-dessus» für Mezzosopran, «taille» für Bariton und «basse-taille» für Bass. Allerdings: Bei Marc-Antoine Charpentier, 40 Jahre vor Rameau geboren, «liegt Haute-contre viel höher. Das kann ich nicht singen, unmöglich, da singe ich immer taille! Also, vorsichtig sein mit der französischen alten Musik!» Er lacht.

Mathias Vidal ist zierlich, hat dunkle Locken, braune Augen, einen knappen Bart und entspricht optisch durchaus dem Klischee vom Südfranzosen, der er ist, vor knapp 46 Jahren an der Cote d’Azur im Hafenstädtchen Saint-Raphaël zur Welt gekommen als Sohn eines Amateursaxophonisten. Mehr erzählt er über seine Eltern nicht, und dass er selbst eine Familie und Kinder hat, findet er nicht unbedingt erwähnenswert. Er selbst begann als Siebenjähriger mit dem Klavierunterricht. Als er in Nizza studierte, 50 Kilometer nordöstlich von seiner Vaterstadt, interessierten ihn Musikwissenschaft, Chor- und Orchesterleitung und immer mehr der Gesang. Das fing an im Chor der Oper von Nizza. Im kleinen Gattières nördlich dieser Stadt sang Mathias mit 20 Jahren zum ersten Mal eine Rolle in Hoffmanns Erzählungen. Von da war es ein grosser Sprung ans Pariser Conservatoire, wo er Gesang bei Christiane Patard studierte.

«Ich lernte alles bei ihr, mit sehr guter italienischer Technik, die lehre ich nun selbst. Sie starb leider vor zwei Jahren, sonst wäre ich jede Woche in Paris. Man braucht immer einen Lehrer, wenn man Sänger ist.» Rameau war damals noch in weiter Ferne, aber nicht Emmanuelle Haïm, die um 16 Jahre Ältere, die als Lehrbeauftragte ihm und anderen Studentinnen und Studenten Musik von Claudio Monteverdi nahebrachte. «Bis ich 25 war, habe ich eigentlich nur Belcanto gesungen, italienische Oper. Das sind auch meine Wurzeln, eine meiner Grossmütter kommt aus Sizilien, und sie sang dauernd diese Arien… Nach dem Konservatorium sang ich zum ersten Mal französische Romantik. Keine Hauptrollen!»

Das war in Compiègne, jener nordfranzösischen Stadt, die ausser ihrer historischen Bedeutung für Frankreich wie für Deutschland auch ein Théâtre Impérial aus der Zeit Napoléons III. hat, seit langem bekannt für seine Opernausgrabungen. Hier debütierte Mathias 2004 in Bizets noch nie aufgeführter Oper Noé, «und in derselben Saison sang ich Rossinis Barbier, Offenbachs La Périchole und ein bisschen frühe französische Musik mit Gérard Lesne, dem berühmten Counter. Ich sang alles, was die Leute wollten, ich dachte einfach, ah, da ist ein Job für dich!» Dieser bunte Start ins Bühnenleben scheint wegweisend bei einem, den man in Frankreich «éclectique» nennt, in vielen Genres zu Hause und nicht leicht zu etikettieren. Ist das ein Problem?

«Es wechselt von Haus zu Haus, wie man besetzt wird. Hier Rameau, da Operette…» Nein, das Hauptproblem ist ein anderes, und es gilt für alle französischen Sänger: «Wir haben tolle Musiker und nur 20 Operntheater, das ist nichts. In Deutschland gibt es 120. Warum? Theater in Nantes und anderen Grossstädten zeigen viel weniger Vorstellungen als zum Beispiel das in Oldenburg. Die festen Ensembles sind vor 40 Jahren verschwunden. Es gibt also nur Gastspiele. Wenn du in Frankreich auftrittst, geht es um das Leben, du hast nur einen Schuss! Wir versuchen diese musikferne Mentalität zu ändern, das geht nur langsam.» Umso lieber denkt er an den Erfolg, den eine Koproduktion der Theater von Lille und Rennes hatte, die 2017 Zemlinskys Einakter Der Zwerg auf die Bühne brachten. Es war der norwegische Talentscout Pål Christian Moe, der Mathias für die tragische Titelrolle empfahl.

Wer ihn im Mitschnitt erlebt, begreift sofort, warum das einschlug. Eine Stimme, die den Worten folgt, die fleht und nicht prunkt, eine Körpersprache, die zeigt, was dieser «Zwerg» vor allem ist – ein zutiefst verunsicherbares Wesen. «Ich war sehr glücklich mit diesem Charakter», meint er, «und mit der Atmosphäre dieser Musik, der Harmonik. Wir haben in Frankreich auch Werke aus dieser postromantischen Periode, aber die sind eleganter. Bei Zemlinsky ist es sehr real. Und auf Deutsch zu singen ist zwar nicht einfacher, aber klarer. Die Worte verbinden sich besser.»

Tatsächlich fiel ihm der Weg zu Zemlinsky leichter als der zu Rameau. «Ich war sehr langsam mit diesem Komponisten, und bei meiner ersten Produktion war ich improvable, denn es ist sehr schwer. Das Schwierige ist, die Ornamente und eine grosse Stimme zusammenzubringen. In der ersten Woche der Proben wird die Stimme erstmal klein, weil man alle Töne erwischen will. Man muss zu einer bestimmten Flexibilität finden.» Die Zürcher Platée ist die dritte, die Mathias auf der Bühne singt – nach Produktionen in Frankreich und Japan –, aber die erste, bei der die von den Göttern genasführte hässliche Nymphe eben keine ist, sondern ein männlicher Souffleur, der sich in einen Startänzer verliebt. Für ihn macht das keinen fundamentalen Unterschied. «Es sind dieselben Gefühle, dasselbe Spiel zwischen den Charakteren. Und die Figur ist sehr reichhaltig, naiv und anmassend, komisch, romantisch, tragisch.»

Ein Wunsch freilich bleibt offen. Ideal für Rameau und den Stimmumfang eines Haute-contre, meint er, sei ein Stimmton von 400 oder 405 Hertz statt 415 wie hier, «aber für Platée ist das okay, es ist eine Komödie!» Um was genau, frage ich ihn, geht es eigentlich in der komplexen Szene, die gerade geprobt wurde? «Platée wartet auf ihre Hochzeit mit Jupiter», sagt er in seinem sanften südfranzösischen Englisch. «She is enjoying moments. And… that’s it.»

Das Gespräch führte Volker Hagedorn.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 107, Dezember 2023.
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Drei Fragen an Andreas Homoki


Rameaus Farbenreichtum

«Im Bewusstsein von uns Opernmachern ist es immer noch nicht so richtig angekommen, dass das französische Barock eine Form bietet, die sehr viel mehr am Theater interessiert ist als die italienische Oper mit ihrer Ausrichtung auf gesangliche Virtuosität.»

Herr Homoki, die nächste Premiere am Opernhaus ist die Barockoper Platée von Jean-Philippe Rameau. Welche Idee steht hinter diesem Projekt?
Wir hatten ja vor vier Jahren diesen ausserordentlichen Erfolg mit Hippolyte et Aricie von Rameau. Die Oper war der erste Rameau in meiner Amtszeit und für Zürich eine echte Entdeckung. Die grossartige Emmanuelle Haïm war als musikalische Leiterin zum ersten Mal an unserem Haus zu Gast. Jetske Mijnssen hat die Oper mit der wunderbar funktionierenden Idee inszeniert, die Götter- und die Menschenwelt als eine aristokratische Familie des Barockzeitalters zu erzählen. Das Publikum hat diese Produktion geliebt. Aber auch im Haus war es eine so positive Erfahrung für alle, dass wir gleich beschlossen haben, das Team mit einer weiteren Rameau-Oper zu beauftragen, dieses Mal mit dem komischen Stoff Platée.

Was schätzen Sie an den Opern von Rameau?
Den grossen Farbenreichtum in der Harmonik, die fliessenden Übergänge von rezitativischen in ariose Formen und überhaupt die dramatische Qualität. Im Bewusstsein von uns Opernmachern ist es immer noch nicht so richtig angekommen, dass das französische Barock eine Form bietet, die sehr viel mehr am Theater interessiert ist als die italienische Oper mit ihrer Ausrichtung auf gesangliche Virtuosität. Was die fliessende Dramatik angeht, kann man einen Bogen spannen, der stilistisch direkt von Rameau über Gluck bis ins späte 19. Jahrhundert führt. Ausserdem liebe ich es, dass die französischen Barockkomponisten – anders als die italienischen – gerne für Chor geschrieben haben. Diese Chorpartien sind allerdings gleichzeitig wohl auch Grund dafür, dass französische Barockopern immer noch zu wenig in den Spielplänen auftauchen, denn sie sind für andere Stimmfächer geschrieben als für Opernchöre, die am Repertoire des 19. Jahrhunderts ausgerichtet sind. Die Tonlage, die in einem konventionellen Chor den tiefen Frauenstimmen gehört, wird im französischen Barock von Männern gesungen, den sogenannten Haute-contres. Das sind Tenöre, die sehr hoch singen können. Man könnte die Stimmlage zwar von Frauen singen lassen, aber es wäre klanglich etwas anderes. Deshalb engagieren wir in Zürich für Rameau zusätzlich Haute-contre-Tenöre und integrieren sie in unseren Hauschor. Das ist ein nicht zu unterschätzender zusätzlicher Aufwand, um diesen speziellen Klang zu bekommen. Aber er lohnt sich. Es klingt fantastisch.

Regisseurin ist Jetske Mijnssen. Sie gehört in Zürich zu den regelmässig wiederkehrenden Künstlerinnen. Warum ?
Ich kenne sie seit 20 Jahren. Als ich noch an der Komischen Oper Berlin war, hat sie dort die ersten Kinderopern am Haus gemacht. Sie ist dann konsequent ihren Karriereweg gegangen und hat nicht zuletzt in den letzten zehn Jahren mit ihren Arbeiten in Zürich ihren eigenen Stil gefunden. Inzwischen inszeniert sie international an den allerersten Häusern. Ihr Beispiel zeigt: Wenn man will, dass mehr Frauen in den Opernregieberuf gehen, reicht es als Intendant nicht, ein oder zwei etablierte Namen zu engagieren. Man muss sich darum kümmern, dass junge Talente sich entwickeln können. Nur so wird die Opernszene weiblicher. Die Regisseurin Kai Anne Schuhmacher hat gerade eine sehr gekonnte, poetische Inszenierung unserer aktuellen Kinderoper Jim Knopf auf die Bühne gebracht. Sie macht gerade den Schritt, den Jetske damals in Berlin gemacht hat. Mir ist es wichtig, als Intendant dazu beizutragen, dass die nächste Generation – und vor allem eine weibliche – ihre Entwicklungschancen erhält.

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 107,  Dezember 2023.
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Nachgefragt: Jetske Mijnssen über «Platée»

Wovon handelt Platée? Was macht die Musik von Jan Philippe Rameau besonders? Was ist ein «ballet bouffon»? Und warum wird die Nymphe von einem Mann gesungen?


Hintergrund


Das geschieht dir recht!

Menschen freuen sich, wenn anderen ein Missgeschick widerfährt – das erlebt man überall. Die Schadenfreude ist eine Konstante unseres Sozialverhaltens. Auch in Jean-Philippe Rameaus Oper «Platée» geht es um die Schadenfreude: Eine Sumpfnymphe wird zum Gespött aller, weil sie ernsthaft geglaubt hat, Gott Jupiter habe sich in sie verliebt. Warum lachen wir andere so gerne aus? Ein Gespräch mit dem Psychologen Jens Lange von der Universität Hamburg, der über die Schadenfreude forscht.

Herr Lange, wann haben Sie zum letzten Mal Schadenfreude empfunden?
Bei mir lösen sportliche Auseinandersetzungen Schadenfreude aus: Zum Beispiel als neulich der FC Bayern München, der erfolgreichste deutsche Fussballverein, im DFB-Pokal gegen einen drittklassigen Verein ausgeschieden ist. Oder wenn die deutsche Nationalmannschaft bei einer WM in einer Vorrunde ausscheidet, obwohl sie vorher angekündigt hatte, um den Titel zu spielen.

Mir kommen Gesellschaftsspiele wie das Leiterspiel in den Sinn, wenn einer am Schluss nochmals so richtig weit zurückfällt. Da empfinde ich ein geradezu wonniges Gefühl…
Das ist wahrscheinlich davon abhängig, welche Person genau zurückfällt und wie sie sich im Spiel zuvor gegeben hat. Man lacht nicht über alles und jeden. Aber wenn es den oder die «Richtige» trifft, dann schon.

Der Adressat der Schadenfreude muss also stimmen?
Es gibt generell zwei unterschiedliche Wege, wann Schadenfreude aufkommt. Der erste ist in der Tat, dass es den oder die Richtige trifft: das sind häufig Personen, die vorher sehr dominant aufgetreten sind, angeberisch waren, sich als unverletzbar dargestellt haben und dann scheitern. Wenn öffentlich über diese Person gelacht werden kann, verringert sich deren Ansehen automatisch. Sie wird dann nicht mehr als so gefährlich wahrgenommen, denn sie ist plötzlich verletzbar. Ein zweiter Weg ist, wenn Leute Rückschläge in ihrem Selbstbewusstsein erlitten haben, sich vielleicht gerade nicht so gut fühlen und dann über jemanden lachen können, dem es noch schlechter geht. Schadenfreude ist dann eine Aufwertung für das eigene Gefühl.

Sie forschen schon lange auf dem Gebiet der Schadenfreude. Was fasziniert Sie daran so?
Ich interessiere mich generell für Emotionen und dafür, wie Emotionen einem helfen, mit dem Leben zurechtzukommen. Jede Emotion hat eine Funktion. Manche Emotionen sind nur für einen selber, manche sind wichtig im Miteinander.

Ist Schadenfreude denn ein simples Gefühl? Das Wort selbst ist ja hochkomplex.
In der Forschung wird oft unterschieden zwischen Gefühlen, Emotionen und Stimmungen. Gefühle sind zum Beispiel elementar, in dem Sinne, ob es mir gut oder schlecht geht – das sind basale Einheiten, die Teil einer Emotion sind. Jede Emotion, wie eben die Schadenfreude, beinhaltet Gefühle: gute oder schlechte Gefühle, ob man erregt ist usw. Die Emotion umfasst neben Gefühlen auch unterschiedliche Gedanken, zum Beispiel, wie eine bestimmte Situation bewertet wird. Das kann dann auch zu direkten physiologischen Veränderungen führen, sei es, dass der Herzschlag hochgeht, sei es, dass man motiviert ist, etwas zu tun, oder dass man ein Lächeln zeigt. Das Gefühl ist also nur ein Aspekt einer Emotion. Eine Stimmung ist im Vergleich zur Emotion länger anhaltend und muss nicht notwendigerweise ein Objekt haben, auf das sie sich bezieht. Emotionen werden immer über etwas empfunden – wenn zum Beispiel jemand stolpert und ich darüber lache. Meine Emotion bezieht sich in diesem Fall auf das Stolpern. Wenn ich aber in schlechter Stimmung bin, weiss ich oft nicht genau, woher sie kommt. Wahrscheinlich ist diese Stimmung durch die Anhäufung vieler Emotionen entstanden, die vorher abgelaufen sind.

Stimmt es, dass die Schadenfreude dort im Gehirn verortbar ist, wo sich auch das Belohnungszentrum befindet?
Es gibt tatsächlich Befunde dafür, dass das Belohnungszentrum anspringt, wenn wir Schadenfreude empfinden. Aber das bedeutet nicht, dass Schadenfreude und das Belohnungssystem automatisch miteinander gleichzusetzen wären. Die Idee, dass man Emotionen im Gehirn verorten kann, ist im Grunde selbstverständlich, da alle möglichen Dinge, die man macht, übers Gehirn vermittelt werden. Komplexe Emotionen wie die Schadenfreude sind verteilt über ein riesiges Netz an Hirnarealen, die miteinander in Verbindung stehen, und da steht eben auch das Belohnungszentrum in Verbindung mit der Schadenfreude. Es passt ja ganz gut dazu, dass einem das Lachen hilft, mit einer negativen Situation zurecht zu kommen. Es könnte auch daran liegen, dass sich Schadenfreude einfach gut anfühlt.

Ist Schadenfreude eine Emotion, die universell ist?
Schwer zu sagen. Es gibt dazu keine kulturvergleichenden Studien. Aber ich denke schon, dass Schadenfreude ein über den ganzen Globus verbreitetes psychologisches Phänomen ist, auch wenn viele Sprachen dafür kein richtiges oder eigenes Wort haben: Das Englische, Französische oder Italienische benutzen das deutsche Wort «Schadenfreude» als Lehnwort. Situationen, die Schadenfreude auslösen, gibt es sicher weltweit. Aber es mag kulturell unterschiedlich sein, wie sehr es geboten ist, solche Emotionen auch auszudrücken. Ich könnte mir vorstellen, dass es besonders in asiatischen Ländern, in denen ein Ideal der Verbundenheit mit Anderen herrscht und man sich selbst als Teil einer grossen Gemeinschaft definiert, weniger vorkommt. Hier dürfte es seltener der Fall sein, dass man über andere Leute lacht, denn es gehört sich nicht.

Die Schadenfreude braucht ein Subjekt und ein Objekt: mich, vielleicht meine Gruppe und den anderen…
…und dieser Person ist irgendetwas passiert. In der Regel ist mir die andere Person plötzlich unterlegen, und ich kann eine Art Abwärtsvergleich anstellen. Es mag aber auch reichen, dass die Person von ihrem vorherigen Niveau fällt. Um nochmals auf das anfängliche Beispiel des FC Bayern zurückzukommen: Ich selbst kann ja trotzdem nicht so gut Fussball spielen wie die Spieler des FC Bayern. Die sind einfach nur von ihrem eigenen hohen Ross gefallen.

Ist es bei Ihrem Beispiel zwingend, dass Sie dabei Fan eines anderen Clubs sind?
Es fällt mir auf jeden Fall leichter, über den FC Bayern zu lachen, wenn ich nicht Mitglied bin. Ansonsten würde ich wohl eher Mitleid empfinden.

In unserer Oper Platée bricht Jupiters Göttergattin Juno am Schluss in schallendes Gelächter aus, als sie merkt, dass Jupiter sie mit der hässlichen Sumpfnymphe Platée betrogen hat. Sie erkennt, dass nicht ihr, sondern Platée ein übler Streich gespielt wurde.
Die Kurzbeschreibung Ihrer Oper fasziniert mich als Forscher zur Schadenfreude sehr. Hier wird ein plausibler Prozess beschrieben: Jemand wird zunächst eifersüchtig gemacht, und am Ende wird diese Eifersucht durch einen Schadenfreude-Moment aufgelöst. Es gibt Studien, die zum Schluss kommen, dass Eifersucht etwas ist, das durch eine Verletzung meiner persönlichen Wichtigkeit entstanden ist. Ich fühle mich dann zurückgesetzt, mein Selbstwert ist bedroht. Juno wurde durch Platée eifersüchtig gemacht, und das bedeutet eine Bedrohung ihres Selbstwerts. Wenn Juno schliesslich herausfindet, dass die andere Person gar keine richtige Rivalin ist, hilft die Schadenfreude, den Rückschlag wieder auszugleichen und sich besser zu fühlen.

Wir haben bisher vor allem über diejenigen gesprochen, die Schadenfreude empfinden. Wie sieht es jedoch mit den Geschädigten aus? Wie fühlt sich so jemand? Gibt es da Studien?
Meines Erachtens nicht.

Der Geschädigte hat ja den doppelten Schaden: Ihm ist etwas passiert, und gleichzeitig wird er von den anderen durch das Ver- und Auslachen ausgestossen.
Man kann sich in Bezug auf den Geschädigten zwei Reaktionen auf die Schadenfreude vorstellen. Nehmen wir an, ich bin eine sehr dominante Person. Mir passiert etwas, und die anderen nutzen den Moment aus, um mich kleinzulachen. Stehe ich mit denen immer noch im Wettbewerb, kann ich besonders wütend reagieren. Neben der Reaktion mit Wut könnte ich mir umgekehrt auch vorstellen, dass ich als Geschädigter versuchen würde, mich mit den anderen wieder freundlich zu stellen, sollte ich noch motiviert sein, mit diesen Leuten weiterhin etwas zu tun haben zu wollen. Schadenfreude ist ja auch ein Signal, dass man nicht so gemocht wird. Jetzt lachen die mich aus, jetzt bin ich aussen vor. Vielleicht wusste die Person das zuvor nicht.

Wie sehr ist Schadenfreude auf eine Öffentlichkeit angewiesen? Gibt es auch eine stille Schadenfreude?
Generell lässt sich sagen, dass man eher Emotionen ausdrückt, wenn andere Menschen anwesend sind. Höchstwahrscheinlich, weil das Signale an andere sind. Wenn man hingegen allein zuhause sitzt, muss man nichts signalisieren. Es gibt eine Studie, die Leute beim Bowling beobachtete. Es wäre zu erwarten gewesen, dass sich jemand sofort freut, wenn er einen Strike, also die maximale Punktzahl, geworfen hat. Aber es hat sich gezeigt, dass sich diese Person erst freut, wenn sie sich zu ihren Leuten umdreht. Das Gleiche kann man auch beim Filmeschauen beobachten, etwa bei einem Comedy-Film: In Gemeinschaft lacht man eher, als wenn man alleine ist. Das wird auch bei der Schadenfreude der Fall sein.

Der Emotionsausdruck der Schadenfreude ist das Lachen. Wie sieht dieses Lachen genau aus?
Versuche haben aufgezeigt, dass Probanden, denen man Videos von lachenden Menschen zeigt, ohne ihnen zu sagen, in welcher Situation es sich um Schadenfreude handelt und in welcher die Person einfach über einen Witz gelacht hat, erstaunlicherweise ganz gut sagen können, welches Lachen ein Schadenfreudenlachen ist. Es gibt hier wahrscheinlich minimale Hinweisreize. In Comics wird das Schadenfreudenlachen oft wie ein teuflisches Lachen dargestellt: Die Comic-Figuren haben eine Art Stirnrunzeln wie bei Wut, die Stirn zieht sich bösartig zusammen, die Augen ziehen sich nach innen und das alles wird kombiniert mit einem lachenden Mund. Versucht man, ein solches Lachen vor dem Spiegel zu imitieren, ist das gar nicht so einfach. Es sieht ziemlich komisch aus und entspricht wohl auch nicht ganz der Realität. Aber es ist etwas Ähnliches: Stellen Sie sich einmal vor den Spiegel, gucken Sie gerade aus und bewegen Sie das Kinn zur Brust. Schauen Sie dann leicht von oben auf Ihre Stirn, so als ob Sie die Stirn runzeln würden. Wenn Sie dazu noch lächeln, sieht das aus wie ein teuflisches, nach innen gerichtetes Lächeln. Ob das die Leute in der Praxis tatsächlich so machen, ist nicht so klar. Ich persönlich habe die Hypothese, dass man den Kopf zusätzlich noch etwas nach hinten und oben wirft und sich dadurch auch optisch über andere erhebt…

Schopenhauer nennt die Schadenfreude das «Gelächter der Hölle».
Auf Englisch gibt es den festen Ausdruck des «evil laughter». Wir alle haben ein sehr genaues Gespür, dass wir nicht über etwas lachen sollen, wenn es nicht so ganz angebracht ist. Wahrscheinlich widerspiegeln sich viele dieser Schadenfreude-Momente in einem leicht künstlichen Lachen. Man kann so tun, als ob man lachen würde, nur um dieses Signal zu senden, dass man etwas gut findet, obwohl man nicht aus vollem Herzen lacht.

Das Gespräch führte Kathrin Brunner.

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 107, Dezember 2023.
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Fragebogen


Evan Hughes

Evan Hughes singt in Rameaus «Platée» den Jupiter. In Zürich war er 2019 bereits als Gobrias in «Belshazzar» und 2022 als Leporello in «Don Giovanni» zu erleben.

Aus welcher Welt kommst du gerade?
Gerade habe ich Händels Theodora in einer schönen Inszenierung von Stefan Herheim in Wien hinter mir. Es war eine hochpsychologische, sehr intime Arbeit, die in einem Wiener Kaffeehaus spielte und einem den Boden unter den Füssen wegzog. Ich war ein strafender Bösewicht. Ich liebe dunkle und dramatische Opern, aber es ist sicher gesund für die Psyche, jetzt mit Platée – obwohl es dort auch tragische Elemente gibt – eine Komödie folgen zu lassen.

Worauf freust du dich bei der Produktion Platée?
Es ist das erste Mal, dass ich Rameau singe, und ich finde die Musik eine Offenbarung. Es ist wirklich aufregend, in einen neuen Gesangsstil einzutauchen, vor allem unter der Leitung der grossartigen Emmanuelle Haïm, mit der ich letztes Jahr in Händels Semele in Frankreich zusammenarbeiten durfte. Das Konzept von Jetske Mijnssen ist für mich ein grosser Spass, denn ich spiele einen «Divo», einen Balletttänzer, und darf tanzen und herrliche Musik singen.

Du bist Jupiter. Wie fühlt es sich an, den Gott der Götter zu verkörpern?
Unser Jupiter ist ein gottähnlicher Ballettstar, also hat er diese Kombination aus Charisma und Narzissmus, die ihn sympathisch und magnetisch, aber auch monströs macht.

Welche Bildungserfahrung hat dich besonders geprägt?
Ich würde sagen, die Eindrücke, die ich als kleiner Junge auf dem Campus des Musikfestivals «Music Academy of The West» in Kalifornien gewinnen durfte. Mein Vater leitete das Festival, meine Mutter war Sängerin und Gesangslehrerin, und während der Sommermonate, in denen das Festival stattfand, konnte ich bei Meisterklassen mit talentierten Opernsänger:innen zuhören.

Welches Buch würdest du nie aus der Hand legen?
Alles von Jonathan Franzen.

Welchen überflüssigen Gegenstand in deiner Wohnung magst du am meisten?
Meine Monstera deliciosa, die zu einem wilden Riesen herangewachsen ist. Ich liebe diese Pflanze und beobachte gerne, wie sie sich entwickelt.

Welche CD hörst du dir immer wieder an?
Als ich aufwuchs, war meine Mutter eng mit dem französischen Geiger Gilles Apap befreundet, der auch heute noch ein guter Freund von ihr ist. Er hat in den 90er-Jahren mehrere Alben aufgenommen, die ich mir öfter anhöre als alles andere. Er spielt Musik vom Barock bis zur rumänischen Volksmusik. Von seinen Soloplatten bis zu seinen Aufnahmen mit den «Transylvanian mountain boys» bin ich ein eingefleischter Fan, und seine Aufnahmen bringen mich immer wieder zu mir selbst zurück.

Mit welcher Persönlichkeit würdest du gerne mal zu Abend essen?
Mit dem Filmregisseur Derek Jarman.

Wie wird die Welt in 100 Jahren aussehen?
Angesichts des Leids in der Welt muss ich mich zwingen, optimistisch zu sein und darauf vertrauen, dass die unglaublichen Fortschritte in Wissenschaft und Technik und die Lehren aus der Geschichte uns vor uns selbst retten werden! Ich glaube, dass die Kunst auch in 100 Jahren noch eine der treibenden Kräfte des positiven Wandels sein wird und der Spiegel ist, den die Welt braucht!

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 107, Dezember 2023.
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Und wie sieht die Bühne aus?

Erhaschen Sie einen Blick in Ben Baurs Bühnenbildmodell von «Platée» und geniessen Sie einen kurzen Augenblick wunderbarer Musik!

Audio-Einführung zu «Platée»