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Kassandra

Michael Jarrell (*1958)
Kassandra

Die Studiobühne im dritten Untergeschoss des Opernhauses ist nur über 52 Treppenstufen erreichbar und somit für RollstuhlfahrerInnen nicht zugänglich.

Gut zu wissen


Essay


Eine Seherin blickt zurück

Seit kurzem verschickt eine grosse deutsche Wochenzeitung am Wochenende «auf vielfachen Wunsch» einen Newsletter mit ausschliesslich guten Nachrichten – in Krisenzeiten ein durchaus verständliches Bedürfnis.

Umgekehrt überrascht es nicht, dass die Überbringer schlechter Nachrichten oder jene, die als Warnende auftreten, in solchen Zeiten Aggressionen ausgesetzt sind. So zeigte erst kürzlich eine Umfrage unter Corona-Expertinnen und -Experten, die sich öffentlich äusserten, dass sie seit geraumer Zeit Todesdrohungen, Androhung von Gewalt, Beleidigungen und die versuchte Herabsetzung ihrer Glaubwürdigkeit erfahren haben.
In der Psychologie gibt es dafür den Begriff des Kassandra-Phänomens. Darunter versteht man die Verweigerungshaltung, die die moralische Natur bestimmter Vorhersagen bei anderen hervorruft, obwohl die Vorhersage eigentlich als wahr erachtet wird. Zu erkennen ist hier eine universelle Tendenz zur Verleugnung, die auch eine wirksame Verteidigung gegen Verfolgungsangst und Schuld darstellt.
Wir handeln demnach selbstzerstörerisch, obwohl wir es vielleicht besser wüssten, rasen trotz deutlichster Warnungen vor Umweltkatastrophen und den Grenzen des Wachstums in den Untergang; Whistleblowerinnen, «Nestbeschmutzer» und Aktivistinnen werden bestraft anstatt angehört, ob sie nun Edward Snowden, Chelsea Manning und Greta Thunberg heissen – oder eben Kassandra, die tragische Seherin aus der griechischen Mythologie. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes eine alte Geschichte.
Kassandra, Tochter des trojanischen Königs Priamos und der Hekabe, und damit Schwester von Hektor, Polyxena, Paris und Troilos, ist eine Figur aus Homers Odyssee und Ilias. Ihre Sehergabe erhielt sie von Gott Apollon. Dieser liebte Kassandra, bestrafte sie jedoch, als sie ihm ihre Gegenliebe verweigerte: Fortan sollte es ihr Schicksal sein, dass all ihre Prophezeiungen ungehört blieben. Vergeblich warnte sie die Trojaner vor dem Krieg, vergeblich vor dem hölzernen Pferd, aus dessen harmlos scheinenden Körper die feindlichen Griechen krochen und Troja in Schutt und Asche legten. Nach Kriegsende wurde sie unter dem Götterbild Athenes von Klein Aias vergewaltigt und von Agamemnon, dem Oberbefehlshaber der Griechen, nach Mykene verschleppt, wo sie von Agamemnons Frau Klytämnestra erschlagen wurde.

Ringen um Autonomie bei Christa Wolf

Die deutsche Schriftstellerin und Büchner-Preisträgerin Christa Wolf setzte sich seit 1980, anlässlich einer Griechenlandreise, intensiv mit der griechischen Antike und der Figur der Kassandra auseinander. Ihre Arbeit weitete sich zu einem Kassandra-Projekt aus, zu dem neben der Erzählung Kassandra (1983), ihrem erfolgreichsten Buch bis heute, auch ihre Frankfurter Poetikvorlesungen zählen.
Zu einem Hauptthema Christa Wolfs Schaffen gehörte die Unterdrückung und Ausgrenzung der Frau in der abendländischen Geschichte und Literatur. Hier bildete für Wolf die Erzählung vom Trojanischen Krieg (insbesondere die Orestie von Aischylos) eine der Kernzellen der patriarchalen Ordnung. In ihrer Erzählung dekonstruiert Wolf den Mythos, sie «entheroisiert» ihn, indem sie die Perspektive Kassandras wählt. Wolf zeigt nicht mehr die Sicht der Sieger, sondern die der Besiegten, die eine dezidiert weibliche Sicht ist. Ihre Erzählung wird dabei auch zu einer Parabel auf zeitgeschichtliche Herrschaftsstrukturen insgesamt.
Wolfs Text ist ein innerer Monolog, der die todgeweihte Seherin, die am Löwentor vor Mykene steht, auf ihr Leben zurückblicken lässt: auf Kindheit und Jugend am trojanischen Königspalast, auf den zehnjährigen Trojanischen Krieg und – als einen der wenigen Lichtblicke – auf ihre Liebe zu Aeneas.
Kassandra versucht die Wahrheit ihrer Existenz zu ergründen – analytisch messerscharf, manchmal verzweifelt, voller Schmerz und oft auch wütend. Bei Christa Wolf spielt dabei der Vorgang des Erinnerns eine zentrale Rolle. In einem einzigen Bewusstseinsstrom tauchen Erinnerungsfetzen auf, sie sind assoziativ und chronologisch wild durcheinandergeworfen, bis sie sich zu einem insgesamt dichten, dunklen Geflecht zusammenfügen.
Christa Wolfs Königstochter ringt um Autonomie und um ein selbstbestimmtes Leben. Sie hat den Drang, die Welt selbstständig zu sehen, Wissen und Erkenntnis auszusprechen und nicht «ameisengleich» die offizielle Meinung des Palastes zu vertreten, «nur um nicht sehen zu müssen». Kassandra nimmt dafür einen schmerzhaften Ablösungsprozess in Kauf, wird immer wieder von den eigenen Leuten angefeindet, weggesperrt und mundtot gemacht. Darin kommt auch Christa Wolfs eigenes Dilemma als Schriftstellerin in der ehemaligen DDR zum Ausdruck: Reden oder verstummen, gehen oder bleiben waren Fragen, die stets für sie im Raum standen.

Apokalyptischer Echoraum bei Michael Jarrell

Elf Jahre nach dem Erscheinen der Kassandra-Erzählung entwickelte der Komponist Michael Jarrell daraus ein ungewöhnliches musikalisches Monodram. Als Basis konnte er auf eine gekürzte Fassung von Christa Wolfs Ehemann Gerhard zurückgreifen, die dieser für ein Hörspiel hergestellt hatte. Ursprünglich plante Jarrell eine grosse Oper mit Chor und Orchester, verabschiedete sich dann aber von dieser Idee und rückte die Einsamkeit Kassandras in den Fokus. Dabei vermeidet Jarrell jegliche opernhafte Mittel, jeglichen affektgeladenen musikalischen Kommentar. Seine Seherin lässt er sprechen anstatt singen – eine Konsequenz, die sich für den Komponisten aus der Tatsache ergab, dass Kassandra ihrer Stimme als Prophetin beraubt wurde. 18 Instrumentalisten, Synthesizerklänge und elektronische Umformungen bilden einen apokalyptischen Echoraum für die Sprechstimme. Tiefe Hörner, furchterregende Gong-Schläge und flirrend-aufgeregte Streicherklänge dominieren die Partitur.
Jarrells Stück beginnt mit Apollons Fluch: «Wenn Apollon dir in den Mund spuckt, sagt er, bedeutet das: du hast die Gabe, die Zukunft vorauszusagen. Doch niemand wird dir glauben.» Dieser Fluch gibt dem Werk – neben zwei instrumentalen Zwischenspielen – seine grobe Struktur, indem er am Anfang, in der Mitte und am Ende vorkommt.
Die innere Rückschau, der «Faden des Lebens» von Kassandra, entspinnt sich sodann um Grundtöne, um Tonrepetitionen und harmonische Klangflächen, die entweder sofort entstehen, allmählich hervortreten oder sich Erdbeben-gleich ausbreiten. Stille, Zäsuren, Beschleunigungen, Tastendes und Atemloses wechseln sich blockartig ab.
Dabei bildet der Ton «D», der in der Musikgeschichte als besonders tragischer Ton gilt, ein wichtiges energetisches Zentrum; er wird beinahe schicksalshaft und obsessiv immer wieder angesteuert. «Es stimmt: der nahe Tod mobilisiert noch einmal das ganze Leben», reflektiert Kassandra. Jarrell hat sein Werk denn auch als eine einzige «Coda» betrachtet und erlebte Zeit während einer knappen Stunde zur gestauchten Zeit gemacht. Das alles erinnert unweigerlich an eine zentrale Stelle in Alban Bergs Oper Wozzeck: an den Mord Maries und den folgenden Orgelpunkt auf «H», wenn sich all ihre musikalischen Motive «so wie es im Moment des Todes sich ergeben mag – wie die wichtigsten Gestalten des Lebens blitzartig an ihr vorüberziehen.» (Alban Berg, 1929)

Der Trojanische Krieg der Gegenwart

Jarrells Stück steht auch in der Tradition von Arnold Schönbergs Monodram Erwartung, in dem ebenfalls eine einsame Frau im Zentrum ist, die sich auf die Suche nach der Wahrheit macht und zu verstehen versucht, was geschehen ist. Doch während Schönbergs Werk eine individuelle Tragödie beschreibt, blendet Jarrell die gesellschaftspolitische Ebene nicht aus – Jarrell bleibt hier Christa Wolf treu. So versucht Kassandra immer wieder zu ergründen, wie und aufgrund welcher Interessen der Krieg zwischen Troja und Griechenland eskalierte. «10 Jahre Krieg. Sie waren lang genug, die Frage, wie der Krieg entstand, vollkommen zu vergessen. (...) Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen».
Für Wolf, die ihre literarische Arbeit auch als Friedens- und Konfliktforschung verstand, stellte die damals sehr reale Angst vor dem Wettrüsten und der atomaren Bedrohung ein Hauptgrund für ihr Kassandra-Projekt dar. Für Michael Jarrell wiederum waren der Krieg in Jugoslawien und der Golfkrieg ein zentraler Anlass für seine Beschäftigung mit Wolfs Text. Dabei überzeugte ihn besonders Wolfs Version, wonach die Schöne Helena, um derentwegen der Trojanische Krieg ausgebrochen sein soll, nur ein Phantom gewesen war und als Kriegspropaganda für die Trojaner und Griechen diente. Jarrell sah darin eine Parallele zu den manipulierten Kommentaren, der Bilderflut und offensichtlichen Kriegslügen des Jugoslawien- und Golfkriegs.
Wolfs und Jarrells Werke bleiben aktuell. Diktaturen, Weltmächte, die propagandistisch und manipulativ agieren, sei es auf der Ebene der Sprache oder der Bilder, gibt es bis heute. Eine Welt ohne Gewalt und Konflikte bleibt nach wie vor Utopie: 2020 wurden weltweit 29 Kriege und bewaffnete Konflikte gezählt. In unserer westlichen Welt mögen sich Kriege weit entfernt anfühlen, doch glaubt etwa Byung-Chul Han in seinem Buch Topologie der Gewalt, dass gewalttätige Konflikte zusehends in inneren Welten zu suchen sind: «Die Gewalt verlagert sich vom Sichtbaren ins Unsichtbare, vom Direkten ins Diskrete, vom Physischen ins Psychische, vom Martialischen ins Mediale und vom Frontalen ins Virale.» Das Trojanische Pferd ist jedenfalls seit langem Teil unserer Gegenwart: als Programm getarnt, das bei Cyberangriffen gefährliche Viren einschleust – und eben längst nicht nur als Computerprogramm.          

Kathrin Brunner