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Götter­dämmerung

Richard Wagner (1813-1883)
Dritter Tag des Bühnenfestspiels «Der Ring des Nibelungen»
Text von Richard Wagner

In deutscher Sprache mit deutscher und englischer Übertitelung. Dauer 5 Std. 30 Min. inkl. Pausen nach dem 1. Aufzug nach ca. 1 Std. 55 Min. und nach dem 2. Aufzug nach ca. 3 Std. 40 Min. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.
Die Einführungsmatinee findet am 22 Okt 2023 statt.

Gut zu wissen

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Trailer «Götter­dämmerung»

Interview


Eine Welt ohne Liebe muss untergehen

Am 5. November hatte Richard Wagners «Götterdämmerung» Premiere. Ein Gespräch mit dem Regisseur Andreas Homoki über seine Inszenierungskonzeption.

George Bernard Shaw hat in seinem epochemachenden «Wagner-Brevier» behauptet, mit der Götterdämmerung sei Wagner sich selbst untreu geworden und habe eine Grosse Oper komponiert, mit all den zugehörigen Ingredienzen wie Duetten, Terzetten, Chorszenen usw. Da dieses Buch die Wagner-Rezeption seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark beeinflusst hat, hört und liest man dieses Verdikt immer wieder. Würdest du dem mit deiner Erfahrung bei der Arbeit am Stück zustimmen?
Shaw hat mit seinem Buch zweifellos eine überragende Leistung vollbracht, indem er erstmals Tiefenschichten des Werkes aufdeckte, die bis dahin nur sehr wenige bemerkt haben dürften. Und auch heute kann man es noch mit Gewinn – und Spass an seinem brillanten Witz – lesen. Ich finde dennoch, dass es sich hier um ein Fehlurteil und eine absichtsvolle Übertreibung handelt. Denn wenn man seine Behauptung überprüft, stellt man fest, dass die angeführten Beispiele in genau einer 20 Takte langen Duettpassage und einem 50 Takte langen Terzett und einer Chorszene bestehen. Das macht aus dem Stück keine Grande Opéra im Stil Meyerbeers. Vielmehr lässt sich nahezu an jedem Takt und jedem Vorgang zeigen, wie konsequent Wagner seinen Weg weitergeht und ganz eigene, originelle Lösungen findet, auch beim Einsatz des Opernchors. Bei allem Respekt für den wachen Blick des jungen Dichters – in diesem Punkt urteilt er reichlich oberflächlich und hat den entscheidenden Punkt weit verfehlt.

Welcher Punkt ist das?
Zweifellos ist das Auftreten des Opernchors ein deutlicher Bruch in der Dramaturgie der Tetralogie, aber dieser Bruch hat einen guten Grund: Die ersten drei Stücke spielen in einer mythischen Welt der Götter, Zwerge, Riesen, Drachen usw., in der die grossen, kraftvoll gezeichneten Figuren durch ihr trotz aller Zwänge doch selbstbestimmtes Handeln den Gang der Geschehnisse bestimmen. Die Erzählung von ihren individuellen Geschichten kann darum eine ganze Welt abbilden. Mit Siegfrieds Reise zu den Gibichungen verlassen wir diesen Bereich und geraten in die moderne menschliche Gesellschaft. Und hier spielt der Druck, den die Öffentlichkeit auf die Figuren ausübt, eine zentrale Rolle. Gleich im ersten Dialog zwischen Gunther und Hagen wird deutlich, dass die Motivation für Gunthers Handeln nur die Sorge um seine Reputation ist: Er sucht eine Gattin, die seinen Ruhm fördert, also seine gesellschaftliche Stellung verbessert. So ist es nur konsequent, diese Gesellschaft auch szenisch in Erscheinung treten zu lassen. Im zweiten Akt geschieht das, und wir erleben unmittelbar, wie die Individuen in ihrem Handeln von dieser Öffentlichkeit bestimmt werden. Das ist ein ganz neues Element der Erzählung, und daraus erklärt sich der auffällige Unterschied zu den vorherigen Stücken. Man könnte jetzt einwenden, dass auch Hunding seine Leute zusammenruft, um Sieglinde und Siegmund zu verfolgen, dass in der Walküre aber keine entsprechende Chorszene vorkommt. Aber der entscheidende Unterschied wird bei näherer Betrachtung schnell deutlich: Hundings Leute haben in der Oper keine Stimme, weil er ihnen gegenüber vollkommen souverän ist und sie nur die Werkzeuge seiner Entschlüsse sind, so dass von ihnen kein Einfluss auf sein Handeln ausgeht. Hunding könnte Siegmund auch allein töten, wenn sich die Gelegenheit ergäbe, Gunthers Handeln aber ist ohne den gesellschaftlichen Hintergrund nicht zu erklären.
Übrigens wollen wir Shaw ein wenig Gerechtigkeit widerfahren lassen: Die Götterdämmerung macht tatsächlich den Eindruck einer grossen Choroper, obwohl der Chor fast nur in einer Szene singend hervortritt und der Frauenchor kaum drei Sätze zu singen hat. Das liegt an Wagners Kunst des ökonomischen Einsatzes der Mittel, der starken Konzentration von Inhalt und Ausdruck, die wir gerade im Ring allenthalben finden, wenn wir uns nicht von der pompösen Fassade in die Irre führen lassen. Das bedeutet übrigens auch, dass sich das Stück in einem Punkt nicht von den anderen drei unterscheidet: Es handelt sich auch hier um ein Kammerspiel, ein Drama der subtilen Gesten, nur eben um ein Kammerspiel vor dem Hintergrund der Massengesellschaft.

Eine auffallende Besonderheit dieses Stücks ist, dass die Liebe, die in den ersten drei Stücken das wichtigste handlungsbewegende Element war, hier anscheinend kaum vorkommt…
Tatsächlich scheint es Liebe nur in der sehr kurzen Szene zwischen Brünnhilde und Siegfried im Prolog zu geben. Wenn Siegfried sich von Brünnhilde trennt, verschwindet sie aus dem Geschehen. Die Welt der Gibichungen, in die Siegfried gerät, ist liebelos. Gunther und Gutrune streben nach gesellschaftlichem Renommee, ausschliesslich diesem soll die Ehe mit einer berühmten Frau oder einem berühmten Mann dienen. Bei Gutrune ist vielleicht ein bisschen spätpubertäre Schwärmerei für den berühmten Helden im Spiel. Aber mit Liebe, wie wir sie bisher bei Siegmund und Sieglinde oder Siegfried und Brünnhilde gesehen haben und wie sie Loge im Rheingold als weltbewegende Urkraft besungen hat, hat das nichts zu tun. Die erste Szene in der Gibichungenhalle zeigt: Die Welt, die Wotan einst eingerichtet hat, ist in einem armseligen Zustand. Von seinem Wunsch, Liebe und Macht auf einen Nenner zu bringen, ist nur das kalte Machtstreben geblieben. Erst als der sterbende Siegfried versteht, was geschehen ist, und erkennt, was er Brünnhilde angetan hat, kehrt seine Liebe und seine Zärtlichkeit zurück, die nicht mehr sichtbar war, seit er den Brünnhilde-Felsen verlassen hatte. Brünnhilde erfährt von den Rheintöchtern, was vorgefallen ist, und gewinnt so die Fähigkeit zur Liebe zurück: Sie kann Siegfried verzeihen, und so aus Liebe – nicht nur zu ihm, auch zu Wotan und allen Leidenden und Verlassenen – Hagens Machtübernahme verhindern und die Welt vom Fluch des Ringes reinigen. Das ist Wagners grosse Hoffnung: Dass die Politik, dass das Streben nach Macht besiegt werden kann, indem die triumphierende Liebe das Politische einfach auflöst.

Ist Siegfried ein Held?
Das kommt darauf an, wie man den Begriff «Held» definiert. Es gibt in der Götterdämmerung zwei grosse Orchesterzwischenspiele, die von Siegfried erzählen. Siegfrieds Rheinfahrt bildet den Übergang vom Prolog zum ersten Akt, hat also zunächst einmal den rein praktischen Zweck, die Zeit, die für den Umbau gebraucht wird, zu überbrücken. Aber Wagner nutzt die Gelegenheit, ein Porträt Siegfrieds als eines «unbedarften» Helden zu zeichnen, also eines jungen Menschen, der voller Vertrauen frohgemut in die Welt hinausgeht. Es ist eines der hellsten und heitersten Musikstücke in Wagners Werk und sicher deshalb so überaus beliebt. Die Musik beschreibt sehr plastisch und sehr witzig, wie Siegfried voll froher Erwartungen den Felsen hinabsteigt, bis er staunend den majestätisch dahinfliessenden Rhein betrachtet, wie er bei seiner Reise den Rheintöchtern begegnet, die ihm zujubeln, weil er die Rückkehr des Rheingolds ermöglichen wird, und man hört schliesslich, wie sich das Bild verdüstert, wenn die Reise in der Menschenwelt endet, an der Siegfried zugrundegehen wird. Die Frage, ob das eigentlich ein Held ist, liegt insofern nahe, als sich die Figur, die in diesem Zwischenspiel geschildert wird, ganz erheblich vom Idealbild des blonden, blauäugigen Kraftmenschen unterscheidet, das im 19. Jahrhundert im Schwange war und uns z.B. noch in Fritz Langs Nibelungen-Film entgegentritt.

Wenn man Siegfried und sein Schicksal genauer betrachtet, kommt man nicht um die Feststellung herum, dass er gar nichts Heldenhaftes tut...
Und schon gar nicht kann davon die Rede sein, dass er die Welt erlöst. Er tut gar nichts für die Auflösung des Konflikts, der den Ring bestimmt. Vielmehr ist es Brünnhilde, die das Ende von Wotans System herbeiführt, und wenn man es ganz genau nimmt, befördert Brünnhilde damit nur den natürlichen Lauf der Dinge.

Aber warum wird sein Tod in der berühmt-berüchtigten Trauermusik des dritten Akts – dem zweiten grossen Orchesterzwischenspiel – dann so ergreifend beklagt?
Man kann vielleicht sagen, dass für Wagner das utopische Potenzial dieser Figur gerade darin liegt, dass er kein Held im herkömmlichen Sinne ist. Nicht seine Kraft und Mordbereitschaft machen ihn gross, sondern sein Vertrauen in das Leben, die Güte der Welt und der Menschen. Man kann ihn naiv nennen, denn jeder, der ihn so in die Welt ziehen sieht, weiss sofort, dass er scheitern wird. Denn wir kennen die Welt, er aber nicht. Wie er sich die Welt vorstellt, ist sie nicht, aber – das ist der Punkt – sie sollte so sein. Die ideale Welt, deren Verwirklichung sich Wagner von der Revolution erhoffte, müsste so beschaffen sein, dass ein Siegfried in ihr nicht zum Scheitern verurteilt ist. Und eigentlich scheitert nicht Siegfried an der gegenwärtigen Welt, sondern diese scheitert an ihm. Sein Untergang erweist die Nichtswürdigkeit der Verhältnisse. Die instrumentale Totenklage für Siegfried ist in ihrer monumentalen Wucht dem, was hier geschehen ist, angemessen: Gestorben ist die grosse Hoffnung, dass ein anderes Leben, ein besseres Dasein in dieser Welt verwirklicht werden kann. Was Wagner komponiert hat, ist das Gegenteil von dem, was die Nazis daraus gemacht haben, wenn sie dieses Stück zur Trauermusik für die Beerdigung von Nazigrössen pervertiert haben. Es handelt sich auch gar nicht um einen «Trauermarsch», sondern um eine echte Trauermusik, die zu mehr als der Hälfte nicht Siegfried, sondern seinen Eltern und ihrer rebellischen Liebe gewidmet ist. Die Musik beschreibt die unendliche Trauer über eine Welt, in der alles Gute und Liebevolle immer wieder unter den brutalen Schlägen der Wirklichkeit zusammenbricht. Am Ende, wenn auch Siegfried zu Fall gebracht ist, steht die Musik der trauernden Brünnhilde: eine sehr zarte, sehr menschliche, ganz und gar nicht heroische Musik.

Warum lässt sich Brünnhilde so vollständig auf die Gibichungen-Welt ein, dass sie sich von der liebenden Frau in die Rachefurie verwandelt, die nur ein Ziel kennt, den geliebten Mann zu vernichten?
Eigentlich lässt sie sich nicht darauf ein, sondern wird durch Hagens Intrige hineingerissen, die alle Figuren der Menschenwelt zu Werkzeugen im Kampf um den Ring macht. Wir werden versuchen, das sehr genau herauszuarbeiten. Aber auch Hagen ist nichts als Alberichs Werkzeug. Er ist überhaupt nur auf der Welt, um seinem Vater den Ring zurückzugewinnen. Sein Schicksal ist vielleicht noch schlimmer als das Brünnhildes und Siegfrieds: Sie lernen immerhin das Glück der Liebe kennen, wenn es auch von kurzer Dauer ist, Hagen ist das vollständig versagt. Und er weiss das selbst sehr genau, wie die ergreifende Selbstbeschreibung in seinem gespenstischen Nachtgespräch mit Alberich zeigt. Hagen ist also die Figur, die das Geschehen vorantreibt, aber er ist selbst ein Getriebener. In dieser dramaturgischen Eigenheit des Rings erkennen wir den Revolutionär Wagner: Das Drama wird nicht von den Figuren bewegt, sondern die Figuren von ihm. Sie alle sind getrieben von den Verhältnissen, gegen die sie nicht ankönnen. Es ist keine Lösung, Hagen zu beseitigen, das Ganze, das auch ihn zum Opfer macht, muss verändert, abgeschafft werden.

Wie wird die Bühne für dieses letzte Drama der Tetralogie aussehen?
Die Bühne wird dieselbe Grundstruktur haben wie die anderen Stücke auch. Es gibt also auf der Bühne diese Flucht von identischen Innenräumen einer vielleicht gründerzeitlichen Villa. Die Drehscheibe ermöglicht oft wechselnde Perspektiven und Räume und, wenn man es streng nehmen will, viel mehr Bilder, als Wagner in seinem Libretto vorgesehen hat, in denen sich die mitunter stark divergierenden Anforderungen der einzelnen Szenen auf eine einfache und einleuchtende Weise umsetzen lassen. Dieses Prinzip haben wir nun schon dreimal erprobt, und es hat sich als tragfähig erwiesen. Natürlich auch deshalb, weil es ermöglicht, dass sich die Ausstattung dieser Räume von Stück zu Stück abhängig vom angestrebten Charakter der Erzählung unterscheidet. Das bedeutet ein Wiedersehen mit einigen bereits bekannten Elementen wie dem Walkürenfelsen, dem Grund des Rheins, Walhall, dem Baum aus Hundings Hütte. Eine neue Aufgabe war die Gestaltung der Gibichungen-Welt, die einerseits eine Metapher für uns heute sein soll, für die mein Bühnenbildner Christian Schmidt und ich andererseits einen gewissen archaischen Charakter beibehalten wollten, um in diesem letzten Teil der Tetralogie ästhetisch nicht zu sehr von den ersten drei Teilen abzuweichen. Was besonders schön ist: Das Prinzip dieses Bühnenbilds für die Tetralogie gibt uns die Möglichkeit, da zu enden, wo alles begonnen hat: mit leeren, langsam rotierenden Räumen als Metapher für das ewige Dahinfliessen der Zeit mit der Hoffnung auf einen Neuanfang – einer Hoffnung, wie sie uns aus den letzten Takten des Orchesters entgegenklingt.

Das Gespräch führte Werner Hintze
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 106, Oktober 2023.
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Fotogalerie

 

Fotogalerie «Götterdämmerung»

Pressestimmen

«Schlicht und ergreifend überwältigend»
SWR2, 06.11.23

«Eine Empfehlung für alle und jede und jeden»
BR-Klassik, 06.11.23

«Ein vielstimmiges Gesamtkunstwerk»
NZZ, 06.11.23

«Einer der klarsten und prägnantesten Ringe, die man derzeit erleben kann»
Deutschlandfunk, 06.11.23


Interview


Die Musik macht Hoffnung

Dirigent Gianandrea Noseda im Gespräch über die besonderen musikalischen Farben und die kompositorische Komplexität von Wagners «Götterdämmerung».

Gianandrea Noseda, im April letzten Jahres war die Premiere von Rheingold, nun sind wir in unserem neuen Zürcher Ring beim letzten Teil angekommen, der Götterdämmerung. Unterscheidet sich die Art und Weise, wie Sie sich der Götterdämmerung annähern, von Ihrer Arbeit an den ersten drei Teilen?
Je länger ich mich mit dem Stück beschäftige, desto mehr wird mir klar, wie viel es noch zu entdecken gibt! Es ist wie bei vielen grossen Kunstwerken: Je tiefer man in sie eindringt, desto mehr findet man, und desto klarer sieht man, welche noch unerforschten Tiefen sie enthalten. Die Götterdämmerung verlangt mir als Dirigent alles ab. Man muss sich in diese Welt vergraben, sich geradezu selbst in ihr verlieren. Ich bin voller Bewunderung für Wagner und das, was er hier geschaffen hat – das umzusetzen, ist eine grosse, aber auch zutiefst beglückende Herausforderung.

Was empfinden Sie als besonders herausfordernd?
Die Götterdämmerung ist das Ende einer grossen Reise, und Wagner hat alles in dieses Stück hineingepackt – alles, was in den drei vorangehenden Teilen geschrieben wurde, kulminiert hier. Tristan und Isolde ist zwar meiner Ansicht nach sowohl auf der kompositorischen als auch auf der gedanklichen Ebene noch komplexer. Andererseits haben wir es in der Götterdämmerung mit mehr Figuren zu tun. Gunther, Gutrune und Hagen kommen zu den bereits bekannten Figuren noch hinzu, und alles ist miteinander verknüpft, hat Verbindungen, die weit in die Vergangenheit und teilweise auch in die Zukunft reichen. Diese Komplexität verlangt nach grosser Klarheit in der Darbietung. Denn ohne diese Verbindungen kann das Ganze leicht zerfallen. Das ist schwierig, aber eine wunderbare Aufgabe!

Worin genau besteht die Komplexität?
Sie steckt in den vielen Schichten. Wenn es im Rheingold drei Schichten sind, dann sind es in der Götterdämmerung fünf. Das hat mit der viel grösseren Zahl an Leitmotiven und mit der ganz anderen Art zu tun, wie Wagner mit ihnen umgeht. Im Rheingold erleben wir, wie die Leitmotive entstehen, und sie werden relativ einfach eingesetzt, so dass es nicht schwer ist, ihren Sinn zu entschlüsseln. Allerdings gibt es die Gefahr, dass der grosse Fluss aus dem Blick gerät. Das ist in der Götterdämmerung ganz anders, weil Wagner nun die Motive viel flexibler handhabt und in einen komplexen polyphonen Orchestersatz einbindet. Die Harmonik ist viel komplizierter – und übrigens auch dissonanzenreicher – geworden. Hier sieht man die Erfahrung, die Wagner bei der Komposition des Tristan gesammelt hat. Auch in Walküre gibt es schon harmonisch sehr avancierte Stellen, die Götterdämmerung ist aber deutlich weiter entwickelt. Es kommt mir vor, als denke Wagner hier weniger vertikal, also in Harmonien, als eher horizontal, wie Bach und andere Komponisten aus dessen Zeit. Hier haben die Meistersinger mit ihrem Rückgriff auf traditionelle Formen der kontrapunktischen Polyphonie deutliche Spuren hinterlassen. Während die Architektur in Rheingold und Walküre eher vertikal geprägt ist, scheint mir Wagner in der Götterdämmerung viel stärker an Melodie- und Spannungsbögen interessiert. Die Harmonien entstehen sekundär aus der Linienführung.

Wagner hat ja insgesamt – mit einer langen Unterbrechung nach dem zweiten Akt des Siegfried – 25 Jahre am Ring des Nibelungen gearbeitet. Die Götterdämmerung, sein vorletztes Bühnenwerk, gehört deutlich zu seinem Spätwerk. Empfinden Sie den Ring trotzdem als ein grosses Ganzes?
Ja – aber eher in der Art, in der ich auch die neun Sinfonien Beethovens als ein grosses Ganzes empfinde; dahinter steht für mich ein Gedanke, der in neun Kapiteln ausgearbeitet wird. Aber natürlich gibt es in den vier Teilen des Rings Unterschiede, und auch die Erfahrungen, die Wagner in seinem persönlichen Leben gemacht hat, haben Spuren hinterlassen. Ich empfinde Rheingold und Walküre als deutlich heller, hoffnungsvoller – was sicher auch mit der Lebensphase zu tun hat, in der Wagner sich befand. Siegfried hat noch viele Elemente der Opera buffa. In der Götterdämmerung spüre ich einen Menschen – Wagner –, der sein Leben lang für die Veränderung der Welt gekämpft hat und schliesslich nur noch wenig Hoffnung hat, dass die Welt durch Kunst oder auf welche Weise auch immer verändert werden kann. Vielleicht ist es das, was die Götterdämmerung so düster macht.

Hat denn die Götterdämmerung im Vergleich zu den anderen Teilen des Rings eine besondere musikalische Farbe?
Die Götterdämmerung verbindet all die musikalischen Farben miteinander, die wir in den drei Stücken zuvor gehört haben. Wir begegnen den Rheintöchtern und ihrem Element des fliessenden Wassers wieder, wir hören wieder den Waldvogel und Klänge aus dem Waldweben, das Motiv der Erda erklingt, auch wenn sie selbst als Figur nicht mehr auftritt – und das Götterdämmerungs-Motiv ist ja die Umkehrung des Erda-Motivs! Und auch das Fluchmotiv ist sehr präsent, ebenso wie das Ring-Motiv und viele weitere Motive, die uns seit Rheingold in verschiedensten Formen begleitet haben. Und natürlich Siegfrieds Hornruf, der nun stark verbreitert in anderen Instrumenten wiederkehrt und den vielleicht etwas älteren Helden charakterisiert. Dabei erzählt das Stück in erster Linie von negativen Ereignissen und Affekten, von Verlust, Verrat, Demütigung, Angst, Machtgier usw. Aber es erzählt auch – vor allem am Schluss – von Verklärung. Die letzten Seiten dieser Partitur gehören für mich zum Schönsten, was überhaupt je komponiert wurde. Nicht nur, weil hier viele zuvor gehörte Leitmotive noch einmal kunstvoll miteinander verwoben werden. Sondern vor allem, weil neben dem Ende der Götter auch die Hoffnung auf etwas Neues aufscheint. Die Götter mögen die ganze Welt in ihren Untergang hineinreissen, aber die Hoffnung können sie nicht zerstören.

Sie haben die Figuren angesprochen, die in der Götterdämmerung neu hinzukommen – Gunther, Gutrune und Hagen, Alberichs Sohn. Für ihn hat Wagner sich besonders dunkle Farben aufgespart…
…und das Intervall, das in der Musikgeschichte für das Böse schlechthin steht, den Tritonus, den Diabolus in Musica. Die beiden Gibichungen sind sicherlich nicht besonders sympathische Zeitgenossen, aber immerhin haben sie eigentlich keine bösen Absichten und taumeln nahezu unschuldig in die Katastrophe. Hagen dagegen ist nicht einfach nur böse, sondern er versteht es auch, die Menschen in seiner Umgebung zu manipulieren, sie für seine Interessen zu missbrauchen. Das macht ihn so gefährlich. Die grausig-düstere Aura, mit der seine Musik ihn umgibt, macht das sehr deutlich. Aber sie ist auch erfüllt vom Ausdruck tiefer Trauer und trostloser Einsamkeit.

In der Götterdämmerung gibt es zwei grosse Orchesterzwischenspiele, Siegfrieds Rheinfahrt und die Trauermusik
Wenn man diese beiden Zwischenspiele hört, fragt man sich wirklich, warum Wagner nie eine Sinfonie komponiert hat! Er hat die Imaginationskraft, nur durch seine Musik grosse Geschichten zu erzählen. Die Tondichtungen von Richard Strauss wären ohne Wagners Orchesterzwischenspiele nicht denkbar.

Ist Siegfried Ihrer Meinung nach ein Held? Wie zeichnet ihn die Musik?
Siegfried ist eine grösstenteils positive Gestalt, aber ein Held? Ich glaube nicht, dass man ihn so nennen kann. Zum Helden wird einer, wenn er sich für etwas aufopfert, was grösser ist als er selbst. Siegfried tut, genau betrachtet, gar nichts, was über seine persönlichen Interessen hinausgeht. Er ist sich nicht einmal der Macht des Rings bewusst; für ihn ist der Ring nur ein Liebespfand, das er Brünnhilde übergibt. Siegfried hat keine Angst, aber auch kein Bewusstsein für das, was er tut. Es passiert ihm. Er ist zu naiv für die Welt, in die er am Hof der Gibichungen hineingerät, und kann deshalb von Hagen benutzt werden.

Wenn er gar nicht der grosse Held ist, den es zu betrauern gilt – warum klingt dann die Trauermusik stellenweise so heroisch?
Sie klingt heroisch, weil sie eine verlorene Hoffnung betrauert – die Hoffnung, dass Siegfried derjenige sein wird, der die Dinge wieder ins Lot bringt. Das tut er nicht, und er ist für eine solche Aufgabe auch gar nicht geeignet. Aber seine fröhliche Naivität lässt die Hoffnung auf eine Welt aufkommen, in der so ein Vertrauen in das Gute nicht in den Untergang führt. Das ist nicht die Welt, wie sie gegenwärtig ist, und das betrauert diese Musik.

Der letzte grosse Monolog gehört Brünnhilde – sie stürzt sich in die Flammen, und die Rheintöchter erhalten so den Ring zurück.
Brünnhilde übernimmt – im Gegensatz zu Siegfried – Verantwortung. Schon in der Walküre hat sie ihrem Vater Wotan nicht gehorcht, sondern ist ihren eigenen Weg gegangen, ohne Wotans Strafe zu fürchten; nun opfert sie sich selbst, um den Ring zurückzugeben. Damit ist sie es, die das kaputte System zum Einsturz bringt. Und die Musik macht – wie gesagt – Hoffnung darauf, dass Brünnhildes Opfer nicht vergebens sein wird. Wagner hat sich ein Motiv, das gemeinhin Erlösungsmotiv genannt wird und zum ersten Mal in der Walküre erklingt, bis ganz zum Schluss aufgespart; im Siegfried erklingt es nie, und in der Götterdämmerung erst ganz am Schluss. Es taucht zum ersten Mal auf, wenn Sieglinde erfährt, dass sie schwanger ist; das weit ausschwingende, alles überstrahlende Motiv erklingt zu Sieglindes Worten «O hehrstes Wunder», drückt also das Glück der künftigen Mutterschaft aus. Dass es nun, am Schluss der Götterdämmerung, wieder erklingt, während Walhall brennt und der Rhein über die Ufer tritt, weist darauf hin, dass zwar die Götter untergehen, also das System kollabiert – aber etwas Neues kann beginnen: Die Musik spricht von Mutterschaft, mithin von Liebe und neuem Leben. Wie das Neue aussehen wird, erfahren wird nicht, aber in einem Punkt ist der Schluss eindeutig: Das Leben geht weiter, und so lange Leben ist, ist Hoffnung. Der Zusammenbruch der Götterherrschaft ist nicht das Ende.

Das Gespräch führte Beate Breidenbach.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 106, Oktober 2023.
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Hintergrund


Braucht unsere Zeit neue Helden?

Der Kulturwissenschaftler und Philosoph Thomas Macho denkt anhand von Siegfried, der männlichen Hauptfigur in Richard Wagners «Götterdämmerung», über Helden nach – und über die Frage, was die neue Sehnsucht nach Heldenfiguren über den Zustand unserer Zeit erzählt.

Das 20. Jahrhundert hat der Historiker Eric Hobsbawm 1994 als Age of Extremes dargestellt, und diese Bezeichnung gilt wohl auch für die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts. Der Rhythmus von Krisen und Katastrophen hat sich beschleunigt, und gegenwärtig taumeln wir geradezu durch einen Wirbelsturm bedrückender Nachrichten von Kriegen und Massakern und dem politischen Aufstieg rechtsextremer Parteien, vom Klimawandel mit verheerenden Erdbeben, Bränden und Überschwemmungen, ganz abgesehen von der Weltfinanzkrise 2007/08 oder von der Pandemie, die uns in den letzten drei Jahren mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert hat. In dieser Lage erscheint es nicht verwunderlich, dass die Frage nach neuen Helden und Heldinnen verstärkt diskutiert wird. 2019 veröffentlicht die Schriftstellerin Jagoda Marinić eine Studie mit dem Titel Sheroes: Neue Held:innen braucht das Land, und im selben Jahr erscheint das Plädoyer für einen zeitgemässen Heroismus des Philosophen Dieter Thomä. 2020 publiziert der Soziologe Ulrich Bröckling ein Zeitbild über Postheroische Helden, und das erste Heft der Neuen Rundschau im Jahr 2021 widmet sich der Frage: Braucht Demokratie Helden? Bereits 2015 hatte der italienische Philosoph und Aktivist Franco «Bifo» Berardi einen – rasch in mehrere Sprachen übersetzten – Essay über Helden (Heroes) vorgelegt, der sich allerdings überwiegend mit Suizidanschlägen, Amokläufen und Massenmorden befasste.

Neue Aktualität
Wagners Götterdämmerung ist demnach erneut aktuell: Auch die letzte Oper der Tetralogie vom Ring des Nibelungen kreist um die Frage nach dem Helden. Im Vorspiel erinnern die drei Nornen auf dem Walkürenfelsen an Wotan und die Helden Walhalls, an die Fällung der Weltesche und den Bau der Burg für Götter und Helden; begleitet vom Heldenmotiv, aber auch schon vom Leitmotiv der Götterdämmerung singen sie: «Gehau’ner Scheite hohe Schicht ragt zu Hauf rings um die Halle: die Welt-Esche war dies einst! Brennt das Holz heilig brünstig und hell, sengt die Glut sehrend den glänzenden Saal: der ewigen Götter Ende dämmert ewig da auf.» Das Seil der Nornen reisst; sie resignieren: «Zu End’ ewiges Wissen! Der Welt melden Weise nichts mehr: hinab zur Mutter, hinab.» Wenig später treten Brünnhilde und Siegfried aus ihrem Gemach; Siegfried trägt seine Waffen, Brünnhilde führt ihr Pferd Grane. Sie adressiert Siegfried mehrfach als Held, er nennt sie «Wunderfrau», schenkt ihr den Ring aus dem Nibelungenhort und empfängt zum Dank Brünnhildes Pferd. Das Vorspiel endet mit mehreren «Heil»-Rufen, die kaum unbefangen gehört werden können. Der erste Aufzug beginnt danach mit einem Gespräch zwischen Gunther, Hagen und Gutrune. Neuerlich wird über Siegfrieds Heldentum beraten: Hagen preist ihn als «stärksten Held», Gutrune fragt ein wenig skeptisch: «Welche Tat schuf er so tapfer, dass als herrlichster Held er genannt?» Hagen erwähnt sofort die Tötung des Drachen Fafner und betont: «Solch’ ungeheurer Tat enttagte des Helden Ruhm.»

Was ist ein Held?
Ist Siegfried ein Held? Aber wer ist ein Held oder eine Heldin? Mythen und Sagen folgen keiner einheitlichen Definition; doch bestimmte Eigenschaften werden in zahlreichen Kulturen anerkannt. Helden und Heldinnen, so heisst es, sind zumeist Personen mit aussergewöhnlichen Fähigkeiten und Kräften; sie sind stark, furchtlos, listig und klug. Ruhm und Ehre erwerben sie durch ihre Taten, im Krieg, auf der Jagd, im Kampf mit einem Ungeheuer wie dem Drachen Fafner oder bei der Befreiung von gefangenen Jungfrauen wie Brünnhilde. Sie überschreiten die Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis (wie Jason auf der Suche nach dem Goldenen Vlies, oder wie Odysseus auf der Zyklopeninsel), die Grenze zwischen Genialität und Wahn (wie Herakles, der Megara und die mit ihr gezeugten Kinder erschlägt, oder wie der Löwenritter Yvain, der nackt und tobsüchtig im Wald lebt), die Grenze zwischen Leben und Tod (Gilgamesch oder Orpheus), die Grenze zwischen der irdischen Welt, dem Olymp und dem Hades (Prometheus). Helden und Heldinnen sind – wie die Ethnologie beteuert – «Trickster», die alle Arten der Seelen- und Jenseitsreise kennen. Geburt und Abstammung sind häufig traumatisch. Nicht selten entspringen die Helden und Heldinnen einer verbotenen Liebe zwischen Gottheiten und Menschen, oder der inzestuösen Zuneigung eines Zwillingspaars wie Siegmund und Sieglinde; sie werden ausgesetzt (wie Moses, Ödipus, die Zwillinge Romulus und Remus), von Hirten oder wilden Tieren – einer Wölfin, einem Adler, einer Hirschkuh – gerettet und aufgezogen. In ihnen verkörpern sich Weisungen und prophetische Visionen: die erhoffte Rettung vor dem Untergang, die Begründung einer neuen Dynastie oder die Errichtung einer Stadt.
Noch das zeitgenössische Medien-Universum wird von Helden und Heldinnen bevölkert, die als Revenants älterer Traditionen betrachtet werden können. Auch in Comics, Filmen und Computerspielen reüssieren Menschen mit gewaltigen Kräften, kämpfen mit Ungeheuern, drachenartigen Aliens, während sie (wie Superman) auf singuläre Abstammungs- und Geburtsgeschichten zurückblicken; sie müssen die Welt retten, die Grenzen zwischen Kosmos und Chaos, Leben und Tod, überschreiten. Manchmal fusionieren sie mit Göttern (Thor), manchmal mit Tieren: mit Vögeln (Birdman), Fledermäusen (Batman) oder Spinnen (Spiderman). Gelegentlich scheitern sie; doch selbst darin gleichen sie älteren Vorbildern. Gilgamesch gelingt es bekanntlich nicht, seinen treuen Freund und Begleiter Enkidu mit dem Kraut der Unsterblichkeit vor dem Tod zu retten; Jason verliert das Vlies und seine Kinder, Orpheus versagt beim Versuch, Eurydike zurückzugewinnen. Prometheus scheitert gerade als Kulturstifter: Der Begründer menschlicher Opferkulte wird selbst geopfert und an einen kaukasischen Felsen geschmiedet, wo ihm ein Adler die unentwegt nachwachsende Leber wegfrisst. Auch zeitgenössische Helden und Heldinnen teilen gelegentlich das prometheische Schicksal: Superman wird bekanntlich schwach, sobald er auf Kryptonit, Material von seinem Herkunftsplaneten, stösst; Batman resigniert wiederholt – zumindest in Christopher Nolans Filmen – vor den Paradoxien der Selbstjustiz. Die Unverwundbarkeit scheint des Zweifels oder eines Makels zu bedürfen, der sie konfirmiert: der Achillesferse, des Mistelzweigs (bei der spielerischen Beschiessung Balders) oder des Lindenblatts, das während Siegfrieds Bad im Drachenblut zwischen seine Schulterblätter fällt.
Zum Leben legitimer Helden und Heldinnen gehören Niederlagen und Untergänge; sie bilden den unverzichtbaren Schatten des Triumphs. Keine Helden oder Heldinnen ohne Heldentod! Der Sturz, das Scheitern und der Tod beglaubigt den Rang der heroischen Kultur- und Religionsstifter; darin folgte selbst das Christentum einer älteren Traditionslinie, nicht nur um sie fortzuführen, sondern auch um sie neu zu prägen: Der Tod am Kreuz führt zu Auferstehung und Himmelfahrt. Richard Wagner hatte seine Nibelungen-Oper im Revolutionsjahr 1848 als Siegfrieds Tod konzipiert; erst drei Jahre später erhielt die Oper, nun unter dem Titel Götterdämmerung, ihre Vorgeschichte, die zuerst Der junge Siegfried heissen sollte. Erzählt wird darin tatsächlich von einem jungen, starken, furchtlosen Helden, der die typischen Heldentaten – Tötung eines Ungeheuers, Eroberung eines wertvollen Schatzes, Befreiung einer gefangenen Jungfrau – vollbringt; dennoch wirkt das Ende im Feuerring, in der Liebesglut zwischen Siegfried und Brünnhilde, seltsam schal. Sogar ein Publikum, das weder die Kulturgeschichte der Heldenmythen noch die Götterdämmerung kennen würde, müsste eigentlich den schlechten Ausgang ahnen. Der Held wird ihm gezeigt als trotziger Junge, der Brünnhilde halb befreit, halb vergewaltigt. Die heisse erste Liebe im Feuerring beschwört schon das apokalyptische Finale für die Welten der Götter und Menschen: «Leuchtende Liebe, lachender Tod».
Wagner präsentiert Siegfried zunächst als Naturkind, das einen notdürftig gezähmten Bären vor sich hertreibt, um Mime zu erschrecken. Der Bär erinnert an die nordischen «Berserker», an die gefürchteten Krieger, die zumeist in vorderster Schlachtreihe – gehüllt in Bärenfelle, mit ekstatischem Gebrüll – angriffen. Der Bär bezeugt Siegfrieds Nähe zur Natur und seinen Abstand von Ziehvater Mime. Nähe wie Distanz entspringen einer unbeantworteten Frage Siegfrieds: der Frage nach der eigenen Abstammung, nach Vater und Mutter. Das elternlose Naturkind – Wolfskind, Bärenkind, Vogelkind, mit der Gabe, spätestens nach der Tötung Fafners den Gesang der Waldvögel zu verstehen – ist den Geltungsansprüchen der Kultur, den symbolischen Gesetzen der Genealogie und Verwandtschaft, nicht unterworfen. Siegfrieds Eltern Siegmund und Sieglinde, so erfährt der Held, starben bald nach seiner Geburt; obendrein waren sie Zwillinge. Siegfried ist das Kind einer inzestuösen Liebe zwischen Bruder und Schwester. Gerade diese Mitteilung unterstreicht den heroischen Sonderstatus Siegfrieds; sie stellt ihn noch einmal auf die Seite der Natur, denn das oberste Gesetz der Kultur verbietet den Inzest. Auch darum lebt Siegfried im Wald. Denn im Wald leben die Aussenseiter: Leprakranke, Räuber, flüchtige Leibeigene, wilde Männer und Werwölfe, Schweinehirten, Einsiedler, Jäger und Wilderer, Köhler, Schmiede und Waldleute, die nach Honig (für den beliebten Met) und wildem Wachs suchten, gewiss auch Trolle, Nymphen und die Geister der Toten, die zu bestimmten Zeiten die wilde Jagd veranstalten.

Heroismus und Totenkult
Am Samstag, dem 21. November 1874, beendet Wagner die Arbeit an der Partitur der Götterdämmerung; uraufgeführt wird die Oper am Donnerstag, dem 17. August 1876, im Rahmen der ersten Bayreuther Festspiele. Sechs Jahre zuvor tobten im Deutsch-Französischen Krieg drei erbitterte Schlachten um die Stadt Metz, zwei Wochen vor Beginn der Schlacht bei Sedan. In diesem Krieg, der nicht viel länger als ein halbes Jahr dauerte, starben auf beiden Seiten mehr als 180.000 Soldaten; in Relation zu seiner Zeitdauer war der Krieg zwischen Frankreich und Preussen signifikant verlustreicher als der nordamerikanische Bürgerkrieg, der zwischen 1861 und 1865 rund 650.000 Opfer forderte. Die Soldaten, die in den modernen Kriegen starben, waren zumeist adoleszente Männer, junge Helden und Siegfriede, nicht mehr mit Schwertern, sondern mit Gewehren und Kanonen. Die neuen Armeen waren eben keine Söldnerheere mehr: Seit der Entstehung moderner Nationalstaaten entwickelte sich mit einer gewissen Notwendigkeit die Praxis, an Stelle von transnationalen Söldnerheeren und Berufstruppen die eigene Jugend auf die Schlachtfelder zu schicken. Nicht umsonst leitet sich der Terminus «Infanterie» – als Bezeichnung für die Fusssoldaten, die in der modernen Schlachtordnung oft genug als «Kanonenfutter», Opfer eigener wie fremder Artillerie, eingesetzt wurden – von lateinisch «infans» ab: Kind, Junge, Edelknabe. Der Ausdruck «Infanterie» hat sich erst kurz vor Beginn des Dreissigjährigen Krieges (ab 1616), im Zuge der allmählichen Durchsetzung der nassauisch-oranischen Heeresreformen in Europa, verbreitet; noch später hat sich die Subjektivierung «Infanterist» (in Deutschland etwa ab 1801) eingebürgert. Am 17. August 1876 betrat Siegfried nicht bloss als archaischer Held die Bühne des Bayreuther Festspielhauses, sondern auch als moderner Infanterist, der den Tod in Kauf zu nehmen bereit ist. «Leuchtende Liebe, lachender Tod.»
Lachender Tod: Erst wird Siegfried mit einem verkehrten Liebestrank, der nicht die Zuneigung entflammt, sondern das Vergessen, zum Betrug an Brünnhilde verführt; im Hintergrund lenkt der verfluchte Ring das Begehren und die Gier. Im dritten Aufzug der Götterdämmerung tötet Hagen zuletzt den Helden, danach erschlägt er aber auch Gunther, der ihm den Ring verweigert. Die Trauermusik, die den Zug mit der Leiche Siegfrieds begleitet, wird häufig als Trauermarsch bezeichnet; tatsächlich bezeugt sie den Status des Helden, der notwendig scheitern muss. Was im Feuer begann, endet auch im Feuer; Brünnhilde wählt den eigenen Tod in den Flammen: «Starke Scheite schichtet mir dort am Rande des Rheins zu Hauf: hoch und hell lod’re die Glut, die den edlen Leib des hehrsten Helden verzehrt! Sein Ross führet daher, dass mit mir dem Recken es folge: denn des Helden heiligste Ehre zu teilen verlangt mein eigener Leib.» Ein suizidaler Heroismus? 1936 hat der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga seine erstaunlich hellsichtige Studie Im Schatten von morgen publiziert. Huizinga kritisiert in dieser Studie den damaligen Aufschwung des Heroismus; er argumentiert: «Heroen waren Halbgötter: Herakles, Theseus. Noch in der Blütezeit von Hellas übertrug man den Begriff auch auf gewöhnliche Menschen: die Gefallenen für das Vaterland, die Tyrannenmörder. Aber immer waren es Verstorbene. Das Wesen der heroischen Idee war Totenkult.» Gerade weil der Heroismus ursprünglich Totenkult war, muss die «Anpreisung des Heroischen» und die kollektive Sehnsucht nach neuen Helden und Heldinnen mit Misstrauen und Skepsis, als signifikantes Krisensymptom auch in der Gegenwart, wahrgenommen werden. Denn die Propaganda für das Heroische verkehrt den Totenkult in eine Prophezeiung, deren düstere Pointe, faktisch ein Versprechen des Todes, zugleich verleugnet werden muss. In seiner Untersuchung der Massensuizide in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erwähnt Florian Huber, dass nach einem der letzten Konzerte der Berliner Philharmoniker am Donnerstag, dem 12. April 1945, – auf dem Programm standen Beethovens Violinkonzert, Bruckners Romantische Sinfonie und das Finale der Götterdämmerung – beim Ausgang uniformierte Hitlerjungen mit Körben voller Zyankali-Kapseln zur freien Verteilung an das Publikum gewartet haben sollen. Doch schon 1934 hatte die Journalistin Dorothy Thompson, zwei Jahre nach ihrer Reportage von einer Begegnung mit Hitler, eine erschreckende Beobachtung über ein Lager der Hitlerjugend in Murnau mitgeteilt: «Ein riesiges Banner erstreckte sich über den Hügel und beherrschte das Lager. Es war so gross, dass es auch vom entferntesten Punkt aus zu sehen war. Und es war so aufgestellt, dass jedes Kind es viele Male am Tag sehen konnte. Es war weiss mit einem aufgemalten Hakenkreuz, und daneben standen nur sieben Wörter, sieben riesige schwarze Wörter: WIR WURDEN GEBOREN, FÜR DEUTSCHLAND ZU STERBEN!»


Thomas Macho lehrte von 1993 bis 2016 als Professor für Kulturgeschichte am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. 1984 habilitierte er sich mit einer Habilitationsschrift über «Todesmetaphern». Seit 2016 leitet er das Forschungszentrum Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz in Wien. Zu seinen Forschungs- und Publikationsschwerpunkten gehören u.a. Tod und Totenkulte, Religion in der Moderne, Geschichte der Rituale, Ästhetik des Monströsen sowie Science und Fiction.

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 106, Oktober 2023.
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Zwischenspiel, 08.11.23


Loge ist mein Mann

Harald Schmidt ist nicht nur ein legendärer Talkmaster und Entertainer, sondern auch passionierter Orgelspieler und – neuerdings – Wagner-Experte. Am Opernhaus Zürich hat er den neuen «Ring des Nibelungen» gesehen, wir trafen ihn am Morgen nach der «Götterdämmerung»-Premiere zum Gespräch. Zum Podcast


Volker Hagedorn trifft...


Klaus Florian Vogt

Klaus Florian Vogt gibt in Zürich sein Rollendebüt als Siegfried in Wagners «Götterdämmerung». Der weltweit gefeierte Tenor stand im letzten Sommer bei den Bayreuther Festspielen als Siegmund in «Die Walküre» und in der Titelpartie des «Tannhäuser» auf der Bühne. Am Opernhaus Zürich war er in der vergangenen Spielzeit bereits in der Titelpartie des «Siegfried» zu erleben.

In Norddeutschland, wo er herkommt, würde man sagen, er hat die Ruhe weg. Das ist vielleicht sogar eine Grundvoraussetzung für diese Art von Berufsleben. Da kommt in Zürich kurz vor der Bühnenprobe für die Götterdämmerung, erster Aufzug, dritte Szene, die Anfrage aus Paris, ob er da als Lohengrin einspringen kann am nächsten Tag. Kurzer Austausch mit dem Intendanten in der Cafeteria, ob das gehen könnte. Klaus Florian Vogt ist völlig gelassen. Während man in der Pariser Oper wahrscheinlich nervös auf den Nägeln kaut, wirkt das Thema bei ihm, als müsse nur geklärt werden, ob ein Stuhl links oder rechts steht. Sie lassen das erstmal offen und kümmern sich in der Probe um Komplizierteres, nämlich wie Siegfried als Unsichtbarer seiner Brünnhilde – von der er vergessen hat, dass sie seine Braut ist – glaubwürdig den Ring entreissen kann. Immer mit Klavier und Gesang, denn die Bewegungen müssen ja der Musik folgen, und mit endlos viel Geduld.

Ehe es um die Emotionen gehen kann, in dieser Szene so vielschichtig wie selten, muss die Choreografie gebastelt werden, und in diesem Modus klingt es noch wie eine freundliche Ansage, wenn Vogt, sanfter Hüne in Jeans und mit dem Tarnnetz auf dem blonden Haar, an Gunthers Stelle singt: «In deinem Gemach musst du dich mir vermählen!» Da hört man aber schon die Klarheit in dieser Stimme, aus der er so unendlich viele Farben holen kann. Dass die Emotionen auch in einer Probe so hochkochen können wie sonst nur in den besten Momenten einer Aufführung, dazu kommen wir später, im Foyer, wo Klaus Florian Vogt mir erstmal von seinem Weg zum Siegfried erzählt, der sich bei unserem letzten Treffen vor neun Jahren durchaus schon abzeichnete. Da sang er gerade den Lohengrin in Bayreuth und sagte auf die Frage, was denn an den Partien des Siegfried und des Tristan so grossen Respekt auslöse: «Das weiss ich auch nicht. Darauf bin ich sehr gespannt.» Er lacht schallend, als ich ihn daran erinnere. «Jetzt ist es soweit mit dem Herausfinden», meint er und ergänzt: «Man sollte vor jeder Rolle Respekt haben.» Vielleicht ist er ein bisschen ernster geworden, ansonsten eher reifer als älter, so durchtrainiert, wie er da sitzt. Aber wenn er lacht, bricht es jählings hell und übermütig aus ihm heraus.

Seinen ersten Tristan singt er nächstes Jahr an der Semperoper, in Bayreuth auch beide Siegfrieds, den im Siegfried und den in der Götterdämmerung, für die er dann schon seine Erfahrungen aus Zürich mitbringt. Das schwere Heldenfach? «Das wird so genannt, ja. Ich seh’ das nicht so, ich singe ja den Siegfried technisch nicht anders als den Lohengrin, lauter oder so. Ich gehe von der Figur aus, von der Orchesterfarbe, von der jeweiligen Situation, und von da kommt der Stimmausdruck.» Aber es seien nun mal grosse und lange Partien, «und wenn man noch nicht so erfahren ist und die Stimme technisch noch nicht so gereift, lässt man sich von so einem dicken Orchesterklang hinreissen, dagegen anzugehen, und das ist eine grosse Gefahr. Dass man überzieht, forciert. Dadurch wird man müde, und das ist nicht so erstrebenswert.» Er lacht wieder. «Mit mehr Erfahrung spürt man besser, wie weit man gehen kann. Beim Siegfried war es so, dass es irgendwann keine Passage mehr gab, wo ich mir hätte Sorgen machen müssen, oh, das ist ja so hoch oder so lang oder so laut… Darauf habe ich gewartet.» Dazu komme so etwas wie beim Krafttraining. «Wenn man mehr Muskeln will, muss man neue Reize setzen, zum Beispiel die Gewichte erhöhen oder die Frequenz. Das ist auch mit der Muskulatur so, die die Stimme hält.»

Abgesehen davon sei Wagner ja keineswegs nur laut. «Klar gibt’s laute Stellen! Ein richtig fettes Orchester-Fortissimo, das liebe ich!» Da jubelt noch der Hornist im Sänger mit, der im Graben der Hamburgischen Staatsoper früher selbst solche Fortissimi blies. «Aber es ist viel schöner, wenn es ganz grosse Gegensätze gibt. Wagner schreibt sehr oft piano, und gerade bei Parlando-Stellen macht er das Orchester wirklich leise, wie bei dem verträumten Waldweben im Siegfried, nur so eine Fläche unter der Stimme, das darf auch was Zartes haben. Ich sehe uns in solchen Momenten ein bisschen wie als Märchenerzähler. Ja, wir erzählen eigentlich ein Märchen, und wenn ich was erzähle, möchte ich, dass mein Gegenüber das versteht. Bei Wagner sind Text und Musik wirklich ineinander verwoben und gleichberechtigt zu singen. Wenn man seine Melodieführung und die Pausen genau befolgt, merkt man, dass der ganze Text sehr organisch ist. Es gibt wenige Stellen, wo man Gefahr läuft, sich die Zunge zu brechen. Für mich ist das alles wunderbar singbar.»

Aber einfaches Märchendeutsch ist es ja nicht gerade. «Es ist im Ring schon deswegen schwer zu verstehen, weil die Geschichte so kompliziert ist! Es ist wichtig, diesen Text für sich selbst, aber auch für das Publikum zu entflechten, sonst versteht man ja gar nichts mehr. Das ist ein Grossteil der szenischen Arbeit, dass wir uns untereinander klar machen: Was sagt der eigentlich? Das ist mit Andreas Homoki als Regisseur so, dass man es am Ende versteht. Ich bin unheimlich froh, diese beiden Siegfrieds mit ihm zu machen, weil er sehr nah am Stück bleibt, weil man die Grundlinien dieses Charakters versteht und sein Verhältnis zu den anderen. Wenn man gleich beim Rollendebüt etwas Verdrehtes machen muss, kriegt man diesen Zugriff nie. So habe ich für die beiden Partien ein tolles Gerüst, in dem ich die mit der Zeit auch erweitern kann.»

Wie unterscheiden sich denn die beiden Siegfrieds? Immerhin hat Richard Wagner den Siegfried nach dem zweiten Aufzug 1857 erstmal liegen lassen, Tristan eingeschoben und ab 1869 dann den Ring fertig komponiert. Manche finden, der Held sei in der Götterdämmerung ganz anders geworden, es seien sogar zwei so verschiedene Partien, dass der Sänger sich umstellen müsse. Das findet Vogt nicht, anders als sein Kollege Stephen Gould, der jetzt so früh gestorben ist. «Das hat mir Stephen auch erzählt. Natürlich ist von der Anlage der frühere Siegfried anders, viel mehr spielerische Elemente, und beim späteren geht es in der Harmonik viel weiter. Aber ich glaube nicht, dass man den anders singen muss. Es wird immer gesagt, das ist der erwachsene Siegfried. Quatsch, der hat genau dieselbe Frische und Direktheit. Man könnte sich sogar vorstellen, dass zwischen dem Ende des Siegfried und dem Beginn der Götterdämmerung nur eine Nacht mit Brünnhilde liegt. Wovon soll der denn reifer und erfahrener geworden sein? Dagegen spricht auch, dass er auf die ganzen Betrügereien reinfällt. Der glaubt gar nicht, dass es böse Menschen gibt.»

So prägt auch das Konzept einer Rolle den Umgang mit der Stimme, die Farben, die er findet. Wie ist das bei der Partie, die ihm vor 20 Jahren den internationalen Durchbruch bescherte, dem Lohengrin? Gibt es verschiedene Lohengrins in ihm? «Ganz viele! Und die werden oft vermischt», sagt er. «Ich habe da inzwischen eine Schatzkiste von Ausdrucksmöglichkeiten. Da kommen auch immer noch neue dazu.» Und wenn mit Tristan die Heldenwelt komplett ist, wird ihm nicht die Aussicht auf noch zu erobernde Gipfel fehlen? «Das ist nicht, was mich antreibt, sondern da eine Tiefe zu entdecken. Jeder Abend, den man mit den Wagnerpartien durchlebt, ist ja schon selbst das Erklimmen eines Gipfels.» Es gibt aber noch etwas, das Klaus Florian Vogt antreibt. «Adrenalin ist die vielleicht einzige Droge, die ich brauche. Das brauchen Sportler ja auch, um eine Höchstleistung zu bringen.» Und das gebe es nicht nur mit Publikum, sondern auch in den Proben. «Man muss in Proben ja erforschen, wo kann ich hingehen, emotional. Da passiert es schon, dass es mit einem durchgeht…» Ein bisschen zusätzliches Adrenalin hat er sich für den nächsten Tag auch schon gesichert. Nach der Vormittagsprobe, auf der besteht Regisseur Andreas Homoki, wird er nach Paris fliegen und abends den Lohengrin singen. Wer dirigiert denn? «Weiss ich nicht!» Er lacht. «Wird schon jemand da sein!».

Das Gespräch führte Volker Hagedorn.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 106, Oktober 2023.
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Auf dem Pult


Götterdämmerung

Michael Salm, stellvertretender Stimmführer der 2. Geigen, über das Erlösungsmotiv in Richard Wagners Oper.

Wagners Götterdämmerung habe ich bereits 33 Mal gespielt, über die Hälfte davon in Bayreuth. Es ist ein Glück, dass ich das so oft erleben durfte und mir allmählich ein gesamthaftes Hören aneignen konnte: zu realisieren, was die anderen Stimmen machen, zu beobachten, wie raffiniert Text und Musik ineinandergehen. Das ist ein grosser Genuss. Dass ich mich inzwischen von meiner eigenen Stimme lösen kann, hilft mir auch, dieses riesige Stück ohne Ermüdungserscheinungen zu überstehen. Aus diesem Werk eine Lieblingsstelle auszusuchen, ist unmöglich. Ich liebe die Waltraute-Szene im 1. Akt, die viele als Verzögerung des dramatischen Flusses sehen, die aber sehr bemerkenswert ist, nimmt sie doch das Ende der Oper bereits vorweg: Waltraute klagt, dass Wotan Scheite aus der Weltesche schichten liess, um Walhall und die Götter in Flammen aufgehen zu lassen. Es ist eine harmonisch sehr interessante Stelle, sanft und reflektierend. Man könnte auch über den Trauermarsch als grosses instrumentales Highlight reden. Hier sind die 2. Geigen zusammen mit den Bratschen besonders wichtig, da sie dem Trauer­marsch etwas Zwingendes, Unerbittliches verleihen. Das Nonplusultra ist für mich jedoch Brünnhildes Schlussgesang, und dort besonders der Moment, wenn die 2. Geigen zusammen mit der 1. Oboe das Erlösungsmotiv spielen und eine riesige musikalische Steigerung einläuten. Dieses Motiv wiederholt sich mehrfach in aufsteigenden Schritten; die 2. Geigen wechseln sich dabei mit den 1. Geigen ab. Das Motiv wird immer kurzatmiger, bis es sich ins Walkürenmotiv entlädt. Es ist die Zündung, wo Brünnhilde ihrem Pferd die Sporen gibt und ins Feuer springt. Brünnhilde hat den Ring mit sich genommen – die Welt ist vom Fluch erlöst. Das Erlösungsmotiv erklingt erneut 7 Takte vor Ende orchestral im Piano, läuft langsam aus und endet in Des-Dur. Wer den Ring gut kennt, weiss: Das Erlösungsmotiv ist bereits einmal in der Walküre aufgeblitzt, wenn Sieglinde erkennt, dass sie mit Siegfried schwanger ist: «O hehrstes Wunder.»

Michael Salm

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Fragebogen


Sarah Ferede

Sarah Ferede singt in der «Götterdämmerung» die Waltraute. Sie ist seit 2012 Ensemblemitglied an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf. Am Opernhaus Zürich ist sie zum ersten Mal zu erleben.

Aus welcher Welt kommst du gerade?
Wir Sänger:innen sind immer Wanderer zwischen den Welten. Gerade habe ich die Kundry im Parsifal verkörpert – mal ist sie Dienerin in der Gralswelt, mal verführt sie die Männer in Klingsors Zauberreich. Es war ein Geschenk, diese Partie mit Axel Kober und Michael Thalheimer erarbeiten zu dürfen. Aber es gibt ja noch die reale Welt, die mir Sorgen macht: Ich habe einen Migrationshintergrund, da mein Vater aus Äthiopien stammt, und erlebe in Deutschland gerade eine Gesellschaft, die sich immer mehr nach rechts entwickelt; viele Menschen schenken Fakten keinen Glauben mehr und meinen, aus Protest rechte Parteien wählen zu müssen… Ich hoffe, dass es uns Bühnenkünstler:innen gelingt, positive Gefühle zu vermitteln – in Parsifal ist es das Mitleid – und so die Welt ein bisschen besser zu machen.

Worauf freust du dich in der Götterdämmerung-Produktion?
Es ist eine Freude, mit Künstler:innen wie Gianandrea Noseda, Andreas Homoki oder Camilla Nylund auf den Proben so tief in Wagners Gedankenwelt einzudringen. Und es ist herrlich, durch die inspirierende Atmosphäre hier als Künstlerin weiter wachsen zu können!

Welches Bildungserlebnis hat dich besonders geprägt?
Die legendäre Tristan-Inszenierung von Ruth Berghaus, die ich als 17-Jährige in Hamburg erleben durfte. Im zweiten Akt war die Spannung so gross, dass ich mich kaum getraut habe zu atmen… Es war mein erster Wagner und hat in mir den grossen Wunsch ausgelöst, einmal selbst Teil einer solchen Aufführung zu sein. Der Wunsch hat sich erfüllt: Ich durfte die Brangäne mittlerweile in einer Neuinszenierung erarbeiten.

Welches Buch würdest du niemals aus der Hand geben?
Jane Austens Pride and Prejudice! Ich bin eine hoffnungslose Romantikerin.

Welche CD hörst du immer wieder?
Als ich 16 war, schenkte mir meine Mutter Best of Jessye Norman. Ich habe die CD rauf- und runtergehört und mir daraufhin vorgenommen, alle Arien und Lieder auf dieser CD zu singen. Als ich meinen ersten Gesangsunterricht hatte, musste ich feststellen, dass ich noch nicht den gleichen Stimmumfang wie Jessye Norman hatte; also habe ich mich erst mal auf die Mezzo-Arien und einige Gospels konzentriert. Nach und nach kamen immer mehr Arien dazu: Bis heute habe ich immerhin die Hälfte der Arien geschafft!

Welches Projekt, das dir viel bedeutet, bereitest du gerade vor?
Im Februar werde ich in Düsseldorf als strenge Novizenmeisterin Mère Marie in Dialogues des Carmélites debütieren. Ich habe das Stück in Hamburg schon als Jugendliche mehrfach, damals mit Anja Silja in dieser Rolle, gesehen und gehört und bin froh, diese Traumpartie jetzt meinem Repertoire hinzufügen zu können.

Wie wird die Welt in 100 Jahren aussehen?
Ich hoffe sehr, dass die Menschheit bis dahin gelernt hat, politische und religiöse Konflikte ohne Krieg und Terror zu lösen. Und hoffentlich werden Kunst und Live-Performances weiter ihre wichtigste Aufgabe erfüllen: Nämlich Menschen zu rühren und zu berühren! Als unverbesserliche Optimistin glaube ich also an eine zukünftige Welt, die renaturiert und gewaltarm ist und nach wie vor viele grosse Künstler:innen beherbergt!
 

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 106, Oktober 2023.
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Audio-Einführung zu «Götterdämmerung»



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Schlafen Sie dort, wo Richard Wagner ein und aus ging...

Wandeln Sie auf Wagners Spuren und kombinieren Sie Ihr Opernticket mit einer Übernachtung im geschichtsträchtigen Hotel Baur au Lac! Hier las Richard Wagner die Ring-Dichtung erstmals öffentlich und sang sogar Teile davon – mit niemand geringerem als Franz Liszt am Klavier! Bitte beachten Sie, dass das exklusive Arrangement nur in Verbindung mit dem Spezial-Code «Wagner 2023» gebucht werden kann.

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Götterdämmerung

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