Don Carlo
Oper von Giuseppe Verdi (1813-1901)
Französisches Original-Libretto von Joseph Méry und Camille du Locle
nach dem Drama von Friedrich Schiller
In italienischer Sprache mit deutscher und englischer Übertitelung. Dauer 3 Std. 30 Min. inkl. Pause nach dem 2. Akt nach ca. 1 Std. 45 Min.
Gut zu wissen
Die geniale Stelle
Zeitgenossen und Nachwelt sind in der Beurteilung eines Künstlers selten einig. Mancher Liebling seiner Epoche verstaubt in den Archiven und manch einer, dessen Name zu Lebzeiten kaum genannt wurde, ist den Späteren ein Stern erster Grösse. Auch an Friedrich Schiller scheiden sich die Geister. Weite Teile seines lyrischen Werks sind heute verblasst, sein Lied von der Glocke zum Beispiel, gut hundert Jahre lang Gegenstand hellen Entzückens des gebildeten Bürgertums, gilt nunmehr als Gipfelwerk des unfreiwilligen Humors (schon Caroline von Schlegel fiel bei der Verlesung des Gedichts vor Lachen vom Stuhl). Keinen Streit gibt es allerdings über den Dramatiker Schiller, der nach wie vor einhellig als Autor unverwüstlich bühnenwirksamer Stücke bewundert wird. Wie genau Schiller um theatralische Wirkungen und Möglichkeiten des Theaters wusste, zeigt sich oft in kleinen Details, die man leicht übersehen kann. Eine dieser unauffälligen Meisterleistungen findet sich im vierten Akt seines Don Karlos: Die Prinzessin von Eboli enthüllt Elisabeth, dass sie es war, die dem König die Liebesbriefe übergab, die Karlos an Elisabeth geschrieben hatte, und gesteht schliesslich auch, dass sie ein Verhältnis mit dem König hatte. Die Szene ist als ein grosser Steigerungsbogen fiebrig-unruhiger Verse angelegt, der mit einer trockenen Regieanweisung abgebrochen wird: «Die Königin geht ab.» Schiller widersteht der Versuchung, einen pathetischen Monolog folgen zu lassen oder zumindest eine stumme Szene vorzuschreiben, die zeigt, was in der Königin vorgeht. Er versteht zu viel vom Theater, um nicht zu wissen, dass niemand spielen kann, was hier geschieht. Und er weiss, dass der Bruch der Konvention ein sehr viel stärkeres Mittel ist, das Ungeheuerliche des Vorgangs deutlich zu machen: Was hier geschieht, ist so entsetzlich, sprengt so sehr das Vorstellungsvermögen, dass das Theater kapituliert, dass nichts mehr möglich ist als der stumme Abgang der Darstellerin.
Diese Passage stellte Verdi bei seiner Adaption des Schillerschen Dramas vor eine schier unlösbare Aufgabe. Denn was im Schauspiel möglich und von starker Wirkung ist: die Königin kommentarlos abgehen zu lassen, verbietet sich in der Oper, in der jeder Vorgang szenisch-musikalisch gestaltet werden muss. Aber auch Verdi konnte der Darstellerin nicht zumuten, das Unspielbare zu spielen. Er musste einen ganz anderen Weg gehen: Das Orchester spielt im dröhnenden Fortissimo ein Motiv, das aus einer chromatisch abstürzenden Achtelbewegung und einem unmittelbar folgenden halb so schnellen Aufstieg zum Ausgangspunkt besteht. Während dieses Motiv sechsmal, stetig leiser werdend, wiederholt wird, rezitiert die Königin mit fahler Stimme auf einem Ton die Worte, mit denen sie die Prinzessin ins Exil schickt. Auch Verdi unterläuft also die Erwartung des Publikums, das hier mit einer Arie der Elisabeth rechnet oder zumindest mit einem ausladenden Orchesterzwischenspiel, das den Sturm im Innern der Figur ausmalt. Stattdessen überträgt er dem Orchester, die Geste zu evozieren, die auf der Bühne nicht gezeigt werden kann: In fast grafischer Reduktion schildert das Motiv, wie der Köper der gedemütigten und aller Hoffnungen beraubten Frau zusammenbricht und sich mühsam wieder aufrichtet. Indem der Komponist den Vorgang, der auf der Bühne nicht zeigbar ist, dem inneren Auge des Hörers überantwortet, findet er eine ganz und gar opernspezifische Übertragung des Schillerschen Theatercoups, und erweist sich damit einmal mehr als einer der grössten Theatermänner seines Jahrhunderts.
Text von Werner Hintze.
Dieser Artikel ist erschienen im MAG 43, November 2016.
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Don Carlo
Synopsis
Don Carlo
Erster Akt
Im Kreuzgang des Klosters von St. Just beten Mönche am Grabmahl Karls V., der sich kurz vor seinem Tod – in der Erkenntnis der Nichtigkeit alles Irdischen – als Mönch hierher zurückgezogen und die Macht über das von ihm geschaffene Weltreich seinem Sohn Philipp II. übergeben hatte. Carlos versucht, beim Grab seines Grossvaters über die verbotene Liebe zu Elisabeth, die als Königin jetzt seine Stiefmutter ist, hinweg zu kommen. In einem der Mönche glaubt er Karl V. zu erkennen. – Carlos berichtet seinem Jugendfreund Rodrigo, Marquis von Posa, von seinem Liebesschmerz. Posa, der eben aus Flandern zurückgekehrt ist, schlägt ihm vor, sich einer grossen Aufgabe zu stellen, um seinen Kummer zu überwinden: Er soll die spanische Provinz Flandern retten. Dort lässt Philipp eine Rebellion, die mit der Hinwendung zum protestantischen Glauben ein hergeht, blutig niederschlagen. Carlos geht darauf ein; die beiden schwören sich ewige Freundschaft und Treue bis in den Tod. Als Philipp und Elisabeth aus dem Kloster treten, mahnt Rodrigo den Infanten nochmals, sein Leben in den Dienst der Freiheit zu stellen.
In der Nähe warten Prinzessin Eboli und die Hofdamen auf die Königin, die als einzige das Kloster betreten durfte. Um sich die Zeit zu vertreiben, singt Eboli das beziehungsreiche Lied vom Schleier, der zur Liebe entflammt, jedoch die Wahrheit verhüllt. Nachdem die Königin gekommen ist, wird Marquis von Posa gemeldet. Er übergibt Elisabeth einen Brief von ihrer Mutter aus Frankreich und bittet sie darum, den Infanten zu empfangen. Als Posa Carlos’ Niedergeschlagenheit schildert, bezieht Eboli das auf sich; sie glaubt sich von ihm geliebt. Die Königin willigt ein, ihren Sohn zu treffen. Alle entfernen sich.
Carlos bittet Elisabeth, sich beim König dafür einzusetzen, dass er als Regent nach Flandern entsandt wird. Zugleich entfacht die Begegnung mit ihr erneut seine Liebe zu ihr. Nur mit Mühe bewahrt Elisabeth die Fassung und erinnert ihn daran, dass sie die Frau seines Vaters ist. Er stürzt davon. – Philipp findet Elisabeth allein vor, was den von ihm dekretierten Regeln bei Hofe widerspricht. Er befielt der Gräfin von Aremberg, die als Hofdame in der Nähe der Königin hätte bleiben müssen, die Rückkehr nach Frankreich. Elisabeth verabschiedet sich tief bewegt von ihrer Jugendfreundin und gibt ihr mit auf den Weg, sie möge die ihr angetane Beleidigung in der Heimat verschweigen.
Der König bleibt mit Posa zurück, den er in ein Gespräch verwickelt. Dieser nutzt die unverhoffte Gelegenheit, um die schlimme Lage in Flandern zu schildern. Er fordert von Philipp, den Flamen Freiheit zu schenken, anstatt Tod und Elend zu säen. Der König ist beeindruckt von der mutigen Offenheit Rodrigos, lehnt dessen politische Haltung jedoch ab. Er macht ihn zu seinem Vertrauten und berichtet ihm von seinem Verdacht, Elisabeth betrüge ihn mit seinem Sohn Carlos. Posa soll die beiden überwachen. Zugleich warnt Philipp Rodrigo vor der Inquisition.
Zweiter Akt
Bei einem nächtlichen Gartenfest trifft Carlos auf Eboli, die mit der Königin Kostüm und Maske getauscht hat. Er hält sie für Elisabeth und macht ihr eine glühende Liebeserklärung. Zu spät bemerkt er seinen Irrtum; Eboli errät seine Leidenschaft für die Königin. Zutiefst verletzt, schwört sie Rache. Rodrigo, der hinzukommt, erkennt die Gefahr. Er fordert Carlos auf, ihm alle belastenden Papiere auszuhändigen, die er bei sich trägt. Carlos gibt sich in die Hände des Freundes, obwohl er weiss, dass dieser inzwischen der Vertraute des Königs ist.
Auf dem Platz vor der Kathedrale ist das Volk zusammengekommen, um der öffentlichen Verbrennung von Ketzern beizuwohnen. Auch der König und die Königin nehmen am Autodafé teil. Plötzlich erscheint Carlos mit einer Gruppe von Deputierten aus Flandern. Er fordert von Philipp, ihm die Regentschaft über die abtrünnige Provinz zu übertragen. Als dieser schroff ablehnt, zieht Carlos den Degen. Keiner der Granden oder Wachen wagt, ihn anzugreifen; da nimmt Posa ihm die Waffe ab. Daraufhin ernennt der König den Marquis zum Herzog. Ausser den bereits Verurteilten werden nun auch die flandrischen Deputierten zum Scheiterhaufen geführt. Eine Stimme vom Himmel verheisst ihnen Frieden bei Gott.
Dritter Akt
Nach schlafloser Nacht sinnt der König in seinem Kabinett über seine Einsamkeit nach; er leidet darunter, von Elisabeth nicht geliebt zu werden. In einer Unterredung mit dem Grossinquisitor, den Philipp rufen liess, versichert der König sich des Segens der Kirche, sollte er seinen rebellischen Sohn hinrichten lassen. Der Grossinquisitor fordert seinerseits den Tod Posas, den er als Aufrührer und Ketzer anklagt. Das Aufbegehren des Königs dagegen quittiert er mit der Drohung, ihn selbst vor das Inquisitionstribunal zu zitieren. Philipp muss sich beugen.
Elisabeth beklagt sich beim König, man habe ihre Schmuckschatulle gestohlen. Eboli hatte sie dem König zugespielt, der sie nun gewaltsam öffnet. Das Kästchen enthält ein Portrait des Infanten. Als Philipp daraufhin Elisabeth als Ehebrecherin beschimpft und sie umzubringen droht, wird sie ohnmächtig. Rodrigo und Eboli eilen zu Hilfe. Während Posa dem König seine Unbeherrschtheit vorwirft, bereut Eboli ihre Intrige; Elisabeth hofft nur noch auf das Jenseits. Allein mit der Königin, gesteht Prinzessin Eboli ihr, sie aus Liebe zu Carlos beim König denunziert zu haben. Als sie obendrein enthüllt, die Geliebte des Königs zu sein, fordert Elisabeth sie auf, zwischen der Verbannung und dem Kloster zu wählen. Eboli verflucht ihre Schönheit und beschliesst, Carlos zu retten.
Rodrigo sucht Carlos im Gefängnis auf, um sich von ihm zu verabschieden. Er hat den Verdacht, in den Aufstand der Flamen verwickelt zu sein, mit Hilfe der belastenden Papiere von Carlos auf sich selbst gelenkt. Eindringlich fordert er Carlos auf, an seiner Stelle den Freiheitskampf Flanderns fortzuführen. Da wird er von den Schergen der Inquisition hinterrücks erschossen. Sterbend teilt er Carlos mit, Elisabeth erwarte ihn tags darauf in St. Just. – Der König kommt, um Carlos seinen Degen wieder auszuhändigen. Doch dieser belastet sich selbst, indem er dem zutiefst betroffenen Vater enthüllt, Posa habe sich für ihn geopfert. Das Volk hat sich erhoben, um den Infanten aus seiner Haft zu befreien. Zum Entsetzen der Granden befiehlt der König, die Pforten zu öffnen. Im entstehenden Durcheinander mahnt Eboli Carlos, zu fliehen. Als der Grossinquisitor erscheint, bricht der Aufstand zusammen; das Volk wirft sich nieder vor Krone und Kirche.
Vierter Akt
Im Kloster St. Just betet Elisabeth am Grabmal Karls V.; sie wünscht sich nur noch den Tod. Sie verabschiedet sich von Carlos, der nun entschlossen ist, seiner Liebe zu ihr zu entsagen und im Gedenken an Rodrigo die Freiheit Flanderns zu erkämpfen. Als sich die beiden das letzte Lebewohl sagen, werden sie von Philipp und dem Grossinquisitor überrascht; ihrer beider Hinrichtung scheint unausweichlich. Da entzieht der geheimnisvolle Mönch mit der Stimme Karls V. Carlos der irdischen Gerichtsbarkeit.