#ANGELS
Drei Choreografien mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen
Choreografie Mirjam Barakar, Bettina Holzhausen, Sonia Rocha
Musik Philipp Schaufelberger
Kostüme Natalie Péclard
Lichtdesign Isabelle Battocletti
Assistenz Jana Dünner, Linda Heller, Gabriel Mareque
Tänzer:innen
Sekundarschule Thalwil Lucien Bailer, Elias Brüngger, Lorena Dupont, Jil Iodice, Amy Kjaer, Ellen Mahrat, Andriana Milosavljevic, Giulia Nanninga, Ricardo Peñas Fernandez, Julien Popa, Saskia Scharl, Gracia Zaya Sckell, Kilian Tanner, Laura Wettstein
Lehrperson Fabio Zortea
Integrationsschüler:innen Fachschule Viventa Zürich Sandy Abdallah, Murhaf Al Ramadan, Sara Awet Milaw, Amran Bashir Yusuf, Joshua Calvario Quiroz, Loretxy Yuliany Castellanos Moreno, Sara Cristinie De Mello Cieslik, Bilel Dziri, Scheima Dziri, Sohrab Haidari, Huseyn El Husseini, Esrom Huruy, Mohamad Ameer Nakrash, Mehrab Rahmati, Artemis Taukidou
Lehrpersonen Claudius Fiedler, Kathrin Lutterbeck, Brigitte Skirgaila
Gruppe Jugendliche und junge Erwachsene Rahel Caluori, Jessica Grisolia, Sven Haller, Samuel Henzi, Al Morelos, Anita Ni, Radenka Nikolova, Marie Louise Schubert, Aline Steiner, Melina Wertnik
Seit Anfang Mai proben drei unterschiedliche Gruppen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen für das Tanzprojekt #Angels mit drei unterschiedlichen Choreografinnen. Anfang Juli werden die drei Stücke dann auf der Studiobühne zusammengefügt und vier Mal vor Publikum aufgeführt. Ausgangspunkt und Inspiration des Projekts ist Crystal Pites Ballett Angels’ Atlas. Im laufenden Probenprozess beschäftigen sich die Künstlerinnen und jungen Menschen mit der Flüchtigkeit, Einzigartigkeit und Verwundbarkeit des Lebens. Es geht um Fragen wie: Was ist eigentlich wirklich wichtig für mich? Glaubst du an Engel? Wie bewege ich mich sicher durch diese verrückte, unberechenbare Welt? Antworten werden mit dem eigenen Körper gesucht, aus der Gruppe heraus entwickelt und durch die Choreografinnen Mirjam Barakar, Bettina Holzhausen und Sonia Rocha sorgfältig angeleitet und zu einem Stück verarbeitet. Der Schweizer Gitarrist und Komponist Philipp Schaufelberger entwickelt die passende Musik zur choreografischen Arbeit der drei Gruppen.
Gut zu wissen
Kathrin Lutterbeck, ich war gerade bei einer Choreografie-Probe des Projekts #Angels und muss sagen, dass ich selten eine so konzentrierte Schulklasse erlebt habe. Sind deine Schüler:innen immer so diszipliniert?
Die Jugendlichen, die an diesem Projekt teilnehmen, kommen aus drei verschiedenen Integrationsklassen und sind alle freiwillig dabei. Wir zwingen niemanden. Im Vergleich zu einer regulären Schulklasse ist die Altersspanne ausserdem viel breiter: Viele sind nicht mehr in der Pubertät – oder haben nie eine gehabt. Anders als bei einer Klasse, die aus lauter Teenagern besteht, übernehmen deshalb die Älteren die Verantwortung und bringen eine andere Dynamik in die Gruppe. Disziplinarisch haben wir in unserer Schule aber auch sonst kaum Probleme.
Du bist die Lehrerin einer dieser Klassen. Auf welcher Schulstufe unterrichtest du?
Wir bieten ein 10. Schuljahr an, ein sogenanntes Berufsvorbereitungsjahr. Die Jugendlichen in unseren drei Klassen sind aber alle erst seit kurzem in der Schweiz. Davor sind sie in einem anderen Land zur Schule gegangen, einige von ihnen haben noch nie eine Schule besucht. In der Regel können sie nicht gut genug Deutsch, um sich auf eine Lehrstelle zu bewerben. Unser Ziel ist es, die Schüler:innen soweit vorzubereiten, dass sie sich in einem Jahr bei einem Lehrbetrieb vorstellen können. Das Choreografie-Projekt des Opernhauses, an dem wir bereits in der Vergangenheit mit mehreren Klassen teilgenommen haben, ist für die Schüler:innen ein grosser Gewinn, auch deshalb, weil sie in diesem Zwischenjahr lernen sollen, sich ausserhalb der Schule selbständig in Zürich zu organisieren.
Warum sind die Jugendlichen in deiner Klasse nach Zürich gekommen?
Sie sind aus ganz unterschiedlichen Gründen hier: Die einen haben seit Geburt einen Schweizer Pass, sind aber beispielsweise in Südamerika aufgewachsen und durch einen Umzug der Eltern neu in die Schweiz gekommen, wo sie nun in kurzer Zeit in unsere Sprache und Kultur hineinfinden müssen. Andere, die beispielsweise aus Syrien, Afghanistan, Eritrea oder Somalia kommen, haben eine Flucht und oft ein schreckliches Schicksal hinter sich. Die einen sind also mit dem Flugzeug direkt in die Schweiz gekommen, die anderen haben teilweise eine mehrjährige Reise hinter sich mit Erfahrungen im Gefängnis, im Flüchtlingsboot und all jenen Dingen, von denen man in den Zeitungen liest. Man kann diese Schicksale weder kurz zusammenfassen noch vergleichen. Entsprechend unterschiedlich leben die Jugendlichen hier auch: Einige wohnen bei der Familie, andere wissen gar nicht, wo ihre Familie ist oder ob es sie noch gibt.
Was bringst du persönlich für die Arbeit mit einer solchen Klasse mit?
Ich bin gelernte Primarlehrerin und habe mich schon sehr früh für die Integration engagiert. Mit 30 Jahren bin ich an die Fachschule Viventa gekommen und hatte damals das Gefühl, bereits meine Lebensstelle gefunden zu haben. Die Arbeit mit den Jugendlichen ist das, was ich am liebsten mache. Besonders fasziniert mich an der Integrationsarbeit die Vielseitigkeit. Mit Schubladendenken kommt man hier nicht weit. Jedes Schicksal ist einzigartig, und alles kommt immer anders als man denkt...
Wie würdest du die Aufgabe der Integration definieren?
Für mich geht es darum, eine Lust zu wecken, hier zu partizipieren und sich nicht zu verschliessen: Die Jugendlichen sollen das Gefühl haben, ein Teil der Gesellschaft, ein Teil von diesem Zürich zu sein. Und sie sollen eine gewisse Selbstsicherheit kriegen: Jeder hat das Recht, hier zu sein und einen Platz einzunehmen. Sie müssen auch lernen, dass sie für das, was sie hier kriegen, nicht öfter «Danke» sagen müssen als die einheimischen Jugendlichen.
Wie sieht der Schulalltag deiner Klasse aus, wenn gerade keine Choreografie- Probe ansteht?
Wir unterrichten sie in Deutsch, Allgemeinbildung, Sport, Informatik und Mathematik. In meiner Klasse habe ich einige Schüler:innen, die noch nie eine Schule besucht haben. Um sie für die Lehrstelle vorzubereiten, geht es in diesem Passerelle-Jahr darum, ihren Rucksack zu füllen, oder auch einfach mal zu sehen, was überhaupt drin ist. Sie bringen ja auch viel mit. Wir machen eigentlich eine Art Standort bestimmung. Das #Angels-Projekt kommt in dieser Phase sehr gelegen, weil es in einem choreografisch-musikalischen Erarbeitungsprozess ja auch darum geht, sich zu zeigen, seinen Platz einzunehmen, das Verhalten in einer Gruppe auszutesten, den Umgang miteinander zu lernen und vor allem auch zuzuhören. Aber die Jugendlichen dürfen sich in diesem Rahmen auch einmal ausprobieren und einbringen. Das finde ich wichtig. In der Schule verhalten sie sich manchmal fast zu angepasst.
Du hast am Anfang gesagt, dass einige der Jugendlichen «gar keine Pubertät hatten». Hat diese Angepasstheit damit zu tun?
Wenn man mit 14 Jahren in Afghanistan eine Flucht beginnt, ist das genau die Zeit der Pubertät und in diesem Fall eine Zeit, in der man von heute auf morgen auf sich selbst gestellt ist und «erwachsen» sein muss. Die Pubertät ist aber eigentlich die Phase, in der es darum geht, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden oder ihn sich zu erkämpfen. Diese Arbeit müssen wir mit unseren Schüler:innen verstärkt nachholen. Das kann auch mal persönlich und emotional werden. In meiner Klasse habe ich deutlich mehr Männer als Frauen. Viele glauben deshalb wohl, dass ich hier mit einem disziplinlosen Tohuwabohu zu kämpfen habe. Das ist aber nicht so. Niemand hier ist daran interessiert, sich Feinde zu machen.
Es würde dem migrationskritischen Teil unserer Gesellschaft gut tun, ein paar Stunden in eurer Schule oder in einer der Choreografie-Proben zu sitzen…
Ja, die Vorbehalte sind krass. Das erleben wir ständig. Wir gehen demnächst eine Woche ins Schullager und merken, dass die Leute dort zuerst einmal Angst haben: Angst, dass unsere Jugendlichen im Coop stehlen, Angst, dass sie laut sind und pöbeln. Sobald sie aber bereit sind, hinzuschauen und diese Menschen zu erleben, merken sie, dass diese Ängste weitgehend unbegründet sind. Unsere Jugendlichen wollen niemandem Angst machen. Aber sie haben viel Energie und Empathie. Vor zwei Wochen ist ein Schüler aus der Ukraine in unsere Klasse gekommen. Er kann noch kaum Deutsch. Aber für die Schüler war es völlig selbstverständlich, sich um ihn zu kümmern und ihn aufzunehmen. Sie wissen ja aus eigener Erfahrung, wie es ist, wenn man nichts versteht. Gestern hat dieser Schüler seinen ersten Vortrag gehalten. Er konnte noch nicht viel sagen. Aber es haben alle wie wild applaudiert! Mit der gleichen Haltung begegnen sie auch dem Schüler, der im Rollstuhl sitzt. Er wird nicht überbehütet, aber es ist selbstverständlich, dass er überallhin mitgenommen wird. Er gehört dazu.
Das konnte ich auch in euren Proben beobachten…
Er wurde in Syrien von einem Auto angefahren. Ein Arzt hat ihn dann in die Schweiz gebracht, damit er hier bessere Behandlungsmöglichkeiten hat. Sein Kollege, der mit ihm zusammen in den Unfall verwickelt wurde, ist gestorben, er selbst hat schon viele Operationen hinter sich. Ich finde es erstaunlich, wie gut er in diesem Projekt mitmacht. Manchmal vergesse ich, dass er im Rollstuhl sitzt.
Ich gehe davon aus, dass ihr als Lehrpersonen regelmässig mit traumatischen Erfahrungen konfrontiert seid. Gehört es zu eurer Aufgabe, sie zu thematisieren und aufzuarbeiten?
Früher habe ich oft versucht, diese Erfahrungen in den Unterricht einzubeziehen. Heute ist es mir wichtiger, den Schüler:innen eine «normale» Zeit zu ermöglichen. Sie sollen nicht täglich darauf reduziert werden, wie und warum sie hierhingekommen sind und was ihnen in der Vergangenheit alles passiert ist. Sie sollen auch einmal normal sein dürfen. Das #Angels-Projekt hilft ihnen dabei, sich mit etwas Spielerischem auseinanderzusetzen, mit einer Choreografie, vergleichsweise einer «Nichtigkeit», und nicht immer mit den existenziellen Fragen, die viele von ihnen mitbringen und deswegen schlaflose Nächte haben. Es ist mir wichtig, ihnen viele positive Gefühle mitzugeben.
Warum ist die Zusammenarbeit mit dem Opernhaus für euch interessant? Ist das die Kultur, die Jugendliche mit Migrationshintergrund benötigen?
Einmal die Möglichkeit zu haben, auf einer Bühne des Opernhauses zu stehen und die Erfahrung zu machen, dass Leute kommen, um ihre Aufführung zu sehen, das erschliesst den Jugendlichen aus unseren Klassen auf jeden Fall einen Bereich, mit dem sie sonst nie in Kontakt gekommen wären. Es geht uns in der Integration ja darum, dass sie sich auf verschiedenen Ebenen in der Stadt zu bewegen lernen und nicht nur in ihrer Community. Dass diese Produktion einen so hohen Stellenwert hat und dass die Schüler:innen professionell mit Bühne, Kostüm, Licht, Musik und viel Organisation umgeben werden, das ist für ihr Selbstbewusstsein viel wert. Es geht um die Erfahrung, etwas zu leisten und dann dafür gefeiert zu werden. Aber sie müssen dabei auch lernen, durchzuhalten. Irgendwann kommt bei vielen der Moment, in dem sie sich denken: Das ist mir jetzt doch alles zu viel. Oder sie können sich am Morgen nicht motivieren, zur Probe zu gehen. Für diejenigen, die gerade volljährig geworden sind und jetzt alleine in Zürich leben, ist das zuweilen eine richtige Herausforderung.
Teil des #Angels-Projekts ist es auch, dass ihr mit der Klasse eine Ballett-Vorstellung am Opernhaus anschaut. Wie hat den Jugendlichen der Ballettabend Angels’ Atlas gefallen?
Tosender Applaus! Ich glaube, die Aufführung hat ihnen sehr gut gefallen. Die drei Choreografien von Crystal Pite und Marco Goecke haben aber auch Unsicherheiten ausgelöst und Fragen aufgeworfen. In Angels’ Atlas geht es ja auf emotionale Weise um Erfahrungen des Todes und des Jenseits, das andere Stück von Crystal Pite, Emergence, kann mit seiner Organisation von insektenartigen Schwärmen auch leicht als militärisch aufgefasst werden. Aber allein die athletischen Körper der Tänzer:innen machen auf Jugendliche in diesem Alter natürlich grossen Eindruck. Ausserdem wurden wir von der Tanzpädagogin Bettina Holzhausen sehr gut vorbereitet und haben richtig tolle Plätze gekriegt. Wir wurden nicht irgendwo in der hintersten Reihe parkiert. Die Schüler:innen wissen, wie teuer diese Plätze normalerweise sind, und sie schätzen das sehr.
Bringt sie das nicht wieder in die Lage, besonders dankbar sein zu müssen?
Nein, dieses Gefühl versuche ich ihnen nicht zu geben. Ich sage ihnen: Nehmt das Angebot an und geniesst es. Wahrscheinlich werdet ihr nie mehr auf über 100 Franken teuren Plätzen im Opernhaus sitzen. Die Schüler:innen wollen natürlich schön angezogen zu so einem Abend gehen. Einzelne haben sich in der Vergangenheit deshalb auch in Unkosten gestürzt. Das versuchen wir seither zu vermeiden. Ich selbst habe während der Vorstellung den Stress, zu kontrollieren, dass sie nicht zu viel am Handy hängen; aber Bettina Holzhausen sagt, der unkontrollierte Umgang mit dem Handy sei nicht nur bei den jungen Zuschauer:innen ein Problem... Der organisatorische Aufwand für dieses Projekt ist für uns Lehrpersonen manchmal sehr gross. Zuweilen frage ich mich, warum wir wieder zugesagt haben. Aber wenn die Jugendlichen es am Ende geschafft haben und unter grossem Jubel bei der Aufführung auf der Studiobühne stehen, dann weiss ich, dass es sich gelohnt hat!
Das Gespräch führte Fabio Dietsche
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 93, Juni 2022.
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