Der fliegende Holländer
Die Aufnahme war von Freitag, 12. Juni bis Sonntag, 14. Juni 24.00 Uhr verfügbar.
Möchten Sie noch weitere Opern- oder Ballettproduktionen kostenlos geniessen?
Hier geht's zur Übersicht unseres gesamten Online-Spielplans.
In der Spielzeit 2012/13 wurde Der fliegende Holländer von Richard Wagner am Opernhaus Zürich mit Bryn Terfel, Anja Kampe und Matti Salminen in den Hauptrollen inszeniert. Zugleich war es Andreas Homokis erste Inszenierung als Intendant des Opernhauses und ist allein durch die Leistung Terfels schon jetzt legendär.
Andreas Homoki inszenierte Der fliegende Holländer als kapitalismuskritischen Mystery-Thriller. Spannend sollte es sein und unwirklich. Plastisch verkörpert Matti Salminen in der Rolle des Daland stimmlich ausdrucksstark und souverän das Sinnbild des kapitalistischen Unternehmers.
Die unkontrollierbaren Mächte des Irrationalen, die Dalands unternehmerische Welt ins Wanken bringen, vertritt der Fliegende Holländer Bryn Terfel stimmlich vielschichtig und mächtig durch seine mysteriösen Auftritte. Durch die Figur des Holländers gerät die Ordnung aus den Fugen, auch durch die große Präsenz Terfels. Dass Senta sich als Figur in diese Ordnung nicht fügen möchte, setzt Anja Kampe durch ihr Spiel und ihre Stimme ebenfalls bravourös um.
Das Orchester erschafft in Der fliegende Holländer einen beeindruckenden Wagnerklang des 21. Jahrhunderts. Die Philharmonia Zürich unter Alain Altinoglu begleitet zurückhaltend, wo es nötig ist, aufpeitschend-aufgewühlt, wo die Handlung an Fahrt aufnimmt, und musiziert stets präzise und farbenreich.
Eine Produktion der Deutschen Grammophon in Koproduktion mit Opernhaus Zürich.
Trailer «Der fliegende Holländer»
Besetzung
Alain Altinoglu Dirigent
Andreas Homoki Inszenierung
Wolfgang Gussmann Bühnenbild und Kostüme
Susana Mendoza Kostüme
Franck Evin Licht
Ernst Raffelsberger Chorleitung
Anja Kampe Senta
Liliana Nikiteanu Mary
Bryn Terfel Holländer
Matti Salminen Daland
Marco Jentzsch Erik
Fabio Trümpy Steuermann
Philharmonia Zürich
Chor der Oper Zürich
Chorzuzüger
Interview
Richard Wagner hat seiner vierten vollendeten Oper die Genrebezeichnung «Romantische Oper» mit auf den Weg gegeben. Was ist das Romantische an diesem Stück?
Das ist eine zu dieser Zeit durchaus gängige Genrebezeichnung, die vor allem deutlich machen will, dass das Stück inhaltlich der Romantik zuzuordnen ist. Die Romantik war ja eine literarische Bewegung, der es vor allem um die Abgründe des Lebens ging, um die Schrecken, die hinter dem Alltäglichen lauern. Dem lag die Erfahrung zugrunde, dass dem Leben mit dem von der Aufklärung überkommenen Rationalismus nicht in allen Belangen beizukommen ist, dass es Bereiche und Vorgänge gibt, für deren Erklärung die Vernunft nicht auszureichen scheint. Daraus ergibt sich eine Vorliebe der literarischen Romantik für das Schauerliche, für Geistergeschichten. Besonders gut lässt sich das in Erzählungen von E. T. A. Hoffmann erkennen, wo die simplen Alltagsgegenstände plötzlich und ganz unerwartet eine andere Realität offenbaren können: Der Türknauf wandelt sich zur Teufelsfratze, der Nussknacker wird lebendig, hinter dem Spiegel tut sich eine ganz andere Welt auf. Diese Vorliebe findet sich auch bei den Opernkomponisten. Das wichtigste und einflussreichste Beispiel einer Romantischen Oper ist natürlich der Freischütz, wo es um Dinge jenseits des Rationalen geht, die unser Leben stärker beeinflussen können, als uns lieb ist. Carl Maria von Weber und Friedrich Kind gestalten – was typisch ist für die Romantik – Angstvisionen, die durch die radikalen Veränderungen der Gesellschaft am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts ausgelöst und genährt werden. Der Rationalismus, die Überzeugung, dass die Welt prinzipiell vernünftig erklärbar und beherrschbar ist, dass man den Verlauf der Dinge geradezu mathematisch vorausberechnen kann, war die Voraussetzung für die Industrialisierung, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihren Anfang nahm. Neue Technologien wurden entwickelt, neue Produktionsformen entstanden, das Zusammenleben der Menschen veränderte sich grundlegend. Auf diese Erfahrung reagierten die Menschen mit Angst, und die Romantik nimmt das auf.
Wie prägt sich das in Wagners Oper aus?
Das Unheimliche findet sich natürlich vor allem in der Gestalt des fliegenden Holländers selbst. Das ist ja eine ganz irreale Figur, ein Gespenst. Ein Mann, der nicht leben und nicht sterben kann, einer, der verflucht ist, für alle Ewigkeit ruhelos über die Meere zu jagen, es sei denn, er findet eine Frau, die ihm ewige Treue schwört und diesen Schwur auch zu halten vermag. Und dieser Mann, dieses Gespenst dringt nun in eine beschauliche Biedermeierwelt ein, wo bisher immer alles mit rechten Dingen zugegangen war. Bemerkenswert ist allerdings, dass Wagner diese romantische Figur positiv wertet und das Eindringen des Irrationalen als wünschenswerten Vorgang zeigt, weil damit etwas in diese Welt kommt, das vielleicht mehr mit dem Leben zu tun hat als das, was man da sonst für Leben hält.
Auf der anderen Seite ist es Senta, die in gewisser Weise die komplementäre Figur zum Titelhelden ist. Sie verkörpert die romantische Sehnsucht nach dem Anderen, nach einem Leben jenseits dieser durch und durch materialistischen, auf Profitmaximierung ausgerichteten Welt, die sie umgibt. Sie hört die Geschichte vom fliegenden Holländer und glaubt fest daran, dass sie, die für alle anderen nichts weiter ist als ein schönes Märchen, wirklich wahr ist. Und sie entdeckt in dem Mann, von dem da die Rede ist, eine verwandte Seele.
Worin besteht diese Verwandtschaft?
Beide wollen die Grenzen des «normalen» Lebens über schreiten. Beide wollen das Unmögliche verwirklichen. Der Holländer wollte einst ein stürmisches Kap umsegeln, koste es was es wolle. Und weil er sich in dieser Weise gegen die Gesetze der Welt auflehnt, weil er also nicht akzeptiert, dass er sich einer angeblich göttlichen Ordnung unterwerfen soll, wird er bestraft. Und eben das zieht Senta an: Da ist einer, der sich nicht unterkriegen lässt, ein Aussenseiter, der der Welt etwas abverlangt, einer der sich nicht anpasst. Das ist einer, der sich von Sentas Vater Daland und seinen Leuten stark unterscheidet, obwohl er auch Seemann ist. Man darf nicht übersehen, dass Daland alles andere ist als ein Abenteurer. Er fährt zwar auch über die Meere, jedoch nicht um neue Welten oder Seewege zu entdecken und sich in unbekannte Regionen vorzuwagen. Er ist Händler und fährt zur See, weil sich damit mehr Gewinn machen lässt als mit dem Handel auf dem trockenen Land.
Der Holländer aber (die von Wagner vorgeschriebene schwarze spanische Tracht deutet darauf hin) gehört in das Zeitalter der grossen Entdeckungen. Er repräsentiert – und das zieht Senta magisch an – etwas, das es in ihrer Welt gar nicht mehr gibt: Den freien Menschen, der sich dem Kampf mit der Natur oder auch dem Schicksal aus eigenem Entschluss und auf eigene Gefahr stellt. Niemand in Sentas Umgebung würde so etwas tun. Damit aber fehlt ihrem Leben gerade das, was sie sucht. Sie ist als Frau an das Leben auf dem Land gebunden und kann sich nicht auf das Abenteuer der Umsegelung eines gefährlichen Kaps einlassen. So findet sie ihre Aufgabe darin, diesen Verdammten durch ihren unbedingten Einsatz von seinem grauenhaften Fluch zu erlösen. Diese Unbedingtheit im Anspruch an das Leben und an die Selbstverwirklichung des Individuums ist die andere Seite des romantischen Lebensgefühls.
Ich möchte noch einen Moment bei der Gespenstergeschichte bleiben. Muss man, um eine solche Geschichte zu erzählen, an Gespenster glauben?
Das muss ich natürlich nicht, denn der Sinn einer Geschichte wie dieser kann ja nicht darin bestehen, den Zuschauern einzureden, dass es solche Geisterschiffe mit verfluchten Kapitänen tatsächlich geben soll. Das war ja auch nicht Wagners Absicht. Allerdings muss ich als Regisseur zulassen können, dass solche übersinnlichen Dinge für eine Inszenierung dieser Oper wichtig sind, und sie im Zusammenhang des Stücks ernst nehmen. Für mich hat es wenig Sinn, die Gestalt des Holländers zu «entzaubern» und zu zeigen, dass es so etwas gar nicht gibt. Es handelt sich um eine erfundene Figur, mit deren Hilfe sich eine Geschichte erzählen lässt, die aus ganz anderen Gründen erzählenswert ist. Eine theatralische Verabredung, die ich um so ernster nehmen muss, gerade weil ich etwas Irreales erzählen will. Wenn es also wichtig ist, dass der Holländer einer anderen Realitätsebene angehört als Senta und Dalands Leute – und ich halte das für sehr wichtig –, dann muss ich das auch sichtbar machen. Zum Beispiel, indem ich zeige, dass er einen Raum nicht durch eine Tür betritt. Oder dass er an mehreren Orten gleichzeitig sein kann. Ich persönlich glaube ansonsten ganz und gar nicht an Gespenster, aber auf der Bühne kann ich sie zeigen und habe auch meinen Spass daran.
Im Stück kommt neben dem Holländer noch eine grosse Gruppe von Gespenstern vor.
Die werden in unserer Aufführung zwar nicht sichtbar sein, aber es stimmt: Die SchiffsMannschaft des fliegenden Holländers tritt an einer Stelle als sehr beängstigender Spuk hervor. Das ist wie ein Einbruch einer übernatürlichen, zerstörerischen Gewalt. Die Welt gerät aus den Fugen, und durch die Risse dringt das ein, was man lieber verdrängen würde.
Wie wird das aussehen? Toben da Gerippe mit blitzenden Augen oder in weisse Tücher gehüllte Kinderschrecke über die Bühne?
Wenn wir versuchen würden, überzeugend wirkende Gespenster auf die Bühne zu bringen, wären wir noch dem schlechtesten Horrorfilm unterlegen und würden uns nur lächerlich machen. Es wäre auch nichts weiter als eine mehr oder weniger gelungene Illustration einer vorgegebenen Situation, ohne den Ansatz einer Deutung oder substanziellen Aussage. Wagner hat für die Szene der Konfrontation von Dalands Seeleuten mit der Mannschaft des Holländers eine für seine Zeit höchst avantgardistische Musik geschrieben und damit unüberhörbar deutlich gemacht, dass es sich hier um einen für das ganze Stück entscheidenden Vorgang handelt. Ich finde, dem muss man Rechnung tragen. Darum haben wir uns entschlossen, an dieser Stelle ein Thema der Inszenierung, das bis dahin eher unterschwellig präsent ist, zur vollen Entfaltung zu bringen: Die Geschichte trägt sich im Zeitalter des Kolonialismus zu, der «Mohrenstrand» oder die südlichen Gestade, von denen im Text die Rede ist, das ist Afrika, vielleicht auch Südostasien, das sind die rücksichtslos ausgebeuteten Gebiete, die wir heute als Dritte Welt bezeichnen. Insofern setzen Daland und seine Leute fort, was vermutlich auch der Holländer dreihundert Jahre früher begonnen hat. Er unterscheidet sich aber von den anderen dadurch, dass er davon nicht unberührt geblieben ist, er hat etwas von dem Fremden in sich aufgenommen und mitgebracht. Im Stück ist die Situation vor dem Ausbruch des Geisterchores so, dass die Leute am Ufer feiern und die Mannschaft des Geisterschiffs provozieren, bis diese ihnen brutal klarmacht, dass es besser wäre, vor dem rational nicht Erklärbaren nicht allzu übermütig zu werden. Wenn dann die Welt aus den Fugen gerät, ist das ein Vorgang, als würde der Schrecken, den die Europäer über diese Weltgegenden gebracht haben, der Schrecken, der ihnen grossen Reichtum eingetragen hat, zurückschlagen: Die Weltkarte in Dalands Kontor verbrennt vom Zentrum Afrikas her, der Urwald wächst in die Zivilisation zurück, droht alles zu verschlingen. Diese Angst des europäischen Eroberers vor den möglicherweise magischen Abgründen fremder Kulturen hat sich ja in vielfältigen Klischees reflektiert, denken Sie nur an den Fluch des TutAnchAmun, Geschichten von VoodooZauber und ähnliches. Das Irrationale schlägt zurück – heutzutage sogar ganz real in Form von religiösem Fundamentalismus und dem damit verbundenen Terrorismus. Der ist ja auch – wenigstens zu einem nicht geringen Teil – die Reaktion auf eine 400 jährige Dominanz und Arroganz Europas fremden Kulturen gegenüber.
Ich möchte noch einmal auf Senta zurückkommen. Ist es eigentlich Liebe zum Holländer, die sie antreibt?
Irgendwie schon, obwohl sie den Mann ja nie gesehen hat, sie kennt nur seine Geschichte und sein Bild. Sie will verzweifelt der materialistischen Welt ihres Vaters entkommen, der gern bereit ist, seine Tochter mit einem wildfremden Mann zu verheiraten, wenn nur genug dabei herausspringt. Die Sehnsucht nach dem Holländer gibt ihr die Kraft dazu. Er ist das ganz Andere, und er bietet ihr die Möglichkeit, eine wirklich grosse Tat zu tun, die über alles hinausgeht, was in ihrer Umgebung denkbar ist: sich bedingungslos aufzuopfern für die Rettung eines anderen Menschen.
Sich aufzuopfern in ewiger Treue zu einem Mann, den sie gar nicht kennt?
Als sich die beiden zum ersten Mal begegnen, scheint es eben doch, als hätten sie sich schon immer gekannt. Das klingt dann schon sehr nach grosser, im wahrsten Sinn des Wortes romantischer Liebe. Und sie will das tun, was er braucht: Sie will ihm ewige Treue halten. Sie begreift allerdings erst spät, dass sie sich damit eine unerfüllbare Aufgabe gestellt hat. Denn hinter diesem Schwur steht der Glaube und der Wunsch, dass die Dinge für immer so bleiben mögen, wie sie einmal sind. Das ist ein schöner Gedanke, aber er entspricht nicht der Wirklichkeit, denn ein Leben ohne jede Entwicklung wäre letztlich die Hölle auf Erden. Wir alle wissen, dass die Dinge sich fortwährend ändern müssen und dass wir leider die Veränderungen, die mit und in uns vorgehen, nicht im Griff haben. Das ist ein Grundwiderspruch in unserer menschlichen Existenz, und natürlich sind unsere Sympathien ganz auf Sentas Seite.
Aber auch Senta kommt an den Punkt, an dem sie erkennen muss, dass sie ihren Anspruch nicht verwirklichen kann.
Wir verstehen ihren Wunsch, aus der Realität auszubrechen, obwohl wir wissen, dass das unmöglich ist. Daran ist nichts Verkehrtes. Deswegen haben wir ja die Oper, die Kunst ganz allgemein, damit wir solche Überschreitungen des Realen durchspielen und unsere Erfahrungen damit machen können. Aber auch Senta kommt gegen Ende an den Punkt, an dem sie erkennen muss, dass sie ihren Anspruch nicht verwirklichen kann. Denn wenn sie dem Holländer folgen will, muss sie einen anderen verlassen, dem sie schon ewige Treue geschworen hat: Ihr Verlobter Erik hält ihr das vor, und sie kann es nicht abstreiten. So steht sie vor der schrecklichen Wahrheit, dass ein Versprechen nicht ewig gehalten werden kann. Und das ist der Punkt, an dem sie beschliesst, in den Tod zu gehen. Sie kann den Widerspruch zwischen ihrem Anspruch und der Realität nicht ertragen und tötet sich, weil dies die einzige Möglichkeit ist, ihr Versprechen zu halten.
Steht hinter dieser Geschichte von der Frau, die ihren Lebensinhalt darin sieht, dem Mann ewig treu zu sein, und die sich zur Besiegelung dieses Entschlusses vom Felsen stürzt, nicht ein unerträglich reaktionäres Frauenbild?
Das wird Wagner oft unterstellt. Man projiziert auf Wagners Frauengestalten häufig das Bild von Cosima Wagner, die sich ihrem Mann tatsächlich ganz und gar unterworfen hat und nur dafür lebte, dass das Genie Wagner seine grossen Werke schaffen konnte. Aber wenn man Wagners Stücke selbst betrachtet, stellt man fest, dass seine Frauenfiguren meist ausgesprochen rebellisch und emanzipatorisch gezeichnet sind. Das trifft ganz besonders auf Senta zu. Sie lehnt sich gegen ihre Umwelt auf, die ihr ein ruhiges Leben am Spinnrad und in einer beschaulichen Ehe anempfiehlt. Das eben will sie ja nicht. Also bricht sie aus und erfüllt die Aufgabe, die sie sich selbst gestellt hat. Und diese Aufgabe kann nicht darin bestehen, mit dem Holländer in eine gutbürgerliche Ehe zu treten und irgendwann ein hübsches kleines Einfamilienhaus in der Vorstadt zu bewohnen. Das ist natürlich ausgeschlossen. Das versteht auch der Holländer, und er erkennt, dass die Bedingung für seine Erlösung überhaupt nicht erfüllt werden kann. Die schöne Pointe ist, dass es dann eben doch geht: Sentas Tod löst den Fluch tatsächlich. Es handelt sich hier jedoch nicht um ein Scheitern Sentas. Tatsächlich beendet sie ihr Leben, um eine Vision zu verwirklichen. Und selbstredend ist diese Geschichte nicht gemeint als eine Empfehlung an die weiblichen Zuschauer, sich umgehend vom nächsten Felsen zu stürzen. Es ist eine Geschichte über den Wunsch nach individueller Selbstverwirklichung gegen jedweden Anpassungsdruck – eines der wichtigen inhaltlichen Leitmotive in Wagners Schaffen. Und da diese Geschichte auf der Opernbühne gezeigt wird, soll sie uns berühren und bewegen, damit wir uns unsere eigenen Gedanken dazu machen. Und deshalb ist an solch einem Ausgang nichts Reaktionäres. Das ist einfach gutes Theater.
Das Gespräch führte Werner Hintze.
Dieser Artikel erschien im MAG.
Das MAG können Sie hier abonnieren.
Reportage
Es ist natürlich kein Zufall, dass an dem Tag, an dem Bryn Terfel mit den Proben zum Fliegenden Holländer beginnt, die dritte Szene im ersten Akt auf dem Probenplan steht. Andreas Homoki, der Regisseur, hat es so gewollt. Einen passenderen Einstieg gibt es nicht: Der Holländer geht an Land und begibt sich erstmals unter Menschen. «Holla! Seemann!», singt Daland, «Nenne Dich! Wes Landes!» Und Bryn Terfel, der Bassbariton von Weltrang, der nur in sehr ausgewählten Häfen des internationalen Opernbetriebs vor Anker geht, spielt bei seiner Ankunft in Zürich die Ankunft des Holländers. Wir sind auf der Probebühne am Zürcher Escher-Wyss-Platz. Provisorisch verschraubte Holzwände und Stoffbespannungen deuten einen Raum an. Am rechten Bühnenrand steht ein holzgedrechselter Bürodrehstuhl. Im Vordergrund thront ein breiter, wuchtiger Holztisch, auf dem Seekarten ausgerollt sind. Bryn Terfel trägt einen schwarzen, langen Mantel als Probenkostüm und schwere, hohe Lederstiefel, die er vom ersten Moment an so sehr mag, dass er sie nach der Probe versehentlich anlassen wird und das erst in der Tram auf dem Weg ins Hotel bemerkt. Der Regisseur erklärt die Situation. Terfel nickt. Mit dem Rücken zur Bühnenrampe nimmt er auf dem Drehstuhl Platz. Der Dirigent Alain Altinoglu gibt den Einsatz und fadenfein, aus unbestimmbarer Ferne erklingt die dunkle, warme Stimme des fliegenden Holländers: «Weit komm ich her...»
Bryn Terfel steigt zwei Wochen zu spät in die Produktion ein. Darf er das? Wo doch Andreas Homoki als Intendant die strenge Richtlinie ausgegeben hat, es möge auch für Stars in der Probenarbeit keine Sonderrechte geben. Bei Terfel kommt man mit solchen Verfügungen allerdings nicht weit. Er ist ein walisischer Dickschädel und ein unabhängiger Geist. Die ganze Opernwelt weiss, dass er nur ungern länger weg ist von zu Hause und sich am wohlsten fühlt, wenn er im Kreise der Familie in das satte Inselgrün seiner Heimat blicken kann. Legendär ist der Skandal, den er vor fünf Jahren auslöste, als er am Londoner Royal Opera House als Wotan mitten in der Probenarbeit aus einer kompletten Ring-Produktion ausstieg, weil sich sein Sohn zu Hause in Wales einen Finger gebrochen hatte und operiert werden musste. Die englische Presse stand Kopf. Kommentatoren verglichen sein Verhalten mit dem eines Offizier, der mitten in der Schlacht seiner Truppe den Rücken kehrt. Terfel liess sich davon nicht beeindrucken und blieb bei seiner Entscheidung. Von der Met bis zur Scala ist seit diesem Vorfall jedem Operndirektor klar, dass Bryn Terfel zu engagieren ein spezielles Unterfangen ist. Deshalb hat auch der Regisseur Homoki den strengen Intendanten Homoki überredet, seinem Holländer durch geschickte Probendisposition einen verspäteten Einstieg in die Produktion zu ermöglichen. Und das Engagement kam zustande.
Terfels äussere Erscheinung ist imposant, männlich, charismatisch. Ein Hüne mit massigem Körper, extrabreitem Kinn und durchdringendem Blick. Ein idealer Holländer. Doch am ersten Probenmorgen schläft das Bühnentier zunächst noch in ihm. Konzentriert, aber nachdenklich und zögernd vernimmt er die Regieanweisungen, prägt sich die Wege und Gesten ein, die Homoki vorgibt. Sich auf eine neue Inszenierung einzulassen, bedeutet für jeden Sängerdarsteller, die vorherigen Produktionen des Stücks aus dem Gedächtnis zu löschen, und man spürt, wie Terfel sich bemüht, von früher Eingeübtem wegzukommen. Er spielt vorerst eher zu wenig als zu viel und bewegt sich durch die erste Probenstunde wie ein gefährliches Reptil, das langsam aus seiner Erstarrung erwacht und mit bedächtigen, echsenhaften Bewegungen das Terrain erkundet. Über den unnahbaren Holländer-Charakter ist damit schon eine ganze Menge erzählt. Den Weltekel fasst Terfel in eine unbewegte Miene, den Überdruss am ewigen Kreislauf aus Meeresstürmen und Landgang in pessimistisch nach unten gebogene Mundwinkel, den Gleichmut des Wiedergängers, der alles, was ihm widerfährt, schon tausendmal erlitten hat, in einen zeitlupenhaften Gang. «Bryn, wenn du singst ‹Mein Schiff ist fest, es leidet keinen Schaden›», sagt Homoki, «dann muss die ganze Verzweiflung über die Unmöglichkeit, sterben zu können, erkennbar werden. Du sehnst den Tod herbei, und dieser Daland erdreistet sich zu fragen, ob dein verdammtes Schiff in Ordnung ist. Die Stelle noch einmal bitte.» Daland singt: «Sag, woher kommst du? Hast Schaden du genommen?» Terfel schickt nun ein kurzes sardonisches Lachen durch den Raum, krampft bei der Phrase «Mein Schiff ist fest, es leidet keinen Schaden» seine Riesenhände zusammen, legt die Stirn desparat in Falten und knickt in den Knien kurz weg. Schon besser.
Wer Terfels kernigen, raumgreifenden Bariton aus Aufführungen kennt, wird erstaunt darüber sein, wie karamellweich seine Stimme klingen kann, beim Singen wie beim Sprechen. Diese Künstlerpersönlichkeit besteht eben nicht nur aus harter Schale. Das Urwüchsige und Unrasierte in seiner Stimme hat einen Gegenpol in immenser Empfindsamkeit. Terfel ist nicht zuletzt deshalb ein grossartiger Bassbariton, weil er Kraft und Lyrik, Energie und Schönheit zu verbinden versteht – was selbstverständlich gerade für den Wagnergesang von enormer Bedeutung ist. Terfel hat sich mit Wagner schon als junger Sänger beschäftigt, in einem Alter, in dem andere Sänger nicht im Traum darüber nachdenken. Lange hat er dann Mozart gesungen, war ein aufbegehrender Figaro und ein handgreiflicher statt unterwürfiger Leporello an der Seite Don Giovannis. Suggestive, prägnante Mozart-Rollenprofile sind ihm so gelungen, etwa in den Salzburger Festspielproduktionen der neunziger Jahre mit den Regisseuren Luc Bondy und Patrice Chéreau. Bis er sich schliesslich reif für Wagner fühlte und heute Wotan, Hans Sachs und den Holländer zu seinen Paraderollen zählt.
Terfel kehrt gerne den authentischen Instinktmusiker in sich hervor. In Interviews vergisst er nie zu betonen, dass er auf dem Land aufgewachsen und ein Bauernsohn ist: Die Schafe und Kühe stünden ihm bis heute näher als das grelle Scheinwerferlicht der Opernbühnen, und wenn er seine walisische Scholle verlasse, fühle er sich selbst wie ein fliegender Holländer, der haltlos auf den Sturmwellen des Kunstbetriebs hin und her gespült werde. Ein gutes Mass an walisischem Understatement schwingt in solchen Selbstbeschreibungen immer mit. Denn Terfel ist als Künstler viel reflektierter, als man auf den ersten Bühneneindruck vermuten mag. Der kanadische Regisseur Robert Lepage, mit dem Terfel in den vergangenen Jahren eine Ring-Produktion an der New Yorker Met erarbeitete, etwa sagt, Terfel habe sehr genau verstanden, dass alle Antworten auf darstellerische Fragen bei Wagner in erster Linie immer in dem zu finden seien, was aus dem Orchestergraben herauftöne. Terfel lasse wie kaum ein anderer zu, dass die Musik von seinem Körper Besitz ergreife. Er überantworte sich dem Fluss der gesamten Partitur und womöglich macht dies einen wesentlichen Teil der spezifisch Terfelschen Energie aus, die Kritiker schreiben liess, da tobe ein Sängerdarsteller durch den Abend, der jederzeit bereit sei, die Bühne auszufressen.
In der Zürcher Holländer-Produktion ist Terfel freilich nicht der einzige Bühnenfresser: Sein Konterpart ist Matti Salminen als Daland, ein Rampentier von respektgebietender Statur auch er. Fast schmächtig wirkt der Regisseur Andreas Homoki auf der Probebühne als Dompteur dieser beiden kapitalen Wagner-Echsen. Aber er führt sie präzise, treibt sie an und erweckt sie zu packender Lebendigkeit. Dem einen, Terfel als Holländer, scheint alles gleich zu sein, bis er die entscheidende Frage ausspuckt: «Hast du eine Tochter?» und gleich bellt er hinterher: «Sie sei mein Weib!» Der andere, Salminen als Daland, offenbart die verschlagene Geschäftsroutine eines Schiffseigners, bis er den Schmuckberg glitzern sieht, den der Holländer auf den Tisch häuft. Und plötzlich stehen beide immer kurz davor, die Fassung zu verlieren. Ein gefährliches Knurren und Grollen, Locken und Belauern hebt zwischen ihnen an. Sie lassen sich nicht mehr aus den Augen, verfolgen sich um den Kartentisch, singen einander beschwörend an. Den einen treibt die Erlösungssehnsucht, den anderen die kalte Gier. Ein Foto von Senta wird zur Pokerkarte, die zwischen den Männerpranken hin und her wandert. Fäuste sausen auf die Tischplatte. Augäpfel treten aus ihren Höhlen. Haben Terfel und Salminen ihre Gesangsphrasen zu Beginn der Probe lediglich angedeutet, lassen sie nun ihre prächtigen Baritonstimmen dröhnen. Und plötzlich wird es sehr eng auf der Probebühne, obwohl nur zwei Personen auf den Planken stehen: So raumgreifend nehmen sie die Szene in Beschlag, so berstend füllen sie sie mit Gesang, Testosteron und Ausdruckswille. Andreas Homoki hebt die Arme und ruft: «Stopp!» Nicht schlecht für den Anfang. Der Holländer ist in Zürich angekommen.
Text von Claus Spahn.
Dieser Artikel erschien im MAG.
Das MAG können Sie hier abonnieren.
Wie machen Sie das, Herr Bogatu?
Ein Handelskontor erwacht zum Leben
Ein Blick hinter die Kulissen und in die Welt der Bühnentechnik von «Der fliegende Holländer». Der technische Direktor am Opernhaus Zürich, Sebastian Bogatu, gibt Auskunft über sich bewegende Wände, ausgefeilte Elektronik und Maschinen, die schlussendlich doch von Menschenhand gestartet werden müssen.
Das Bühnenbild von Wolfgang Gussmann zum Fliegenden Holländer stellt ein altes Handelskontor dar: die massiven Holzwände vermitteln den Eindruck von Festigkeit und Stabilität. Von aussen kann in diesen Raum nichts eindringen, die fensterlosen Wände sind hoch und unüberwindbar. So scheint es zunächst...
Doch plötzlich erwachen diese Wände zum Leben. Sie vergrössern oder verkleinern den Raum, sie können sich unmerklich langsam bewegen, dann aber auch wieder bedrohlich schnell.
Für einmal sind hier nicht die Bühnentechniker am Werk, sondern ein ausgefeiltes Hydrauliksystem der Firma Gribi aus Schlieren: die Wände wiegen ca. vier Tonnen – da braucht es an jeder Seite zwei grosse Hydraulikzylinder, die die Wände maximal drei Meter in den Raum hineindrücken oder wieder herausziehen.
Eine ausgefeilte Elektronik überwacht jeden Millimeter Fahrweg, damit die Wände dabei genau in der Geschwindigkeit auf die Position fahren, die Andreas Homoki während der Proben festgelegt hat.
Von Hand kann man diese Präzision nicht erreichen. Bei langsamen Fahrten würde jede Unebenheit am Boden die Wände zum Stillstand bringen, und ein synchrones Fahren zweier gegenüberliegender Wände wäre nicht möglich.
Ganz automatisch laufen die Fahrten dann doch nicht ab: Unsere Maschinisten unter der Leitung von Bühnenmeister Luc Balmer starten und überwachen die Fahrten der Wände, damit diese nicht mit den Künstlern auf der Bühne kollidieren.
Illustration von Anita Allemann.
Dieser Artikel erschien im MAG.
Das MAG können Sie hier abonnieren.