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Walkways

Dauer ca. 2 Std. 25 Min. inkl. Pausen nach dem 1. Teil nach ca. 30 Min. und nach dem 2. Teil nach ca. 1 Std. 30 Min. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.
Die Einführungsmatinee findet am 1 Okt 2023 statt.

Gut zu wissen

Trailer «Walkways»

Interview


Alle verschieden und doch eine Einheit

Die neue Zürcher Ballettdirektorin Cathy Marston will mit ihrer Neuformation des Balletts Zürich Menschen mit unterschiedlichen Stilen, Energien und künstlerischen Ansätzen zusammenbringen. Sie startet ihre erste Spielzeit mit dem dreiteiligen Ballettabend «Walkways», der Arbeiten von Wayne McGregor, Jerome Robbins und ihr selbst vereint.

Cathy, seit Anfang August bist du neue Direktorin des Balletts Zürich. Wie hast du den Auftakt für deine neue Tätigkeit erlebt?
Zum ersten Mal die handverlesene Gruppe von Menschen zu sehen, die ich in einem Zeitraum von zwei Jahren zusammengestellt habe, war ein sehr emotionaler Moment für mich. Ich habe an die 3000 Bewerbungen gelesen, etwa 300 Tänzerinnen und Tänzer habe ich beim Vortanzen in Zürich gesehen und eine Auswahl getroffen. Dabei war mir besonders wichtig, Menschen zusammenzubringen, die eigenständige Persönlichkeiten sind, miteinander harmonieren, etwas Aufregendes schaffen und sich untereinander beflügeln. Sie sollen sich gegenseitig ergänzen, aber auch kontrastieren mit ihren unterschiedlichen Energien, Stilen und Ansätzen. Ob diese Gruppe mehr sein kann als die Summe ihrer einzelnen Mitglieder, werden wir im Laufe dieser Spielzeit herausfinden. Die ersten gemeinsamen Wochen, die wir miteinander verbracht haben, stimmen mich sehr zuversichtlich.

Begonnen hast du deine erste Spielzeit mit einem «Vision Day» für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Balletts Zürich. Wie sah der aus?
Vor ein paar Jahren habe ich in Grossbritannien an einem Kurs für Führungskräfte im Kulturbereich teilgenommen. Mich hat das damals sehr inspiriert, und so habe ich die Organisatorin, Sue Hoyle, nach Zürich eingeladen, um mit dem Ballett Zürich zu arbeiten. Einen ganzen Tag lang ging es nicht um künstlerische oder organisatorische Inhalte, sondern wir haben uns Zeit für ein erstes Kennenlernen genommen und uns in einer sehr entspannten Atmosphäre einfach darüber verständigt, wie wir in Zukunft miteinander arbeiten wollen. Was ist für uns wichtig? Was bringen wir mit, was suchen wir? Das war überaus konstruktiv. Am Ende dieses Tages sind wir alle sehr inspiriert und voller Elan nach Hause gegangen. Inzwischen sind wir mitten im Ballettalltag angekommen und studieren die Stücke für unseren ersten Ballettabend ein. Wir bereiten die Wiederaufnahme der Nachtträume von Marcos Morau vor, und ich bin sehr glücklich, täglich selbst mehrere Stunden mit den Tänzerinnen und Tänzern im Ballettsaal an meinen Stücken zu arbeiten.

Mit dir sind viele neue Tänzerinnen und Tänzer aus der ganzen Welt nach Zürich gekommen. Nach welchen Kriterien hast du sie ausgesucht, was war dir bei der Auswahl wichtig?
Natürlich geht es erst einmal um technische Brillanz im klassischen wie im zeitgenössischen Repertoire. Aber ich habe vor allem auch nach möglichst diversen Leuten Ausschau gehalten, die ein besonderes Interesse und Talent für die narrativ-dramatische Arbeit mitbringen, die meine ganz persönliche Leidenschaft ist. Die Unterschiedlichkeit ist sehr wichtig, denn zu grosse Ähnlichkeit wird schnell zum Problem, wenn man Geschichten über die Welt und die Menschen erzählen will. Ein wichtiger Bestandteil jeder Audition war eine kleine Arbeitsprobe mit mir. Ich wollte wissen: Sind das Leute, die nur darauf warten, dass man ihnen sagt, was sie tun sollen? Oder werden sie in einem kreativen Prozess ihre eigenen Ideen einbringen und mit mir teilen? Davon muss ich wirklich überzeugt sein.

Ob man tatsächlich die richtigen Leute zusammengebracht hat und ob das auch mit den Tänzerinnen und Tänzern funktioniert, die schon länger im Ballett Zürich tanzen, merkt man natürlich erst nach den ersten Wochen im Ballettsaal. Wie erlebst du gerade dieses neue Ballett Zürich?
Ich habe nie den Eindruck, dass es sich hier um eine Gruppe handelt, die sich noch keine zwei Monate kennt. Es lässt sich kaum unterscheiden, wer gerade neu zum Ensemble gestossen ist oder schon vorher da war. Jenifer Ringer vom Jerome Robbins Trust, die gerade die Glass Pieces einstudiert hat, hat das sehr schön auf den Punkt gebracht. Sie sprach von einer besonderen Art von Menschlichkeit, die sie in der Gruppe spürt. Das hat mich sehr gefreut.

Welche Vision hast du für das Ballett Zürich unter deiner Leitung?
Mir ist wichtig, dass diese Compagnie in der Gegenwart verankert ist, gleichzeitig aber auch zurück und in die Zukunft schaut. Das Ballett Zürich soll ein Ort der Kreativität sein. Ich werde viel für die Compagnie choreografieren, aber auch Raum lassen für neue choreografische Stimmen und namhafte Künstler, die bereits erfolgreich mit dem Ensemble gearbeitet haben. Ich überlege jeden Tag, wie die Zukunft für unsere Kunstform aussehen kann. Sicher ist zeitgenössische Relevanz sehr wichtig, aber ich möchte auch das Bewusstsein für bedeutende Errungenschaften der Ballettgeschichte schärfen. Deshalb werden wichtige Handschriften und Schlüsselwerke der Vergangenheit an der Seite von zeitgenössischen und neuen Werken zu sehen sein. Die klassische Technik wird in unserem Repertoire eine wichtige Rolle spielen. Aber wir werden auch mit Tanzformen der Gegenwart arbeiten und ein breites Spektrum an Stilen zeigen. Wie das aussehen kann, haben wir gerade erlebt! Der junge, aus Südafrika stammende Choreograf Mthuthuzeli November, der im Januar bei uns arbeiten wird, hat einen Workshop mit den Tänzerinnen und Tänzern veranstaltet. In seiner choreografischen Sprache verbindet er südafrikanische Tanzformen mit klassischen Ballettelementen auf Spitze und zeitgenössischem Tanz. Mit seiner mitreissenden Energie hat er uns sofort in seinen Bann gezogen und im Studio jene kreative Atmosphäre geschaffen, die ich mir für den Alltag des Balletts Zürich wünsche.

Diese erste Saison unter deiner Leitung ist von einer grossen choreografischen Vielfalt geprägt. Was sind deine persönlichen Highlights?
Für jedes einzelne Stück in dieser Saison haben wir uns ganz bewusst entschieden. Ich möchte keines missen und freue mich auf unseren, wie ich finde, sehr ab wechslungsreichen Ballettspielplan. Ein besonderer Höhepunkt ist die Uraufführung des Balletts Atonement nach dem berühmten Roman von Ian McEwan. Es ist eine Koproduktion des Balletts Zürich mit dem Joffrey Ballet of Chicago. Mit beiden Compagnien habe ich bereits begonnen, an dieser Produktion zu arbeiten. Das macht grossen Spass!

Deine erste Saison als Ballettdirektorin eröffnest du mit einem dreiteiligen Abend, der unter dem Titel Walkways Choreografien von Wayne McGregor, Jerome Robbins und von dir vereint. Inwiefern steht dieser Abend für deinen programmatischen Anspruch?
Vielleicht wird man in diesem Programm eine Neukreation vermissen. Aber ich fand für das neue Ensemble wichtig, dass wir erst einmal künstlerisch zueinander finden, ohne den Druck einer Uraufführung im Nacken zu haben. Die drei Stücke nähern sich dem Ballett auf sehr unterschiedliche Weise. Während es sich bei meiner Choreografie Snowblind um eine Kurzgeschichte handelt, sind Wayne McGregors Infra und die Glass Pieces von Jerome Robbins abstrakte Arbeiten. Beide sind jedoch von einer speziellen Emotionalität geprägt. Deshalb treffen sie einen eher im Herzen oder im Magen als im Kopf, und das gefällt mir. Tatsächlich möchte ich von dem, was ich auf der Bühne sehe, emotional berührt und intellektuell stimuliert werden. In dieser Reihenfolge!

Welche Idee verbindet diese drei Stücke?
Mein Ballett Snowblind, das 2018 für das San Francisco Ballett entstanden ist, erschien mir besonders geeignet, die Compagnie mit meinem choreografischen Stil vertraut zu machen. Gleichzeitig habe ich nach Stücken gesucht, die für die Aufbruchsstimmung eines Neubeginns stehen können und fand sie in Infra und den Glass Pieces. Ein choreografisches Motiv ist in allen drei Stücken präsent. Das Durchqueren der Bühnentotale von einer Seite zur anderen, die sich kreuzenden linearen Wege – das ist auch im Titel Walkways eingefangen. In allen drei Stücken erleben wir Aufbrüche und all jene Interaktionen, die entstehen, wenn sich Wege kreuzen. Sie können gerade und harmonisch, unter Umständen aber auch sehr verknotet verlaufen, und aus diesen Knoten herauszukommen, kann eine sehr mühevolle Angelegenheit sein. Die sehr menschliche Perspektive, die aus allen drei Stücken spricht, ist sicher eine meiner Grundüberzeugungen als Choreografin.

Wayne McGregor ist in Zürich kein Unbekannter. 2014 hat er für das Ballett Zürich das Stück Kairos choreografiert. Nun also Infra, das 2008 als Auftragswerk für das Royal Ballet in London entstanden ist. Was ist das Be­sondere an diesem Stück?
Mit Infra verbinde ich viele persönliche Erinnerungen. Anfang der 2000-er Jahre war das Royal Opera House Covent Garden gerade renoviert worden. Es gab zwei neue Studiobühnen, an denen tänzerisch und choreografisch viel experimentiert wurde. Damals sind sich Wayne McGregor und ich zum ersten Mal begegnet. Er kam aus einer sehr zeitgenössischen Welt, hatte bereits eine eigene moderne Compagnie und sollte nun für das Royal Ballet, eine der klassischsten Compagnien überhaupt, choreografieren. In Infra spürt man die kreative Energie der jungen Menschen, die damals die Grenzen des Balletts ausloten und erweitern wollten. Einige meiner einstigen Kommilitonen an der Royal Ballet School haben in der Uraufführung von Infra getanzt. Das Stück ist nach den Londoner Bombenanschlägen von 2005 entstanden und reflektiert die Verletzlichkeit der urbanen Stadtgesellschaft. Wayne McGregor schaut hinter die oberflächliche Fassade der Grossstadt und erforscht mit seinen Tänzerinnen und Tänzern die menschlichen Geschichten, die sich inmitten der anonymen Hektik der Metropole ereignen. Das animierte Bühnenbild des britischen Künstlers Julian Opie und die Musik von Max Richter schaffen eine unter die Haut gehende Atmosphäre. Auch wenn ich schon lange in der Schweiz lebe, bleibt London meine andere Heimat. Es war mir ein besonderes Anliegen, beide Orte in diesem Programm zusammenzuführen.

Was können Tänzerinnen und Tänzer für sich aus einem Stück von Wayne McGregor mitnehmen?
In Wayne McGregors Choreografien erfährt man über sich und seinen Körper immer etwas, was man bis dahin nicht wusste. Er lässt einen die eigenen Grenzen ausloten und im besten Fall auch überschreiten. Seit der Uraufführung von Infra hat Wayne McGregor ein riesiges Œuvre geschaffen. Ich finde es grossartig, dass er seine Stücke nicht in den Tiefen eines Archivs versenkt, sondern sie ausdrücklich auch für die Kreativität neuer Tänzergenerationen offenhält.

Jerome Robbins hat in Zürich keine lange Aufführungsgeschichte. Vor einigen Jahren hat das damalige Zürcher Ballett sein Stück In the Night getanzt. Nun kommen seine Glass Pieces heraus, die er 1983 für das New York City Ballet kreiert hat. Das Leben von Jerome Robbins war ein ständiger Spagat zwischen Musical und Ballett. Merkt man das auch in seinen Stücken?
Sicher kann man die West Side Story nicht mit den Glass Pieces vergleichen. Aber der dynamische, aus der Urbanität New Yorks gespeiste Zug ist in beiden Stücken vorhanden. Jenifer Ringer, die mit Robbins befreundet war und in vielen seiner Choreografien getanzt hat, bringt eine grosse Authentizität in die Proben. Aber auch hier ist es ähnlich wie bei Wayne McGregor. Die Choreografie ist nicht in Stein gemeisselt, sondern kann durch die Persönlichkeiten unserer Tänzerinnen und Tänzer und deren Können mit neuem Leben erfüllt werden. Trotz aller Präzision und Genauigkeit, die die minimalistische Musik von Philip Glass einfordert, ist es wichtig, dass wir auf der Bühne lebendige Menschen und keine Abziehbilder aus einer fernen Vergangenheit sehen.

Anfang der 80er Jahre, als das Stück entstanden ist, stand Philip Glass noch ziemlich am Anfang seiner Weltkarriere als Komponist. Vierzig Jahre später hat seine Musik eine unglaubliche Popularität erreicht und steht insbesondere bei Choreografen hoch im Kurs. Warum ist das so?
In vielen der grossen klassischen Ballettpartituren weist einem die musikalische Struktur auch einen choreografischen Weg. An bestimmten «Ereignissen» in der Partitur kommt man einfach nicht vorbei. Mit Minimal Music hat man eine Chance, Strukturen zu schaffen, die von der Komposition unabhängiger sind. Aber natürlich kann man sich auch in diese Musik versenken und sich ihre Struktur für choreografische Umsetzung nutzbar machen. Bei Jerome Robbins spürt man das in den Querphrasierungen seiner Choreografie. Die rhythmischen Strukturen entwickeln einen fast hypnotischen Sog und ziehen einen buchstäblich in dieses Stück hinein.

Dein Ballett Snowblind basiert auf dem Roman Ethan Frome der amerikanischen Autorin Edith Wharton. Sie ist im deutschsprachigen Raum wenig bekannt. Was sollte man über sie wissen, und worum geht es in ihrem Buch?
Edith Wharton wurde 1862 in eine wohlhabende New Yorker Familie geboren und wuchs in New York und Europa auf. In ihren Büchern erzählt sie von den zeitlosen Regeln und Ritualen der amerikanischen Oberschicht an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und thematisiert dabei immer wieder das durchbrechende Verlangen nach Freiheit, Liebe und Leidenschaft. Zeit der Unschuld, ihr erfolgreichster Roman, hat sich spätestens mit der Verfilmung durch Martin Scorsese auch ein heutiges Publikum erobert. Whartons Buch Ethan Frome aus dem Jahr 1911 spielt im winterlichen Massachusetts. Dort lebt der Farmer Ethan in einer freudlosen Ehe mit seiner hypochondrischen Frau Zeena. Als Mattie, eine Cousine von Zeena, als Haushaltshilfe ins Haus kommt, verliebt sich Ethan in sie. Beide erkennen, dass sie weder mit noch ohne den anderen leben können und fassen den Entschluss, gemeinsam zu sterben. Als dieser Suizidversuch in einem Schneesturm misslingt, ist es Zeena, die sich um die beiden Schwerverletzten kümmert und in ihrer Fürsorglichkeit über sich hinauswächst. Alle drei werden in einer schicksalhaften Dreiecksbeziehung zusammengeschweisst, und ich fand es faszinierend zu sehen, wie sich aus dieser Abhängigkeit eine besondere Art von Koexistenz entwickelt. Diese Verschränkung von Liebe, Abhängigkeit, Mitleid und gescheiterter Hoffnung hat mich als Choreografin inspiriert.

Was hat dich bewogen, zwei abstrakte Choreografien mit einem Handlungs­ballett zu verbinden?
Das ist eine britische Tradition. Ich bin mit der Vorstellung aufgewachsen, dass diese sogenannten «Triple Bills» wie eine Mahlzeit mit verschiedenen Gängen sind. Sie sollen sich gegenseitig ergänzen, ohne zu ähnlich zu sein. Nach einem beflügelnden Auftakt wird man erst in eine faszinierende Geschichte hineingezogen und schliesslich in ein aufrüttelndes Finale entlassen. Mit den drei Stücken unseres Walkways-Abends wird das hoffentlich gut funktionieren.

Das Gespräch führte Michael Küster

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 105, September 2023.
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Hintergrund


Der Alleskönner von New York

Der Jahrhundert-Choreograf Jerome Robbins war ein Star am Broadway und Innovator des modernen Balletts. Er beherrschte das Geschichtenerzählen und den abstrakten Tanz, die grosse Form und die kleine, fingerschnippende Pointe. Jetzt bringt das Ballett Zürich seine «Glass Pieces» auf die Bühne. Die Tanzjournalistin Angela Reinhardt erinnert an einen der ganz grossen Künstler des Balletts im 20. Jahrhundert.

Wer hat die West Side Story erfunden? Leonard Bernstein – würden zehn von zehn Befragten antworten. Eben nicht: Jerome Robbins war es. Wer? – stutzen jetzt zehn von zehn Befragten, selbst unter den Kulturinteressierten. Leonard Bernsteins 100. Geburtstag wurde vor fünf Jahren mit Konzerten und vielen Lobgesängen weltweit gefeiert, gerade kommt ein biografischer Film über den Komponisten und Dirigenten in die Kinos. Sein Freund und Zeitgenosse Jerome Robbins, kaum ein paar Wochen jünger als Bernstein, ist deutlich weniger bekannt, obwohl er für sein Metier, den Tanz, vermutlich wesentlich wichtiger war als der eher eklektizistische Tonsetzer Bernstein für die klassische Musik. Dafür, dass Robbins einer der besten, bis heute kaum übertroffenen Musicalchoreografen und ausserdem der erste Ballettchoreograf amerikanischer Herkunft ist, kennen und schätzen wir ihn in Europa viel zu wenig. Was auch daran liegt, dass die Jerome Robbins Foundation, der er mit seinem Tod 1998 sein Œuvre anvertraute, die Rechte an den Werken sehr sparsam und nur nach intensiver Qualitätsprüfung an die weltweiten Ballettcompagnien vergibt.

Genau wie «Lenny» war «Jerry» das Kind jüdischer Auswanderer aus Osteuropa, genau wie Bernstein ein multitalentierter Wanderer zwischen den Welten von E und U, genau wie Bernstein haderte er im prüden Nachkriegsamerika mit seiner Homosexualität. Aber Robbins, der eigentlich Jerome Wilson Rabinowitz hiess und anders als Bernstein den jüdisch klingenden Namen rasch amerikanisierte, wurde noch von ganz anderen Dämonen geplagt. Sein Ruf als menschenverachtender Tänzerquäler war legendär – und doch gibt es in seinen Balletten Bilder zartester Lyrik und tiefster Menschlichkeit. Ein Verhalten wie seines wäre für einen Künstler, der zur Verwirklichung seiner Werke eng mit anderen Künstlern arbeitet, heutzutage schlichtweg nicht mehr möglich, umso mehr erstaunt der Gegensatz zwischen Mensch und Werk.

Was Robbins vor den meisten seiner Kolleginnen und Kollegen auszeichnet, ist eine unglaubliche Stilvielfalt – schon als Student lernte er vom spanischen Tanz über Jazz bis zur modernen Martha-Graham-Technik alles, was er in die Beine kriegen konnte, er tanzte in Musicals wie in klassischen Werken. Als trauriger Narr Petruschka in Michail Fokines Klassiker soll er genauso faszinierend gewesen sein wie als George Balanchines Prodigal Son, der verlorene Sohn – schon früh faszinierten Robbins die Aussenseiter. Sein unbedingtes Streben nach Authentizität im Tanz mag von Fokine stammen, diesem russischen Petipa-Gegner und Wahrhaftigkeits-Revolutionär, mit dem Robbins als junger Interpret in den USA noch arbeitete. Noch am Zarenhof hatte Fokine dramaturgische Stringenz und die Einheit von Handlung, Tanz, Musik und Ausstattung im Ballett gefordert.

«Why can’t we dance about American subjects?», warum nicht über amerikanische Themen tanzen, so wird Robbins zitiert – und statt alter Märchen zeigte er 1944 gleich in seinem ersten Stück Fancy Free die Gegenwart, nämlich drei Matrosen auf New-York-Urlaub vom Krieg. Radschlagend stürzten sie auf die Bühne, das aufgekratzte Trio wurde samt den drei umflirteten, selbstbewussten New Yorkerinnen zum Klassiker und steht bis heute auf den amerikanischen Spielplänen. Bernstein hatte die Musik geschrieben, kurz entschlossen machten die beiden aus dem Stoff umgehend das Musical On the Town und brachten es mit jazzigen Tänzen an den Broadway. Robbins und sein Team besetzten dabei nicht nur mitten im Pazifikkrieg die weibliche Hauptrolle mit einer Halbjapanerin, sondern liessen, damit es authentisch aussah, zum ersten Mal auch schwarze Darsteller als normale Passanten im Ensemble eines Broadway-Musicals agieren. Was er machte, sollte echt sein.

Um 1950 waren Robbins und Bernstein bekannte Namen in der zeitgenössischen amerikanischen Kunst, für zwei Jahrzehnte teilte der Choreograf fortan seine Zeit zwischen Broadway und Ballett. Er inszenierte, choreografierte und/oder produzierte Musicals, war ausserdem als «Show Doctor» begehrt, der kurz vor der Premiere kränkelnde Werke in Ordnung brachte. Robbins hatte den perfekten Riecher fürs Gelingen, und er hob den Musicaltanz auf ein neues Niveau – On the Town oder The King and I etwa hatten ausgedehnte, handlungstragende Tanzszenen, die erste Begegnung zwischen Tony und Maria in der West Side Story wird als reiner Tanz erzählt. Regelmässig werden seine 50, 60 Jahre alten Musicalchoreografien in den New Yorker oder Londoner Revival-Produktionen wieder einstudiert, eine grosse Ausnahme im Musicalgeschäft, wo selbst bei Wiederaufnahmen normalerweise alles neu aufgehübscht wird.

East Side Story sollte die moderne Version von Romeo und Julia zunächst heissen, Robbins hatte anfangs eine Konfrontation von Katholiken gegen Juden erdacht, aus der schliesslich der Kampf der Puertoricaner gegen die Amerikaner polnischer Abstammung wurde. Wieder war der Schauplatz das New York der Gegenwart, wieder zeigte Robbins in den wütenden Turnschuh-Kicks der Jets und Sharks die Sprache der Strasse. Gemeinsam mit Bernstein, dem Schauspielautor Arthur Laurents und dem damals noch unbekannten Stephen Sondheim als Texter hob er das Genre Musical auf eine neue Ebene – die West Side Story war ein Gesamtkunstwerk, in dem Musik, Buch, Tanz und Texte gleichrangig eine Einheit bildeten. Für die Verfilmung gewann Robbins einen Oscar. Mit Gypsy über eine Burlesque-Tänzerin und ihre verbitterte Mutter inszenierte er das ultimative Backstage-Musical, mit Fiddler on the Roof (oder bei uns Anatevka) kehrte er 1964 zu seinen Wurzeln im osteuropäischen Schtetl zurück – und nahm dann, nachdem er bleibende Massstäbe gesetzt hatte, für eine lange Zeit Abschied vom Broadway. Dort erloschen 1998 am Abend seines Todes in allen Theatern für eine Minute die Lichter.

Sein Erstling Fancy Free war noch fürs American Ballet Theatre entstanden, wenig später ging Robbins 1948 zum neuen New York City Ballet, das ihn neben George Balanchine als einen seiner beiden Gründungs-Choreografen verehrt. Er begann dort mit einem Ballett über Intoleranz und schuf innerhalb weniger Jahre stark konträre Werke, etwa das damals skandalöse The Cage über eine Horde mörderischer Frauen, die ähnlich wie Gottesanbeterinnen die Männer nach dem Liebesakt umbringen. Hier setzte er die Bewegungen des akademischen Ballettvokabulars als körperliche Gewalt ein, in Afternoon of a Faun wurden sie, perfekt nach Debussys Musik, zum leisen Hauch: Ein Mann und eine Frau begegnen sich im Ballettsaal, aus dem flüchtigen Augenblick entsteht ein Zauber. Die vierte Wand wird zum imaginären Spiegel, jede noch so kleine Regung, jeder Blick ist in diesem zarten Stück wichtig. Wenn Robbins lustig war, dann aber heftig: The Concert hat mit seiner absurden, teils satirischen Komik keine Angst vor Slapstick. Zum Schluss jagt der Pianist die flatternden Tänzer mit einem Schmetterlingsnetz, der kurze Mistake Waltz ist mit seinen falsch umherrankenden Corps-de-ballet-Mädchen eine der originellsten Ballettparodien aller Zeiten.

Robbins war Perfektionist und ein Choreograf der winzigsten Details; wo der abstrakte Balanchine, bei all den Ausflügen zum Jazz oder sogar zu einer Handlung, seinem klaren, neoklassischen Stil weitgehend treu blieb, da experimentierte Robbins in jegliche Richtung. NY Export: Opus Jazz, entstanden für seine eigene, kurzlebige Compagnie «Ballets: USA», wurde 1958 in Turnschuhen getanzt. Moves ist ein Ballett ohne Musik, in dem allein das Klackern der Spitzenschuhe oder das Klatschen einer Hand auf die Schulter den Taktschlag vorgeben; 40 Jahre später liess William Forsythe seine Tänzer ihre Musik wieder selbst produzieren. Glass Pieces, 1983 direkt nach Balanchines Tod entstanden, ist das erste Stück des New York City Ballet zur damals noch ganz neuen Minimal Music und kommt durch grosse Unisono-Gruppen mit hinausgestreckten Armen so nah an den modernen Europäer Hans van Manen, wie es das amerikanische Ballett eigentlich gar nie wollte. Matrix-artig, mit kleinen Phasenverschiebungen bewegen sich die Tänzer wie anonyme Individuen in einer Grossstadt, der Tanz entsteht quasi aus dem Gehen von Passanten.

Stets hat Robbins neue Elemente in den Tanz gebracht, Alltägliches und Unerwartetes, aber als er 1969 nach jahrelanger Arbeit am Broadway zu Balanchines Compagnie zurückkommt, da sucht er die reine Ballettessenz. Während die USA im Vietnamkrieg kämpfen und in New York der zeitgenössische Tanz eines Merce Cunningham triumphiert, kehrt Jerome Robbins zur reinen Klassik zurück: Die einstündigen Dances at a Gathering zu Klavierpiecen von Chopin gelten vielen als sein Opus magnum, und manchen Tanzliebhabern sogar als das schönste Ballett überhaupt. Leicht und lyrisch fliesst purer Tanz in unendlichem Reichtum, eine zarte Melancholie der Erinnerung liegt über dem Stück, das die Freundschaft und, mit einem ungewissen Gruss hinauf in den blauen Himmel, das auf ewig verlorene Glück der Jugend feiert. Robbins choreografierte auch danach weiter zu den feinen Miniaturen von Chopin, zu Nocturnes, Mazurken oder Walzern. Wie ein Kammerspiel zeigt In the Night drei Grossstadtpaare in verschiedenen Stadien ihrer Beziehung, von der beginnenden Liebe über die elegante Gefasstheit bis zum leidenschaftlichen Konflikt. Der Choreograf durchleuchtet Beziehungen auf ihre Feinheiten und übersetzt gerade deren subtile, unaussprechlichen Elemente in Tanz; Cathy Marstons Vorvorgänger Heinz Spoerli holte dieses Stück 2011 nach Zürich. Der lange Pas de deux Other Dances entstand 1976 für die Superstars Natalia Makarova und Mikhail Baryschnikow und stellt erneut das Spiel der Tänzer mit der Musik, ihre Sensibilität und Lyrik heraus.

Was später kommt, ist manchmal nicht mehr ganz so herausragend – die langen Goldberg Variations oder das jiddisch geprägte Dybbuk, wieder zu Musik von Leonard Bernstein. Stets aber ist die Musik die direkte Inspiration der Schritte, Tanzen ist bei Robbins fast immer etwas Natürliches, das spontan aus dem Menschen herausfliesst – in der West Side Story oder im ersten Solo von Dances at a Gathering etwa entsteht der Tanz quasi beiläufig aus dem Gehen heraus, wie ein Impuls aus dem Inneren, ähnlich in Glass Pieces.

Betrachtet man das gesamte Œuvre, so dürfte es kaum einen Choreografen mit einem grösseren Vokabular, einer reicheren Stilvielfalt geben. Vom dramatischen Einakter bis zur abstrakten Bewegungsstudie, vom fingerschnippenden Jazz bis zur feinsten Spitzenschuh-Lyrik, vom Modern Dance bis zur albernen Parodie findet sich hier alles, handwerklich perfekt und mit untrüglichem Spürsinn für Effekt und Wirkung. Robbins konnte Bach und Strawinsky, Charleston und Mambo, seine Puertoricaner tanzen so authentisch wie seine orthodoxen Juden oder die Kinderschar des Königs von Siam. Sein Showtanz ist echter Showtanz, nicht akademische Klassik im Musical. Mit Fancy Free gab er 1944 seinen Landsleuten ein originär amerikanisches Ballett, was neben George Balanchines eher akademischen Werken enorm wichtig für die Weiterentwicklung dieser Kunst war, für ihre Verankerung in der Neuen Welt.

Robbins schuf Preziosen, ja eigentlich waren es Rituale – denn falls ein Tänzer nur einen Gedanken während des Stücks falsch dachte, schrie ihn der Choreograf hinterher an. Er konnte seine Interpreten zutiefst verletzen und beschämen, während der McCarthy-Ära bezichtigte er vor dem «Ausschuss für unamerikanische Aktivitäten» seine Freunde als Kommunisten. «Wenn ich in die Hölle komme, dann werde ich keine Angst vor dem Teufel haben. Denn ich habe mit Jerome Robbins gearbeitet», wird ein Solist des New York City Ballet zitiert. Der Choreograf war ein derartiger Perfektionist, dass er für die maximale Qualität seiner Werke Menschen quälen konnte – so schlimm, dass sich die Kritikerin Mindy Aloff fragte, ob «die Summe seiner Werke die Kosten an Menschlichkeit wert waren, die sie einforderten». Was Robbins absolut nicht ertragen konnte, waren Mittelmass und fehlendes Handwerk: «Ich finde, dass jemand, der das Theater nicht wie ein Wahnsinniger liebt, hier nicht sein sollte.»

Im internationalen Musical wird bis heute sein Erfindungsreichtum verehrt, die West Side Story ist zum Repertoire-Klassiker geworden, wurde von Steven Spielberg neu verfilmt und 2020 von einem echten Avantgarde-Team am Broadway (wieder einmal) neu inszeniert, von Regisseur Ivo van Hove und der belgischen Choreografie-Ikone Anne Teresa de Keersmaeker. Als Ballettchoreograf vereinte Jerome Robbins einen Instinkt für die Gegenwart mit der Neugier auf die Moderne und einem tiefen Respekt für die Vergangenheit. Bei allen Konflikten mit seinen Interpreten gab er ihnen erfindungsreiche, herausfordernde, oft genug wunderbare Schritte zu tanzen, über deren Einstudierung heute ausgesuchte Interpreten von damals wachen. Die Einnahmen aus seinen Balletten immerhin hat Robbins kultur- und damit auch menschenfreundlich verteilt, sie werden über seine Stiftung an zahlreiche, auch kleinere amerikanische Tanzcompagnien, Theater, Akademien und Bibliotheken vergeben.

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 105, September 2023.
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Hintergrund


Ich will noch viel mehr über mich erfahren

Brandon Lawrence ist seit dieser Spielzeit Erster Solist am Ballett Zürich. Zielstrebig hat er seine Karriere über Yorkshire, die renommierte Londoner Royal Ballet School und das Birmingham Royal Ballet aufgebaut. Jetzt ist er nach Zürich gewechselt, um seinen reichen künstlerischen Erfahrungen weitere hinzuzufügen. Ein Porträt von Michael Küster

Umzüge können ganz schön stressig sein! Brandon Lawrence kann ein Lied davon singen. Im Sommer ist er von Birmingham nach Zürich gezogen. Es ist das erste Mal, dass er ausserhalb von Grossbritannien wohnen wird, und tatsächlich erweist es sich als Herausforderung, ein komplettes Leben ins Ausland zu verschiffen: «In meiner Birminghamer Wohnung hatten sich im Laufe von zwölf Jahren viele Dinge angesammelt, und für den Umzug musste ich wirklich über jedes einzelne Teil entscheiden. Das war schwer! Aber am Ende habe ich sechs grosse Kisten nach Zürich vorausgeschickt und den Rest in einem Lagerhaus verstaut. Gerade mache ich die angenehme Erfahrung, dass ich nur ganz wenige Dinge davon wirklich vermisse. Manchmal muss man einfach nur loslassen!»

Brandon ist einer von neunzehn neuen Tänzerinnen und Tänzern, die Zürichs Ballettdirektorin Cathy Marston in ihre Compagnie engagiert hat. Ab 6. Oktober 2023 wird er als neuer Erster Solist im Ballettabend Walkways zu erleben sein. Damit beginnt ein neues Kapitel in einer Biografie, in der das Tanzen seit frühester Kindheit die Hauptrolle spielt. Wenn Brandon an diese Jahre in Bradford zurückdenkt, kommt ihm zuerst die Musik in den Sinn, die ihn den ganzen Tag umgibt: «Seit ich acht bin, habe ich im Haus und im Garten getanzt. Pausenlos habe ich versucht, die Musikvideos aus dem Fernsehen nachzumachen.» Neben den Hits von Michael Jackson sind es die weihnachtlichen, typisch britischen Pantomime-Aufführungen, die seine Lust am Theater entfachen und in Brandon den Drang erwecken, selbst auf der Bühne zu stehen. Deshalb ist es nur eine Frage der Zeit, dass seine Mutter ihn in einer Tanzschule anmeldet, und es wird nicht die letzte sein. Nur einmal in der Woche, am Samstag zu tanzen, ist bald nicht mehr genug: Brandon will mehr, findet Gefallen an der Herausforderung, der Disziplin, dem Streben nach Perfektion. Trotzdem hat er nicht das Gefühl, in seiner Kindheit etwas verpasst zu haben. Er lacht: «Zum Glück bin ich noch in einer Zeit ohne Smartphones und ohne soziale Medien aufgewachsen. Ich hatte genug Zeit, um Fahrrad zu fahren, auf Bäume zu klettern oder mit meinen Rollerblades unterwegs zu sein». Mit einem Stipendium nimmt er an den Yorkshire Ballet Seminars teil. Dort ist es die ehemalige Ballerina Marguerite Porter, die ihn unter ihre Fittiche nimmt und ihn zur Aufnahmeprüfung an der Royal Ballet School in London anmeldet. Dann geht alles ganz schnell: «Ich erinnere mich, dass das Vortanzen an einem Dienstag stattfand. Sie sagten, ich könne am kommenden Samstag an der Schule anfangen.» Also schnell zurück nach Yorkshire, die Sachen gepackt, und vier Tage später beginnt das grosse Abenteuer in einer völlig neuen Umgebung. Romantik pur! Die Londoner Schule liegt idyllisch in Richmond Park und ist in einem alten Jagdschloss untergebracht. «Hier mit Gleichgesinnten zusammen zu sein, die alle das gleiche Ziel hatten, war fantastisch. Ich fühlte mich absolut am richtigen Ort.» Brandon ist gut darauf vorbereitet, plötzlich für sich selbst verantwortlich zu sein. Als Scheidungskind hat er früh gelernt, zu kochen, zu waschen oder sein Bett zu machen. Jetzt geht es darum, den Tag optimal zu strukturieren und für sich das richtige Mass von Trainings- und Erholungsphasen zu definieren. «Damals», sagt er, «habe ich gelernt, mich zu fokussieren und auf das Wesentliche zu konzentrieren.» Schon im dritten Jahr an der Royal Ballet School, weiss er genau, wo einmal sein Platz sein soll. Es zieht ihn zum Birmingham Royal Ballet. Dem damaligen Direktor David Bintley ist Brandon schon während dessen Besuchen an der Royal Ballet School aufgefallen, und er bietet Brandon schliesslich einen Vertrag an. Vom Sommer 2011 an wird die Millionenstadt in den West Midlands für die nächsten zwölf Jahre Brandons neue Heimat sein.

1946 aus dem einstigen Sadler’s Wells Ballet hervorgegangen und mit dem Londoner Royal Ballet verbunden, hat die inzwischen unabhängige Compagnie seit 1990 ihren Sitz in Birmingham und gehört heute zu den fünf grössten Compagnien Grossbritanniens – mit einer langen Aufführungstradition für klassisches Handlungsballett und einem rastlosen Gastierbetrieb im In- und Ausland. Neben den Choreografien von David Bintley hat das Birmingham Royal Ballet legendäre Produktionen von Frederick Ashton und Kenneth MacMillan im Repertoire. Brandon hat in allen getanzt! «David Bintley», erinnert er sich, «hat mir so viele Auftrittsmöglichkeiten gegeben! Er hat immer an mich geglaubt, noch ehe ich selbst wusste, dass ich für eine Rolle bereit war. Dabei war er sehr geduldig, wenn es darum ging, einen Tänzer seinen Weg finden zu lassen. Von Davids choreografischer Erzählkunst habe ich sehr profitiert. Wie man einem Rollenporträt Menschlichkeit einhaucht, habe ich von ihm gelernt.» Auch Bintleys Nachfolger Carlos Acosta, einst selbst ein legendärer Tänzer, fordert seinen Principal immer aufs Neue heraus. Ausserdem arbeitet er mit Choreografen wie Jessica Lang, George Williamson und Didi Veldman zusammen. Die Fotos im Internet zeigen Brandon in einer beeindruckenden Sammlung von Helden, Prinzen und Herzensbrechern. Doch schon früh wird Brandon klar, dass auch Helden und Prinzen ohne die richtigen künstlerischen Partner ganz schön einsam sein können. Zum Glück gibt es Künstlerinnen wie die neuseeländische Tänzerin Delia Mathews oder die Kanadierin Céline Gittens, mit denen Brandon in vielen beglückenden Aufführungen auf der Bühne steht: «Die Menschen, mit denen man tanzt, sind für die eigene Laufbahn unglaublich wichtig, weil wir so viel von ihnen lernen können. Tanzen ist immer ein Geben und Nehmen – ein Miteinander, bei dem man über sich selbst hinauswachsen kann und das einen die eigenen Grenzen überschreiten lässt.»

Genau dieser Punkt führt Brandon dann auch zu dem Entschluss, seiner Tänzerlaufbahn noch ein neues Kapitel hinzuzufügen: «In Grossbritannien ist eine Position als Principal Dancer im Royal Ballet für viele Tänzer das Ziel aller Sehnsüchte. Doch ehrlich gesagt, reicht mir das nicht. Für die Birminghamer Erfahrungen werde ich ewig dankbar sein, aber ich merke, dass ich noch viel mehr über mich erfahren, dass ich weiterforschen und noch einmal mit neuen künstlerischen Partnern arbeiten möchte. Auch stilistisch habe ich lange noch nicht alles getanzt, was ich gern möchte.»

Mit Anfang Dreissig denkt Brandon natürlich längst über die Zeit nach seiner aktiven Tänzerkarriere nach und kann sich da bereits vieles vorstellen: Tanzcoach, Kurator oder gar Ballettdirektor? Nichts ist unmöglich, aber erst einmal kommt Zürich. Brandon hat leuchtende Augen, als er über das vielseitige Zürcher Repertoire und die Herausforderungen spricht, die dort hoffentlich auf ihn warten. Begeistert erzählt er von den ersten Wochen in seiner neuen Compagnie und der Arbeit an den Choreografien von Wayne McGregor, Jerome Robbins und Cathy Marston. Arbeiten der neuen Zürcher Ballettdirektorin hat Brandon beim Northern Ballet und beim Royal Ballet in London gesehen, er war fasziniert von Jane Eyre und The Cellist. In Zürich nun selbst in ihren Stücken zu tanzen, sei eine tolle Herausforderung: «Ich freue mich riesig auf unsere Zusammenarbeit. Künstlerisch sind Cathy und ich sehr auf einer Wellenlänge.»

«Was bekommen Choreografen von Brandon Lawrence?», frage ich ihn, und seine Antwort fällt knapp aus: «Wiederholungen!», lacht er. «In den Proben und in einem choreografischen Prozess bin oft ich derjenige, der sagt: Komm, lass uns das noch einmal machen! Das Resultat einer Arbeit liegt mir immer sehr am Herzen, und manchmal dauert es, bis ich selbst wirklich zufrieden bin. Wir Tänzer sind keine Maschinen mit Perfektionsgarantie, deshalb knie ich mich gern mit besonderer Sorgfalt in einen choreografischen Prozess hinein und feile so lange, bis es für mich stimmt.» Von prägenden Erlebnissen und Erfahrungen aus seinem Tänzerleben berichtet Brandon regelmässig im Podcast Open Barre. Während der Corona-Pandemie hat er ihn gemeinsam mit der Tanzautorin Julia Dixon ins Leben gerufen, und inzwischen haben die erfrischenden Insider-Gespräche, die die beiden zu unterschiedlichsten Themen aus der Ballettwelt führen, eine grosse Fangemeinde.

Zürich und die Schweiz als seine neue künstlerische Heimat zu entdecken, erlebt Brandon gerade als grosses Abenteuer. Eine der ungewöhnlichsten Erfahrungen sind die Opernklänge, die jeden Tag durch die Flure des Opernhauses schallen. Das gab es in Birmingham nicht! Von der Probenatmosphäre in seiner neuen Compagnie ist er begeistert: «Mir gefällt diese tolle Mischung aus ganz unterschiedlichen Leuten. Die neuen Tänzerinnen und Tänzer ergänzen sich sehr gut mit denen, die schon vorher da waren. In den drei Stücken von Walkways findet, glaube ich, jeder von uns etwas für sich. Triple Bills sind eine tolle Sache, wenn sie so abwechslungsreich sind wie dieses Programm. Da kann man drei verschiedene Tanzstile an einem Abend erleben. Es gibt die bewegende Geschichte in Snowblind von Cathy Marston, wo man seine narrativen Fähigkeiten abrufen muss. Ich bin einer der Darsteller des Farmers Ethan Frome, und als Mann zwischen diesen beiden sehr unterschiedlichen Frauen, Zeena und Mattie, muss ich mir sehr bewusst machen, wie ich das Verhältnis zu jeder der beiden auf unterschiedliche Weise tänzerisch beglaubigen kann. Wayne McGregors Infra ist heute schon fast ein ikonografisches Stück. 2008 habe ich die Uraufführung in Covent Garden gesehen, damals war ich noch Schüler an der Royal Ballet School. Ich hätte nie gedacht, dass ich selbst einmal in diesem Stück tanzen würde. Und die Glass Pieces von Jerome Robbins mit der geradezu süchtig machenden Musik von Philip Glass sind einfach ein Traum! Dort habe ich im zweiten Teil einen herrlichen Pas de deux voller Reinheit, den ich mit Elena Vostrotina tanzen darf. Was für ein Glück! Visuell, aber auch musikalisch ist dieses ganze Programm ein Festmahl. Ich kann es kaum erwarten, auf die Bühne zu kommen!»

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 105, September 2023.
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Max Richter

Max Richter stammt aus den USA und tanzte nach der Ballettausbildung an der International City School of Ballet im Houston Ballet. Wichtige Rollen während des Engagements in Houston waren Angel in Cathy Marstons «Summer and Smoke», Odette/Odile in Stanton Welchs «Schwanensee» sowie Solopartien in Balletten von Ben Stevenson, Arthur Pita und Aszure Barton. Seit dieser Saison ist Max Richter Mitglied des Balletts Zürich.

Aus welcher Welt kommst du gerade?
Direkt aus den Vereinigten Staaten. Die letzten neun Jahre habe ich in Houston, Texas, gelebt und dort im Houston Ballet getanzt. Von dort bin ich im Sommer in die Schweiz gezogen und bin sehr gespannt, wie dieses neue Kapitel meines Lebens verlaufen wird.

Was macht das Ballett Zürich für dich zu etwas Besonderem?
Ich entdecke das Ballett Zürich gerade als sehr kreatives Umfeld und als einen sicheren und vorurteilsfreien Raum, wo ich jeden Tag aus meiner Komfortzone geholt werde. Da wir als Tänzerinnen und Tänzer alle sehr unterschiedlich sind, kann ich mich auf vielfältigste Weise inspirieren lassen.

Worauf freust du dich in Walkways, unserem neuen Ballettabend?
Cathy Marston, Wayne McGregor und Jerome Robbins an einem Abend! Was für eine tolle Idee! Jede der drei Choreografien ist auf ihre Weise einzigartig und unverwechselbar. Es ist ein Privileg, dass ich in diesem Programm mein Debüt mit dem Ballett Zürich geben darf.

Welches Bildungserlebnis hat dich besonders geprägt?
Zu erkennen, wie wichtig Selbstvertrauen für die künstlerische Freiheit und das künstlerische Wachstum sind. Ich geniesse es mit Menschen zu arbeiten, die mich so nehmen, wie ich bin und für die ich mich nicht in irgendeiner Weise verbiegen muss

Welches Buch würdest du niemals weggeben?
Es ist ein Buch der US-amerikanischen Autorin Brené Brown. Sie erforscht zwischenmenschliche Verbindungen – unsere Fähigkeit für Empathie, Zugehörigkeit, Liebe. In Braving the Wilderness erläutert sie, wie man seinen Platz im Leben findet und wie wichtig es ist, sein wahres Ich und die eigene Verletzlichkeit zu akzeptieren.

Von welcher Musik bekommst du nie genug?
Die Songs der US-amerikanischen Singer-Songwriterin Taylor Swift kann ich immer wieder hören. Mich fasziniert, wie sie ihre persönlichen Erfahrungen in sehr einfühlsame Texte von grosser Tiefe und Sinnhaftigkeit kleidet.

Welchen überflüssigen Gegenstand in deiner Wohnung magst du am meisten?
Meine Pflanzen, auch wenn ich sie absolut nicht für überflüssig halte und mich gern um sie kümmere. Sie wachsen und sich verändern zu sehen, bringt das Gefühl von Leben in mein Zuhause.

Mit welcher Persönlichkeit würdest du gern einmal zu Abend essen?
Es wäre mir eine Ehre, den deutschen Komponisten Max Richter zum Essen zu treffen. Schon lange bin ich ein grosser Fan von ihm und freue mich natürlich sehr, dass das Ballett Zürich in Wayne McGregors Stück Infra zu Musik von ihm tanzen wird. Ich würde Max Richter fragen, woher er die Inspiration zu seinen Kompositionen bezieht.

Wie wird die Welt in 100 Jahren aussehen?
In 100 Jahren kann hoffentlich jeder Mensch in der Version von sich leben, die ihn am glücklichsten macht.

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 105, September 2023.
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Audio-Einführung zu «Walkways»