Peer Gynt
Ballett von Edward Clug
Nach dem gleichnamigen Drama von Henrik Ibsen
Musik von Edvard Grieg (1843-1907)
Dauer ca. 2 Std. 10 Min. inkl. Pause nach ca. 50 Min. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.
Die Einführungsmatinee findet am 15. Mai 2022 statt.
Partnerin Ballett Zürich
Gut zu wissen
Interview
Edward, das Ballett Zürich tanzt zum Ausklang dieser Spielzeit dein Ballett Peer Gynt, das auf dem Drama von Henrik Ibsen basiert. Was ist das Besondere an diesem Jungen aus dem norwegischen Gudbrandsdal?
Peer Gynt ist mit einer unbändigen Fantasie ausgestattet. Ein Fantast, ein Abenteurer, ein Getriebener, ein Ich-Sucher – das ist ein Leben für die grosse Bühne! In Ibsens Drama durchläuft Peer Gynt eine aufregende Lebensreise voller Höhen und Tiefen. Was für ein Stoff! Viele Theaterregisseure, aber vor allem auch Choreografen konnten der Anziehungskraft diesen Ibsenschen Bilderbogens nicht widerstehen. Ich bin da also keine Ausnahme.
Dein Ballett Peer Gynt kam 2015 beim Slowenischen Nationalballett in Maribor heraus. Wie kam es dazu?
Nachdem ich am Anfang meiner choreografischen Laufbahn zunächst kurze Stücke choreografiert hatte, wurde das erzählerische Moment in meinen Arbeiten allmählich immer wichtiger. Nach meiner Romeo und Julia-Version, die 2005 unter dem Titel Radio and Juliet in Maribor herauskam, aber auch nach Le Sacre du printemps erhielt ich von mehreren Compagnien Anfragen nach einem abendfüllenden Handlungsballett. 1991, da war ich gerade zum Mariborer Ballett gekommen, tanzte ich in einer Peer Gynt-Version von Waclaw Orlikowsky. Er hatte zu Edvard Griegs Peer Gynt-Suiten choreografiert, und ich weiss, wie beeindruckt ich damals von dieser Musik war. Sie war der Auslöser, mich erneut mit Ibsens Drama zu beschäftigen. Bei der Lektüre hat mich die unwiderstehliche Mischung aus Naturalismus, Realismus, Absurdem und Metaphysischem in Ibsens Text begeistert, und vor allem die Fantasy-Momente haben mich als Choreograf inspiriert.
Peer Gynt verdankt seinen Ruhm zum grossen Teil der Bühnenmusik von Edvard Grieg. Welche Rolle spielt sie in deinem Ballett?
Ibsen und Grieg haben bei der Uraufführung von Peer Gynt in Christiania, dem heutigen Oslo, im Jahre 1876 zusammengearbeitet. Grieg hat eine Bühnenmusik komponiert, deren eingängigste Nummern er später in zwei Orchestersuiten zusammenfasste. Im Konzertsaal begann dieses «Best of Peer Gynt» bald, ein höchst erfolgreiches Eigenleben zu führen. Bei meinen Überlegungen, wie Grieg und Ibsen in meine Ballettfassung integriert werden könnten, sah ich mich mit einer Reihe von Problemen konfrontiert. Da war zum einen der komplexe, zeitlos und universell wirkende Ibsen-Text, auf der anderen Seite Griegs sehr genau verortete Musik. Immer wieder konkretisiert sie romantische Landschaften, die unabhängig von Ibsens Bühnenuniversum in einer Parallelwelt entstehen. Im Grunde haben beide – der Dramatiker und der Komponist – ihre eigene Version von Peer Gynt begründet. Mein Ziel war es, die Hürden zwischen beiden Versionen zu überbrücken. Meinen eigenen Peer Gynt zu schaffen und mich der Figur noch einmal aus der Perspektive des Tanztheaters zu nähern. Meine Inszenierung folgt in ihrer Chronologie der von Ibsen vorgesehenen Abfolge der Ereignisse. Im Sinne einer dynamischen und kohärenten Erzählung habe ich weitere Grieg-Werke in meine Musikauswahl einbezogen.
Welche sind das, und wie hat diese Musikzusammenstellung deine Choreografie beeinflusst?
Neben zwei Sätzen aus dem Klavierkonzert gibt es zum Beispiel Ausschnitte aus Griegs Erstem Streichquartett, aus der Holberg-Suite und aus den Lyrischen Stücken für Klavier. In diesem geweiteten Grieg-Universum konnte ich meine Ballettversion mit einer grossen Freiheit entwickeln und Ibsens Vorgaben theatralisch akzentuieren. Peer Gynt ist ständig auf der Flucht vor sich selbst, glaubt aber immer fest daran, auf dem richtigen Weg zu sein. Die Grenzen zwischen Fantasie und Realität sind fliessend, und gerade ein so berühmtes Stück wie die Morgenstimmung, die einen Sonnenaufgang über der Sahara schildert, eignet sich gut, um diesen Fantasy-Gedanken zu transportieren.
Wie in Ibsens Drama begleiten wir Peer Gynt in deinem Ballett auf seiner Lebensreise. Als jungem Mann begegnen wir ihm in der norwegischen Bergwelt und folgen ihm in das Königreich der Trolle. Wir finden ihn an der Küste Marokkos und in einem Irrenhaus in Kairo. Als alter Mann ist er zurück in Norwegen und bei seiner Jugendliebe Solveig, die ein Leben lang auf ihn gewartet hat. Was bringt der Tanz in diese Lebenserzählung hinein?
Die Sprunghaftigkeit von Ibsens Stück scheint einer Traumlogik zu folgen, die mich gelegentlich an expressionistische Dramen erinnert. Man muss sich klar werden, dass die äusseren Stationen lediglich eine Dimension des Ganzen verkörpern. Peer Gynt ist auch auf einer inneren Reise. Ich musste einen Weg finden, gerade seine innere Befindlichkeit mit dem choreografischen Material zu zeigen, das ich für ihn entwickelt habe. Ibsen lässt seinen Titelhelden in grossangelegten Monologen über ihm Unfassbares, häufig sein Unterbewusstes, reflektieren. In Entsprechung zu Peer Gynts Leben, das wie in einem Kreis verläuft, hat unser Bühnenbildner Marko Japelj eine ellipsenförmige Strasse kreiert, auf der sich das Geschehen abspielt. Der Tanz ergibt sich darauf als Konsequenz der äusseren Situation. Er ist mein Werkzeug, um Peer Gynts innere Verwandlungen zu erzählen.
Du hast erwähnt, dass sich in Peer Gynt unentwegt Realität und Fantasie gegenüberstehen. Ibsen hat sein Stück zunächst als Lesedrama und nicht für die Bühne konzipiert, und für einen Leser ist es kein Problem, Peer Gynt an jeden Ort der Welt und seiner Fantasie zu folgen. Aber lässt sich das auf das Ballett übertragen?
Nur bis zu einem gewissen Punkt. Ich habe gemerkt, dass ich mich irgendwann auch von Ibsen lösen, an einigen Stellen reduzieren und Schlüsselelemente als eine Art Orientierungshilfe erfinden muss. Ich habe Peer Gynt eine Todesfigur an die Seite gestellt. Der Tod wird zu seinem Reisebegleiter, den er zwar immer wieder auszutricksen versucht, dem er aber nicht entkommen kann. Als zweite metaphorische Figur gibt es den weissen Hirschbock, von dem Peer Gynt im Drama seiner Mutter Åse erzählt. Über steile Gebirgsklüfte will er auf ihm geritten sein. Für diesen Hirsch habe ich mit Hilfe zweier Krücken eine besondere choreografische Lösung gefunden, er wird zum Symbol für Peer Gynts Fabulierkunst.
In Peer Gynt werden wir Zeugen, wie der Titelheld einen Lebensentwurf nach dem anderen abstreift wie eine Schlange ihre Häute. Nach jedem Scheitern steht er an neuem Ort wieder auf. Er ist ein ruheloser Weltenwanderer mit einem einzigen Credo: Um mich muss es sich drehen, mein ganzes Leben. Ibsen stellt die Frage, ob es reicht, «sich selbst genug» zu sein und ob man schliesslich doch zu sich selbst finden kann. Wie gelingt das Peer Gynt?
Es ist ein langer Weg, bis Peer Gynt zu dieser Erkenntnis kommt. Der Tod hat ihn bereits den eigenen Sarg ausprobieren lassen, ehe Peer bewusst wird, dass er auf der Jagd nach einem Leben voller Abenteuer all die Dinge weggeworfen hat, die im Leben wirklich zählen. In Ibsens Drama gibt es die grossartige Passage, in der sich Peer mit einer Zwiebel vergleicht, von der man Haut für Haut abstreift und am Ende auf ein Nichts stösst. Die Krone, die er sich im Irrenhaus von Kairo aufsetzt, wird zum Symbol für seinen Ehrgeiz und sein ungestilltes Verlangen. Es ist der Moment, in dem er zerbricht. Dass dieses Leben dennoch nicht umsonst war, verdankt er Solveig. Sie hat ein Leben lang auf ihn gewartet, und ihre ultimative Liebe vermag Peer Gynts Leben am Ende, wenn Solveig – in unserer Ballettfassung mit ihrem Haus – zu ihm kommt, doch noch eine Bestimmung zu geben.
Solveig ist nicht die einzige Frau, der Peer Gynt auf seiner Reise begegnet. Neben seiner Mutter Åse kreuzen auch die verheiratete Ingrid, drei verführerische Sennerinnen, die Tochter des Bergkönigs und die Wüstenbewohnerin Anitra seinen Weg. Welchen Widerhall finden sie in deiner Choreografie?
Diese Begegnungen verleihen der Geschichte eine Leichtigkeit. Ich habe versucht, diese Frauen über die Reaktionen Peers zu charakterisieren. Er verhält sich zu jeder dieser Frauen anders, das hat beim Choreografieren grossen Spass gemacht.
Nach seiner Uraufführung in Maribor war dein Peer Gynt in Riga, Nowosibirsk und an der Wiener Staatsoper zu sehen. Was erhoffst du dir für die Aufführungen in Zürich?
Die Rolle des Peer Gynt verlangt nach einem grossartigen Tänzer, der auch über aussergewöhnliche darstellerische Fähigkeiten verfügen muss. Selbstvertrauen ist gefragt, aber auch das Wissen, wie man den eigenen Körperausdruck dosiert und im Sinne einer kohärenten Erzählung einsetzt. Die Arbeit mit dem Ballett Zürich ist nach vielen beglückenden Momenten der Zusammenarbeit fast eine Art Heimspiel für mich. Nach den Erfahrungen aus Faust hatte ich meine Peer Gynt-Besetzung fast vollständig im Kopf. Ich wusste sofort, wer wer sein wird, und meine Erwartungen haben sich nach einigen gemeinsamen Proben auf das Schönste erfüllt. Zürich ist der richtige Ort, um dieses Ballett neu zu inszenieren.
Das Gespräch führte Michael Küster
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 92, April 2022.
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Pressestimmen
«Es ist eine Erfolgsstory, wie sie heute in der Tanzwelt nicht mehr allzu häufig vorkommt»
NZZ, 25.05.22«Ein Meisterwerk, wie sich jetzt bei der Premiere des Balletts Zürich zeigte. Und meisterhaft getanzt»
tanznetz.de, 22.05.22
Auf der Couch
Im Volksmärchen ist es oft der jüngste Sohn, den alle den Dummling nennen, der sich aus einer engen Welt herausträumt. Auch in den norwegischen Feengeschichten, die der Förster Peter Christen Asbjørnsen ganz im Geist der Brüder Grimm sammelte, ist Peer Gynt eine solche Figur. Er wäre längst vergessen, hätte nicht Henrik Ibsen in einem grossen Versdrama aus ihm eine vieldeutige Figur geschaffen, die noch heute in psychologischen Textbüchern auftaucht, wenn Autoren nach einem Bild für das Rätsel der menschlichen Identität suchen. Wie finden wir sie? Gibt es sie überhaupt? Nein, antworten Gynt/Ibsen: Die Persönlichkeit gleicht einer Zwiebel – lauter Hüllen, Masken, aber kein fester Kern. Die moderne Identität ist ein Patchwork, sagt der Sozialpsychologe Heiner Keupp.
Peer Gynt ist ein Gemisch aus Baron Münchhausen und Faust, ein Tagträumer, der in einer Hütte lebt, aber sich in ein Schloss und diverse Heldentaten hineinerzählt, nicht anders als Karl May, der im Zuchthaus sass und gleichzeitig als Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi Abenteuer mit wilden Tieren und Menschen erlebte. Unschwer finden wir in solchen Tagträumen die Nähe zum kindlichen Spiel, in dem es doch vor allem darum geht, gross, stark, erwachsen, ja mehr als erwachsen zu sein: ein Held, stärker und mächtiger als Trolle und Dämonen.
Freud beschäftigte sich in einem kleinen Essay, Der Dichter und das Phantasieren, mit dem Unterschied zwischen dem kindlichen Spiel und den in ihrem Inhalt ganz ähnlichen Fantasien Erwachsener, die doch auch Dichtern ihre Stoffe liefern. Das Kind schämt sich nicht, es findet unbefangenen Genuss an seinen fantastischen Produktionen. Ich erinnere mich an einen kleinen Jungen, der auf seinem Fahrrad strampelte und lauthals schrie: «Ich bin ein Motorrad, ich fahre hundert!» Anders der Erwachsene, bemerkt Freud: «Dieser weiss einerseits, dass man von ihm erwartet, nicht mehr zu spielen oder zu fantasieren, sondern in der wirklichen Welt zu handeln, und andererseits sind unter den seine Fantasien erzeugenden Wünschen manche, die es überhaupt zu verbergen not tut; darum schämt er sich seines Fantasierens als kindisch und als unerlaubt.»
Wer glücklich ist, fantasiert nicht, das tut nur der Unbefriedigte. Seine Fantasie will eine kränkende Wirklichkeit korrigieren. Peer Gynt ist in diesem Unterdrücken recht unvollkommen, er erlaubt sich so allerhand, vom Brautraub bis zum Sex mit TrollTöchtern. Die Liebe Solveigs, die es ehrlich mit ihm meint, kann seinen Hunger auf Grösse und Abenteuer nicht stillen. Er verlässt sie; wir begegnen ihm wieder als reichem Kaufmann in Marokko. Peer Gynt kann das Träumen nicht lassen, riskiert zu viel und verliert. Wie Odysseus landet er endlich schiffbrüchig an heimischer Küste. Dämonen schachern um seine Seele. Solveig rettet ihn: in ihrer Liebe hat sie ihn immer bei sich bewahrt, und da diese Liebe rein ist, trägt auch Peer Gynt keinen Makel. Ibsens Kritik an Doppelmoral und erlogener Grandiosität setzt nicht auf Emanzipation, sondern auf romantische Liebe.
Text: Wolfgang Schmidbauer, Psychoanalytiker und Buchautor
Illustration: Anita Allemann