Nachtträume
Ein Stück von Marcos Morau
Dauer ca. 1 Std. 35 Min. Keine Pause. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.
Partnerin Ballett Zürich
Vergangene Termine
September 2022
Oktober 2022
November 2022
Gut zu wissen
Aufgrund riesiger Nachfrage veranstalten wir am Donnerstag, 23. November um 19.00 Uhr eine Zusatzvorstellung. Jetzt buchen!
Nachtträume
Kurzgefasst
Nachtträume
Unvergessliche Bilder von fotografischer Intensität sind das Markenzeichen von Marcos Morau. In den letzten Jahren hat sich der spanische Choreograf mit seinen surrealen Inszenierungen einen Namen gemacht und ist gefeierter Gast bei den renommiertesten internationalen Tanzfestivals. 2005 gründete Marcos Morau die in Barcelona beheimatete Compagnie «La Veronal» – ein Künstlerkollektiv, das die Bereiche Tanz, Film, Fotografie, Schauspiel und Literatur vereint. Moraus Stücke ziehen das Publikum in bewegte, unlösbare Bilderrätsel hinein. Ständig drohen sie auseinanderzubrechen und sind doch gleichzeitig abgründig und höchst unterhaltsam. Dabei leben Moraus expressionistische Tableaux von einem Bewegungsvokabular, das schnell, filigran und voller Witz daherkommt. Tanz ist für ihn immer auch Theater und Science Fiction. Zum ersten Mal arbeitet Marcos Morau nun mit dem Ballett Zürich zusammen. Ausgangspunkt seiner neuen Kreation ist Der grüne Tisch, ein legendäres Tanzstück von Kurt Jooss aus dem Jahr 1932. Den Ersten Weltkrieg hatte der deutsche Choreograf seinerzeit als Totentanz dargestellt. Darin erschienen die Tänzerinnen und Tänzer als Typen, die anonymen Mächten ausgeliefert sind. Mächten, die am «grünen Tisch» über das Schicksal von Millionen entscheiden und zugleich jedes individuelle Schicksal negieren. Bei Kurt Jooss waren es zehn Herren im Frack, die mit fratzenhaften Masken über die politische Lage schwadronieren. Weitab von jeder Realität lässt es sich gut ertragen, über das Leben und Sterben anderer zu bestimmen. Neunzig Jahre nach Kurt Jooss fragt Marcos Morau in seinem neuen Stück Nachtträume nach den Machtstrukturen von heute. Sind wir dem Willen der Mächtigen ohnmächtig ausgeliefert? Wer entscheidet über die Befähigung zur Macht, und wer regiert die Welt?
Pressestimmen
«…ein tänzerisches Panoptikum und ein ambitioniertes Gesamtkunstwerk aus Tanz, Text, Musik und beeindruckenden Bildern»
NZZ, 03.10.22«Mich hat der Abend überwältigt»
SRF (Maya Künzler), 03.10.22«The dancers were nothing less than marvelous»
bachtrack.com, 01.10.22
Fragebogen
Marcos, mit deiner in Barcelona beheimateten Compagnie «La Veronal» bist du ein gefeierter Gast auf den grossen internationalen Tanzfestivals. Warum hast du deiner Compagnie den Namen eines Schlafmittels gegeben?
Dieser Name hat mit meiner Verehrung für Virginia Woolf zu tun. Ihre Art zu denken, die Art, wie sie Realität und Fiktion verbindet, begeistert mich immer aufs Neue. In Woolfs Biografie habe ich gelesen, dass sie mehrmals versucht hat, sich mit Veronal das Leben zu nehmen. Seinen Namen verdankt das Medikament einer wirklich verrückten Geschichte. Einer der Erfinder hatte das Mittel auf einer Zugreise an sich selbst ausprobiert und war nicht, wie geplant, in Basel, sondern in Verona angekommen. Er hatte durchgeschlafen! Städte und andere geografische Orte spielen in vielen meiner Stücke eine grosse Rolle, und es gibt in ihnen auch immer solche unerwarteten Wendungen. Kunst ist für mich keine Reproduktion des Lebens, sondern findet auf einer völlig anderen Ebene statt. So wie Veronal eine veränderte Wahrnehmung der Realität hervorruft, versuche ich in meinen Produktionen ebenfalls, die Wirklichkeit aus verschiedenen Perspektiven und Bewusstseinszuständen heraus zu reflektieren.
In den begeisterten Kritiken über «La Veronal» taucht immer wieder das Wort «Interdisziplinarität» auf. Das klingt schön, aber wie funktioniert das in der Praxis?
Für mich klingt dieses Wort inzwischen ein bisschen altmodisch, weil die Grenzen in der Kunst heute wirklich fliessend sind. Es spielt keine Rolle, ob man Tanz, Theater oder Oper, bildende oder performative Kunst macht. Am Ende geht alles ineinander über und kommt zusammen. Ich selbst bin kein Tänzer, weder ein professioneller noch ein nicht-professioneller. Ich widme mich dieser Aufgabe, ohne selbst Tanzerfahrung zu haben, aber das hindert mich nicht daran, die Tänzer zu führen und anzuleiten. Ich komme eher von der Fotografie und vom Theater. Die Bühne betrachte ich als einen Ort, wo alles miteinander im Konflikt steht. Dabei bin ich sehr wählerisch. Ich versuche, Bilder zu kreieren, die sich nach und nach mit einer Idee verbinden, allerdings nicht im Sinne eines konventionellen Tanzstücks. Ehrlich gesagt, fühle ich mich nicht als interdisziplinärer Künstler, sondern viel mehr als ein interdisziplinärer Mensch, der sich für die unterschiedlichsten Dinge begeistert. Das Theater ist für mich keine Insel, sondern steht in Zusammenhang mit einer Welt, die sich in ständiger Veränderung befindet. Das bedeute tnichts anderes, als dass alles möglich ist und dass ich mit meinen Ideen mein eigenes Universum erschaffen kann. «Der einzige Weg, meine Ängste loszuwerden, ist, Filme über sie zu machen.» So hat es Alfred Hitchcock einmal formuliert. Mit meinen Stücken geht es mir ähnlich.
Zum ersten Mal arbeitest du jetzt mit dem Ballett Zürich zusammen. Das ist eine Compagnie, die sich nicht nur in ihrer Stärke und Zusammensetzung, sondern auch in ihrer stilistischen Ausrichtung sehr von «La Veronal» unterscheidet. Welchen Einfluss hat das auf dein neues Stück?
Die Arbeit mit anderen Tänzerinnen und Tänzern eröffnet mir immer neue Wege der Kommunikation, es ist eine Herausforderung. Als Christian Spuck mich anrief, um mir ein neues Stück für das Ballett Zürich anzubieten, habe ich zugesagt. Ich mag es, mich in neue Dimensionen hineinzuversetzen und zu sehen, wie mein Team und ich mit Menschen zusammenzuarbeiten, die ihren Körper anders nutzen, weil sie einen anderen Hintergrund haben. Wie mutig werden sie, aber wie mutig werde auch ich selbst sein, sich einem Konflikt mit dem eigenen Körper und einer vertrauten Arbeitsweise auszuliefern? Für mich sind solche Herausforderungen die einzige Möglichkeit, um zu wachsen und mich zu verändern – das Scheitern inbegriffen. Die Arbeit mit einer grossen, neoklassisch geprägten Ballettcompagnie an einem Ort wie dem Opernhaus Zürich ist da schon etwas Besonderes, auch bei einem Publikum, das an diesem Ort der Hochkultur mit bestimmten Erwartungen in die Vorstellung kommt. Mir geht es nicht darum, Erwartungshaltungen zu bedienen. Ich möchte mit meiner Zeit und meiner Gegenwart in einen Dialog treten und dabei hoffentlich eingefahrene Sichtweisen hinterfragen und verändern.
Dein Stück trägt den Titel Nachtträume. Wovon handelt es?
Den Titel eines Stücks lege ich immer im Voraus fest. Er fungiert für mich als eine Art Leuchtturm im kreativen Prozess, in dessen Verlauf man in verschiedenste und manchmal auch völlig entlegene Dimensionen eintaucht. Träume sind auch in meinen Arbeiten mit «La Veronal» immer ein grosses Thema. In den Träumen ist alles möglich, die Welt kann auf dem Kopf stehen. Die Nacht ist der magische Ort, an dem die grossen Dinge passieren und die Intensität des Lebens zum Vorschein kommt. In Nachtträume setze ich mich mit dem Begriff der Macht auseinander. Welche Rolle spielt sie in den unterschiedlichen Bereichen des Lebens? Wie erfahren wir sie als Gesellschaft, als Liebende, als Politik, als Religion? Bezugspunkt ist mir dabei ein legendäres Stück von Kurt Jooss. Sein Ballett Der grüne Tisch wurde 1932 am Théâtre des Champs-Élysées in Paris uraufgeführt und gilt bis heute als ein Meilenstein in der Geschichte des Tanztheaters. Den Ersten Weltkrieg hatte der deutsche Choreograf seinerzeit als Totentanz dargestellt. Darin erschienen die Tänzerinnen und Tänzer als Typen, die anonymen Mächten ausgeliefert sind. Mächten, die am grünen Tisch über das Schicksal von Millionen entscheiden und zugleich jedes individuelle Schicksal negieren. Aus heutiger Sicht mag die Ästhetik des Stücks vielleicht skurril anmuten, aber seine Essenz finde ich hochaktuell. Es spricht von dem, was unter der Oberfläche einer Gesellschaft brodelt. Auf sehr hintergründige Weise erzählt Joos vom Schmerz der Realität zwischen den beiden Weltkriegen. Auf den ersten Blick denkt man an einen Witz oder an eine Parodie, doch darunter verbergen sich Abgründe. Die Themen, die Kurt Joos 1932 verhandelte, haben auch neunzig Jahre später nichts von ihrer Aktualität verloren.
Wer sind die Menschen, denen wir in deinem Stück begegnen?
In einer kabarettartigen, gelegentlich an Stummfilme erinnernden Atmosphäre werden die Tänzerinnen und Tänzer mit verschiedenen Ausprägungen von Macht konfrontiert. Es ist wie ein Tanz auf dem Vulkan, während draussen die Welt untergeht. Die Individualität der Protagonisten ist aufgehoben. Sie agieren marionettengleich und geraten in die unterschiedlichsten Situationen und Konflikte. Immer geht es um die Frage: Wer ist oben, wer ist unten? Wer steht im Licht, wer ist im Schatten? Wer ist die Marionette, wer zieht die Fäden? In Nachtträume ist es eine geheimnisvolle Königin, die zu einer grotesk-bizarren Party des Lebens lädt. Die Gäste lassen sich von ihr willig unterwerfen. Warum tun sie das? Um dazuzugehören und sich nicht einsam zu fühlen? Wir haben uns heute daran gewöhnt, die Macht und die Mächtigen zu kritisieren und in Frage zu stellen. Aber brauchen wir bestimmte Machtstrukturen nicht auch als Gerüst für unser Leben?
Du hast «Nacht», «Träume» und «Macht» als die grossen Themen in deinem Stück benannt. Wie verbindest du sie zu einem Ganzen, wie verläuft der Entstehungsprozess eines solchen Stücks?
Ähnlich wie im Kino arbeite ich mit einem Storyboard, einer Sammlung von Ideen und Bildern. Deren Anordnung variiere ich ständig, so dass ich den Spannungsbau und den Rhythmus des Stückes bis zur letzten Minute optimieren kann. Ich versuche, das Publikum über verschiedene Kanäle zu erreichen. Dabei ist das Bild wichtiger als Worte. Texte spielen zwar auch eine Rolle, aber ich benutze sie nicht konkret, sondern als parallele Möglichkeit, die Imagination des Publikums anzuregen. Die Art, wie man mit den Bildern spielt, ist für mich das alles Entscheidende. Wie viel Harmonie möchte ich haben? Wie komponiere ich Situationen? In welchem Verhältnis stehen Schönheit und Dunkelheit? Wie lasse ich ein Fest entstehen, was brauche ich für das Chaos? Wie verleihe ich den lustig-bizarren Traumelementen das Gefühl von Dunkelheit und Verlorenheit, das mir vorschwebt? Die Magie des modernen Theaters besteht für mich darin, dass ich die Symbole und die Ikonografie eines Stückes beeinflussen und in eine Richtung lenken kann. Es ist ein Spiel mit der Wahrnehmung, es ist ein Spiel mit der Kontrolle der Bilder, der Kontrolle der Charaktere und ihres Verhaltens zueinander. Ich möchte, dass man sich in diese Figuren verliebt, auch weil sie mit ihrer Eleganz, ihrer Schönheit und ihrer Abgründigkeit unser Mitgefühl erregen.
Du hast den Grünen Tisch von Kurt Jooss erwähnt. Auch das Bühnenbild von Max Glaenzel nimmt diese Verbindung auf. Ein Grossteil des Geschehens spielt sich an, auf und unter einem riesigen, runden Tisch ab. Welche Verbindungen zum Stück von Kurt Jooss gibt es sonst noch?
Als Künstler habe ich die Verantwortung, darüber Bescheid zu wissen, was frühere Künstlergenerationen an Grossartigem hervorgebracht haben. Im Falle von Kurt Jooss ermöglicht mir die zeitliche Nähe zum 20. Jahrhundert, nach Parallelen zu suchen und die Fragen von damals auf das Heute anzuwenden. Dennoch ist Nachtträume nicht als Fortsetzung oder eine Art zweiter Teil des Grünen Tisches gedacht. Ich bin mir nicht sicher, ob Kurt Jooss sich beim Kreieren der politischen Brisanz und Tragweite seines Stücks bewusst war. Beim heutigen Blick auf die Geschichte und auf das, was sich im Nachklang dieses Stückes ereignet hat, scheint uns Der grüne Tisch in seiner Radikalität fast wie eine Art Prophezeiung. Andererseits kann Kunst die Dinge nicht verändern. In den letzten 20, 30, 40 Jahren gab es so viele Provokationen, und wer spricht heute noch darüber? Jooss’ Radikalität möchte ich in die Welt von Nachtträume übernehmen, um so hoffentlich eine Reflexion unserer Zeit zu erzeugen.
Die Musik von Nachtträume stammt von der aus Barcelona stammenden Komponistin Clara Aguilar. Aber es gibt noch weitere Kompositionen, wie zum Beispiel Nacht und Träume, eines der berühmtesten Lieder von Franz Schubert. Wie integriert ihr solch ein Lied in euer musikalisches Konzept?
Clara und ich entwickeln einen Soundtrack, der auf den ersten Blick ganz unterschiedliche und gegensätzliche Nummern enthält. Aber sowie es Verbindungen auf der musikalischen oder textlichen Ebene oder in der Intention gibt, kann ein Schubert-Lied ohne Probleme neben einem Song von Kurt Weill stehen. Wir versuchen mit der Musik zu spielen, ihre Eleganz und Raffinesse in unsere Zeit zu transportieren. Das passiert niemals völlig digital, oft gibt es ein Blas- oder ein Streichinstrument als Brücke in die Vergangenheit, die wir als solche aber nicht rekonstruieren oder kopieren wollen. Wenn unsere Königin das Schubert-Lied auf ihrem Fest anstimmt, erscheint es in völlig neuem Licht, fast wie eine Parodie. Andere Teile der Musik beschwören die Atmosphäre von Kabarett und Music Hall herauf. Darüber hinaus gibt es verschiedene Texte, wie zum Beispiel einen Monolog aus Calderón de la Barcas berühmtem Stück La vida es sueño (Das Leben ein Traum).
Erstmals sind die Tänzerinnen und Tänzer des Balletts Zürich mit der Bewegungssprache von Marcos Morau konfrontiert. Was zeichnet diesen Bewegungsstil aus?
Ja, wie soll ich ihn beschreiben? Er ist sehr schnell, sehr bizarr, sehr hektisch, präzise, isoliert. Er ist unorganisch, voller Kontraste und voller Rhythmuswechsel. Für die Zürcher Tänzerinnen und Tänzer ist er sehr komplex. Sie kommen aus einer Tradition, in der die Harmonie, die fliessende Bewegung ein hohes Ideal darstellt. Ich möchte genau das Gegenteil. Deshalb bin ich sehr froh, wie diese Compagnie sich gerade auf diese Herausforderung einlässt.
In den Proben meint man tatsächlich zu sehen, wie konzentriert die Gehirne der Tänzerinnen und Tänzer arbeiten, um sich die komplizierten und ständig variierten Morau-Bewegungsabläufe zu merken. Du hast selbst nie professionell getanzt. Aus welchen Quellen schöpft dein Bewegungsvokabular?
Schon in meiner Schulzeit habe ich Bewegung und Tanz geliebt. Ich war ständig im Theater, um mir Tanzproduktionen anzusehen. Dann habe ich angefangen, an einer spanischen Universität Choreografie zu studieren. Anders als meine Kommilitoninnen und Kommilitonen war ich kein Tänzer, aber sie haben mich dennoch akzeptiert. Mit ihnen habe ich meine choreografische Sprache erfunden, ich habe die unterschiedlichsten Dinge mit ihnen ausprobiert. Den Tanz an sich habe ich mit ganz klarem Bezug auf seine Theorie und Geschichte studiert. Nach und nach wurde mir klar, wie man mit Tanz kommuniziert, wie sich bestimmte Qualitäten mit Bewegung ausdrücken lassen. Ich weiss da sehr genau, was ich will und wie das Bild des Körpers aussieht, das ich erzeugen möchte. Es waren vor allem drei Choreografen, die mich beeindruckt und geprägt haben: Bob Fosse, der sich nicht nur als Choreograf, sondern auch Musical- und Filmregisseur, u. a. von Cabaret, einen Namen gemacht hat, William Forsythe und schliesslich der in London lebende Australier Lloyd Newson, der Gründer des DV8 Physical Theatre. Von ihnen habe ich Präzision und Kontrolle gelernt. Dass eine Bewegung hochauflösend ist, dass man sieht, wo sie beginnt und wo sie endet. Und dass alles messerscharf und sehr sauber sein muss. Dabei mag ich es nicht, Emotionen und Formen zu vermischen. Ich kreiere nicht aus Gefühlen heraus. Ich erschaffe aus Formen, aus Spannungen, aus Geschwindigkeit, aus den Eigenschaften und Obsessionen, die die Tänzerinnen und Tänzer haben.
Welche Fähigkeiten und Qualitäten wünschst du dir von ihnen?
Die Frage stelle ich mir selbst immer wieder, weil sich diese Qualitäten auf zwei Ebenen beziehen: den Körper und den Geist. Da geht es um Schnelligkeit, Präzision und Agilität. Aber es geht auch um Offenheit, Intuition, Sensibilität. Gerade bei so einer Produktion wie hier in Zürich, für die man zwei Monate Zeit hat und im Grunde bei null anfängt, müssen die Koordinaten stimmen. Ich versuche immer, mit meinen Tänzerinnen und Tänzern in ein Gleichgewicht zu kommen, ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass wir auf der Grundlage ihrer Mittel und Fähigkeiten an einem gemeinsamen Ziel ankommen werden. Ich begreife mich da nicht nur als Choreograf, sondern auch als Coach. Deshalb beginne ich meine Zusammenarbeit auch mit Workshops, bei denen ich die Tänzerinnen und Tänzer kennenlerne, erfahre, wie sie ticken, wie sie sich bewegen und fühlen.
Du hast von den Bildern in Nachtträume gesprochen. Wie verbinden sie sich mit dem riesigen Reservoir von Bildern, das jeder im Publikum in seinem Unterbewusstsein mit sich herumträgt?
Auch wenn es in Nachtträume keine «Story» im eigentlichen Sinne gibt, ist dennoch nichts dem Zufall überlassen. Alles, was man sieht, geschieht mit Absicht: Diktatur, Gesellschaft, Krisen, Revolution, Autoritäten, Manipulation. Da kommen viele Welten zusammen. Aber es geht mir in diesem Stück nicht darum, eine Geschichte zu erzählen. Es ist eine Landschaft, die sich eröffnet und die jeder mit den eigenen Träumen verbinden und mit Leben erfüllen kann.
Das Gespräch führte Michael Küster
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 95, September 2022.
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Zwischenspiel vom 27.09.2022
Bariton für besondere Aufgaben: Ruben Drole
Ruben Drole gehört regelmässig zu unseren Publikumslieblingen, hat aber auch ein Faible für experimentelle und ausgefallene Rollen: Als genderfluider Stimmkünstler wirkt er im Ballett «Nachtträume» des spanischen Choreografen Marcos Morau mit. Im Podcast gab er im September 2022 Auskunft über seine vielfältigen Projekte, persönlichen Leidenschaften und musikalischen Wurzeln. Zum Podcast
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Ich sage es mal so
Stumme Antworten auf grundsätzliche Fragen – mit Dominik White Slavkovský, der in Marcos Moraus Ballett-Uraufführung «Nachtträume» tanztIch sage es mal so ist eine neue Interviewform in unserem MAG, in der Künstlerinnen und Künstler des Opernhauses - nach einer Idee des SZ-Magazins - in Form eines Fotoshootings Auskunft über sich geben
Hintergrund
Bewegung ist der Motor der Welt
Marcos Morau ist der Shooting-Star unter den internationalen Choreografen. Wer ist der spanische Künstler, der 2005 seine eigene Ballett-Compagnie «La Veronal» gegründet und in der vergangenen Spielzeit zum ersten Mal beim Ballett Zürich choreografiert hat? Eine Spurensuche von Arnd Wesemann
Neununddreissig Jahre ist er alt, vierunddreissig Bühnenwerke hat er schon geschaffen. Stand heute. Zu Beginn seiner Karriere gewann er so ziemlich jeden Choreografie-Wettbewerb, den es zu gewinnen gab: in Kopenhagen, Hannover, Madrid, Gran Canaria. Aber dennoch erfährt man über ihn fast nichts: Marcos Morau, Jahrgang 1982, aufgewachsen in Valencia, studierte in Barcelona und New York. Dabei ist er heute ein Shooting-Star mit Auftragsbüchern, gefüllt für die kommenden drei Jahre. Es findet sich allein ein altes Interview aus der Zeit, als er 2013 den Spanischen Nationalpreis gewann, damals als Jüngster unter den je von der Regierung in Madrid Geehrten. Da war er 31 Jahre alt.
In Wahrheit ist der Mensch Marcos Morau absolut zugänglich, neugierig und hellwach. Als wir uns treffen, trägt er ein blaues Fussballshirt der französischen Nationalelf, ausgerechnet der Spanier – der in Katalonien lebt. Seine dort 2005 gegründete Compagnie heisst «La Veronal». Er nennt sie seine «Familie». Sie schützt ihn, und er schützt sie.
2013 war es, in einer Nacht nach der Aufführung eines Meisterwerks namens Siena. Da tafelte die Familie an langen Restaurant-Tischen in einer Gasse von Las Palmas de Gran Canaria. Im Teatro Cuyas hatte sie zuvor ihr surreales Stück als einen Krimi vor gigantischen Gemälden wie in einem Museum getanzt. Im Zentrum: eine nackte Frau, die Venus von Urbino, ein Werk des italienischen Renaissancemalers Tizian, auch wenn das Original in den Uffizien in Florenz hängt, nicht in Siena. Ihretwillen geschah ein Mordfall, die Stimmung liess an Vertigo von Hitchcock denken. Stählerne Leichenbahren trafen auf Frauen in grauen Fechtanzügen, die in weit ausladenden Schritten jede Menge choreografische Gewalt entwickelten, die auch ohne die aufwändige Bildwelt von Marcos Morau in den Bann gezogen hätte. Noch ahnte niemand, dass dieses Werk, Siena, der internationale Durchbruch sein würde. Hellerau, das Europäische Zentrum der Künste in Dresden, wurde damals als erste Institution im Ausland auf die Compagnie aufmerksam. Dass sich nur wenig Publikum im kanarischen Las Palmas zu ihrer Vorstellung verirrt hatte, schien die Familie kaum zu kümmern. Sie ass und trank in den Gassen der Inselstadt. Marcos Morau erklärte damals, ihm ginge es nicht so sehr um Geschichten, es ginge darum, «den Tanz zu nutzen, als das flüssigste Medium, das die Geschichten ins Schwimmen bringen kann». Und erzählte, wie sie überleben: Dass es der Wettbewerbszirkus sei, der ihnen das Weitermachen ermögliche. Bei den Wettbewerben der Choreografen sitzen immer auch die Theater- und Festivaldirektor:innen in der Jury. Sie vergeben die Preise und entsprechende Aufträge, damit die Newcomer im Schutz und mit dem Geld der Compagnien neue Werke schaffen können.
Marcos Morau hatte damals einen Mentor: Cesc Casadesús. Heute ist er Leiter des «Grec Festival» in Barcelona, zu jener Zeit war er der Direktor des einzigen spanischen Tanzhauses, des dortigen Mercat de les Flors, des alten Blumenmarkts. Casadesús erlebte Morau als Studenten am Institut del Teatre de Barcelona. Er sah den Eigensinn des angehenden Choreografen, der gerade aus New York zurückgekehrt war. Ein halbes Jahr lang hatte er dort ausgeharrt, im Tanzlabor «Movement Research» in Greenwich, einer Instanz, die sich der Geschichte des postmodernen Tanzes im eigenen Land widmete. «Ich war lange nach dem Anschlag auf die Twin Towers da, drei Jahre später, aber alle waren nur noch mit Merce Cunningham oder Bill T. Jones beschäftigt, mit dem eigenen Tanzerbe. Ich fühlte, die Stadt lebte bloss noch im Damals. Ich wollte aber Zukunft – in dieser Stadt, von der man immer glaubte, das sie die Zukunft repräsentiert.»
Sie tat es nicht mehr. Barcelona ist heute die Stadt der Zukunft, diese zunehmend selbstbewusster werdende katalanische Metropole mit eigener Sprache und einem ähnlichen Nationalismus, wie ihn Frankreich besitzt: «‹Catalunya first› heisst es hier», sagt Morau, der wie ein Fremder kam, «als eine Null», wie er sich erinnert, aufgewachsen im 300 Kilometer südlich gelegenen Valencia mit seiner deutlich kleineren Kunstszene. Dort studierte er am Conservatorio Superior de Danza, gab aber bald den Glauben auf, je ein guter Balletttänzer werden zu können.
Bewegung fasziniert ihn seit Kindesbeinen an. Bewegung ist der Motor, der die Welt, die Sinne, die Körper definiert. Ohne Bewegung ist die Welt nicht Welt. Auch Lesen ist Bewegung, Musik, Film, und natürlich ist es der Tanz. Tanz ist für ihn die erste Kunst, die einen aus den als unbeweglich gedachten Gesetzen, Schriften und Sinn-Zuschreibungen befreit. Morau sagt das, weil er – der Choreograf – in Barcelona auch das Geschäft des Dramaturgen erlernte, an der Universidad Pompeu Fabra. Da ging es um die Idee, einen Text durch den Akt des Lesens zu verflüssigen, ihn mit Assoziationen und Fantasien in Bewegung zu setzen. Damals ging es um Harold Pinter und William Shakespeare, nicht um Tanz. Aber der Akt des Lesens, sich etwas in Bewegung vorzustellen, eine Landschaft, einen Dialog, eine Stimmung, ist das, was auch ein Film zeigt, der sich aus einer Unzahl von Bildern zusammensetzt, bewegte Bildende Kunst sozusagen.
Für den damals üblichen Zeitgeist des «Anything goes» gab es folglich keine Spartengrenzen mehr. Das Zentrum wurde die Bewegung selbst. «Bewegung», so sagte der Choreograf vor Jahren, «kennt keine Grenzen.» Eine sich begrenzende Tanztechnik um der Technik willen, das gehe für ihn gar nicht. «Ich sage zu den Tänzerinnen und Tänzern oft, dass wir nicht Opfer unserer eigenen Technik sein dürfen. Wir müssen Türen öffnen, um zu sehen, wie die Dinge am Ende miteinander in Beziehung stehen. Ich sage meinen Tänzerinnen und Tänzern, dass wir uns in einem Korridor voller offener Türen befinden, von denen wir keine einzige schliessen werden – selbst am Tag vor der Premiere sind einige offen.»
Ganz glauben muss man ihm das nicht. In Wahrheit ist Marcos Morau ein sehr weit vorausschauender Ingenieur seiner Stücke, ein Konstrukteur, der stets mit einer bereits deutlich entwickelten Idee auf die Proben kommt und wie ein Architekt die Gründe für jede Bewegung, jeden Lichtstand, jedes Bühnenrequisit genau vor Augen hat. Sein Team, seine Familie, seine Freunde, wie er sie abwechselnd nennt, «La Veronal», ist kein Kollektiv, wie manche meinen. Es ist eine Versammlung von Spezialistinnen und Spezialisten, die gemeinsam der Vision dieses Choreografen folgt, der in sich schlüssige, mitunter auch in sich selbst verschlossene, immer aber starke Bilder schafft.
Natürlich wird er nicht müde, seine Mitstreiter zu loben. Seine Tänzerinnen und Tänzer sind es, die seine Stücke weitergeben oder die bei einer Neuproduktion zu Gast bei einer anderen Compagnie die Prinzipien seiner Arbeit weiterreichen. Es geht ihm um das Können, Geschichten zu erzählen, ohne eine Geschichte nachzubuchstabieren, eine Handlung zu suggerieren, ohne sie zu zeigen oder sich einen Ort vorzustellen, ohne ihn zu benennen. Bis Siena, bis zu seinem Durchbruch in «Nordeuropa» – so nennt er unsere Hemisphäre – hiessen fast alle Stücke nach einem Ort: Nippon-Koku spielte auf das faschistische Regime in Japan zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs an, Russia, Bologna Pasolini oder Tundra, Islandia, Moscow, København oder Portland, so hiessen seine Werke zu Beginn, buchstäbliche Traumreisen, die «dich an einen Ort nahe der Realität versetzen, der aber nicht wirklich real ist», wie er heute sagt. Es folgte eine Phase mit Werken, die immer deutlicher auf bildende Künstler Bezug nahmen. Nach Picasso war es vor allem Voronia. Hier stand Luis Buñuels Würgeengel Pate. In dessen Setting schienen die Tänzer:innen wie Avatare im Nirwana der Simulation und in einer unabsehbaren Logik von Computeranimationen verloren zu gehen. Es gab Edvard – als eine Arbeit für die norwegische Compagnie «Carte Blanche»: als eine Hommage an Edvard Munch, des von den okkupierenden Nazis in Oslo 1940 isolierten Malers, der in Zwangsjacke in seinen eigenen Bildern wiederaufersteht, in einem vom Munch selbst so genannten Kristallreich aus Schrecken und Tod. Dann, in Göteborg, entstand für die dortige Compagnie ein sehr typisches Werk von Marcos Morau, ein komplex inszeniertes Musterbeispiel für seine Bühnenkunst: Rothko Chapel. Gemeint ist eine 1971, nach dem Freitod des Malers Mark Rothko, im texanischen Houston errichtete Kapelle ohne Religion. Die fünf blau schimmernden Werke dieses Meisters der Abstraktion haben die Fähigkeit, auf einen Schlag ihr Blau zu verlieren und tiefschwarz gähnende Löcher zu werden. Als zwei beleibte US-Touristen den Bühnenraum betreten, stürzt eines der Riesengemälde um. In Anspielung auf Flüchtlinge geht es Morau in diesem Werk um die Heimatlosigkeit der Kunst, ihre bilderstürmerische Vertreibung aus der Religion. Das Ensemble gibt im Blaumann den Diener der Kunst, als eine Horde Schimpansen das Museum erobert. Die Ignoranten der Kunst seien die wahren Bilderstürmer. Es folgt ein Auftritt von Mönchen, der byzantinische Bilderstreit des 8. Jahrhunderts: Sturm auf die Ikonen, Verbot der Darstellung Gottes, die Trennung von der Ostkirche. Ohne Angst vor islamisch wirkender Ornamentik tauchen die Tanzenden tief ein in die Anfänge der abstrakten Kunst, hier von Mark Rothko.
So klug, ohne Zeigefinger, im dramaturgischen Furor und zugleich choreografisch exakt bis in die Zehenspitzen arbeitet Marcus Morau. Zuletzt, nach Le Surréalisme au service de la révolution für das Ballet de Lorraine, entstand eine weitere Hommage an Luis Buñuel, das Werk Sonoma: eine Lustbarkeit zwischen Schmerz und Befreiung mit strenger Flamenco-Ordnung und wild-fantastischer Kombinatorik, die höchste tänzerische Fähigkeiten verlangt: Nie wiederholt sich ein Schritt, nie ein Gedanke, nie eine Geste. Eine solche Material- und Schrittfülle muss eine Tänzerin sich erst einmal merken können, zumal auch die Logik des Schritts, ganz in Sinne des Surrealismus, jederzeit selbst ihrer eigenen Logik auszuweichen sucht. Von einer sich bedrohlich herabsenkenden Zimmerdecke geht die Reise in Sonoma zu einem Sarg. Tänzerinnen mit riesigen Blumengestecken im Haar heben davor vielstimmig ihren chorischen Gesang an. Man hört Unheimliches vom Gelobten Land, dem Schwert des Damokles, dem Schlüssel zu allen Türen, die für immer geschlossen bleiben. Diese stets ins Surreale gewendete Märchenwelt speist sich letztlich aus jener romantischen Quelle, aus der er auch für sein jüngstes Werk, Nachtträume für das Ballett Zürich, schöpfen wird. Marcos Morau achtet bei alledem vor allem auf eins: auf seinen Stil. «Sieht man nur eine Minute lang ein Stück von Pina Bausch, William Forsythe oder Merce Cunningham, dann weiss man sofort, das ist eine Bausch, ein Forsythe, ein Cunningham.» Das soll bei ihm nicht anders sein.
Bilder sind das, was der Tanz aus einer Bewegung heraus zeigen kann. Bewegung geht immer von einem Körper aus. Morau sagt das als ein Bildschöpfer, dessen zweite Liebe kaum einer kennt: Er ist Fotograf aus Leidenschaft, wie sein Grossvater einer war, der noch mit schweren Bildplatten, Gelatine und Fixierbad hantierte. Das Atelier voller Fotografien faszinierte den Jungen schon in seiner Kindheit. Er kommt aus keiner Künstlerfamilie. Nur der Grossvater hatte diese Ader, die er, laut seiner Mutter, schon früh auch in sich selbst verspürte: die Liebe zur Komposition, die Hoffnung, den besten Moment, den richtigen Blick zu erhaschen, die ästhetische Lust an Balancen, Farbgebung und Bildkomposition. Auch wenn er sagt, er fotografiere nicht mehr, stammen doch viele der Plakatmotive von «La Veronal» aus seiner Kamera. Auch der Zeichenstift gehört zu seinem Werkzeug. Jeder Entwurf, jede Bühnen- und Kostümskizze stammen von ihm selber. Das Bild ist sein Medium, das er nicht in Öl, sondern dreidimensional und in Bewegung realisiert. Unter den zeitgenössischen Choreografen ist Morau der Maler. Weder eine Grundierung noch ein Rahmen sind entscheidend für seine tanzenden Gemälde. Sie beruhen auf genauer architektonischer Planung und dem Können, mit Tanz die Statik an ihre Grenzen zu führen. Eine riskante Komposition – gemacht, um die Bildkraft seines Theaters so zu stützen, dass das tanzende Gebäude wie gemeisselt in sich selber ruht.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 95, September 2022.
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Wie machen Sie das, Herr Bogatu?
Das Licht der Kopflosen
Ich hoffe, Sie haben die Gelegenheit, unsere Ballett-Produktion «Nachtträume» zu sehen, denn sie ist vollgepackt mit technischen Raffinessen, die – wie ich es liebe – wunderbar unspektakulär wirken, aber die Vorstellung gerade deshalb spektakulär machen. Bezeichnend für die Produktion ist, dass ich mit dem Schreiben der Kolumne warten musste, bis die Premiere stattgefunden hat: Es änderte sich im Probenprozess bis zum Schluss viel, und ich hätte ungern über etwas geschrieben, dass am Ende in der Vorstellung gar nicht vorkommt.
Besonders wichtig war dem Choreografen Marcos Morau von Anfang an, dass die Tänzer einfache Holzstühle über den Boden gleiten lassen können: Einmal kräftig angeschoben, sollen sie am besten von einer Seite der Bühne auf die andere rutschen. Das geht auf dem klassischen Tanzteppich aber nicht, den wir für unsere Ballette ausnahmslos legen – da rutscht nichts. Ausserdem wünschte sich der Bühnenbilder Max Glaenzel ein Parkett als Boden. Unsere Lösung für dieses doppelte Problem war eine Oberfläche aus Kunstharzlaminat, kombiniert mit nahezu unsichtbaren Filzsocken für die Füsse der Stühle. Auf das Kunstharzlaminat wurde das Foto einer Holzoberfläche aufgedruckt. Der Bühnenbildner suchte drei verschiedene Farbtöne aus. Um aus diesen Platten ein Parkett zu machen, liessen wir sie in 7.000 Streifen schneiden, mischten sie und klebten die Streifen danach passgenau als Parkett auf Holzplatten. Durch die Durchmischung der verschiedenen Holzfarben wirkt der Boden sehr natürlich. Auf diesem Boden steht ein riesiger Tisch – so gross (und schwer), dass darauf das ganze Ensemble tanzen kann. Über dem Tisch erscheint aus dem Schnürboden im Verlauf der Vorstellung ein riesiger Kronleuchter, an dem leuchtende Kugeln hängen, während auf der Tanzfläche kopflose Gestalten im Anzug durch die Gegend irren. Diese klettern auf den Tisch, nehmen die Kugeln vom Leuchter und setzen sie sich als Köpfe auf. Das sieht spektakulär aus und enthält eine Menge kniffliger Lösungen: Zunächst schuf die Kostümabteilung Anzüge, in denen die Köpfe der Tänzerinnen und Tänzer unterhalb der Kragen enden. Das sieht wirklich lustig aus, erforderte aber einen ausgesteiften Aufbau des Kragens und der ganzen Schulterregion aus einem sehr dünnen, aber stabil zusammengeschweissten Drahtgestell. Die Kunststoffschale für die Kugellampe konnten wir zum Glück direkt kaufen, das Innenleben mussten wir erfinden und einbauen: Leistungsstarke LED, dazu Akkus und eine WLAN-Steuerung. Nun können die Lichtkugeln vom Lichtpult aus gesteuert werden. Um diese Kugeln unter den Leuchter zu hängen, entwickelten wir einen Verschluss, der, egal wie die Kugel gedreht ist, einrastet und auch bei Stössen gegen den Leuchter hält. Die Kugeln hängen schliesslich lange Zeit in fünfzehn Meter Höhe über der Bühne und dürfen auf keinen Fall herabfallen – auch wenn beim Auf- und Abbauen mal ein anderes Dekorationsteil dagegen stösst. Zum Aufsetzen der Kugeln auf den Kopf ist dieser Verschluss aber nicht geeignet. Dass die Tänzer:innen den eigenen Lichtkopf beim Aufsetzen nicht sehen, erschwert die Sache zusätzlich. Eine einfache Lösung musste her: Im Kragen eingebaute Magnete halten die Kugel auf Position und erlauben das Tanzen. Jetzt fehlt mir der Platz für die weiteren Tricks der Produktion: Rotierende Überwachungskameras, die aus dem Lüster herausfahren, von der Ballett-Compagnie geführte Schafspuppen, Spiegelwände, auf der Bühne herumfahrende und trotzdem spielbare Konzertflügel, Stuhlberge und Projektionen... Nachtträume ist spektakulär!
Sebastian Bogatu ist Technischer Direktor am Opernhaus Zürich.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 96, Oktober 2022.
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Ich sage es mal so
Stumme Antworten auf grundsätzliche Fragen – mit Ruben Drole, der als rätselhafte Königin im Ballett «Nachtträume» auf der Bühne steht.Ich sage es mal so ist eine neue Interviewform in unserem MAG, in der Künstlerinnen und Künstler des Opernhauses - nach einer Idee des SZ-Magazins - in Form eines Fotoshootings Auskunft über sich geben
Biografien
Marcos Morau, Choreografie
Marcos Morau
Der spanische Choreograf Marcos Morau studierte Choreografhie am Conservatorio Superior de Danza in seiner Heimatstadt Valencia, am Institut del Teatre in Barcelona und am Movement Research in New York. Morau besitzt ausserdem einen Masterabschluss in Theatertheorie. Ohne jemals selbst Tänzer gewesen zu sein, gründete Morau 2005 seine eigene Compagnie «La Veronal», deren Mitglieder aus verschiedenen Kunstsparten stammen: Tanz, Film, Fotografie und Literatur. Der Kern seines Schaffens liegt in der Interdisziplinarität und in der Suche nach Möglichkeiten, wie verschiedene Arbeitsweisen immer wieder neu zusammengebracht werden können. Marcos Morau wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem den National Dance Award. Er choreografierte für die Compañía Nacional de Danza in Spanien, das Scapino Ballet Rotterdam, die Göteborg Operans Danskompani, das Ballet de Lorraine, das Ballet du Rhin, Carte Blanche in Norwegen und das Royal Danish Ballet in Kopenhagen.
Max Glaenzel, Bühnenbild
Max Glaenzel
Max Glaenzel stammt aus Barcelona. Der Bühnenbildner studierte am Center d'art i Disseny Escola Massana und debütierte 1993 am Theater in Zusammenarbeit mit Estel Cristià. Er arbeitet regelmässig mit Marcos Morau, Silvia Delagneau, Àlex Rigola, Xavier Albertí, Carlota Subirós und Sergi Belbel zusammen. Bühnenbilder entstanden für Inszenierungen am Teatre Nacional de Catalunya, am Teatre Lliure in Barcelona, im Sala Beckett und im Centro Dramático Nacional. Inszenierungen mit Marcos Morau waren Rothko Chapel, Pasionaria, Carmen, Into the Little Hill und Opening Night. Seine Arbeiten führten ihn ans das Teatro Real, zur Göteborg Opera Dance Company, an das Royal Danish Ballet, das Gran Teatre del Liceu, die Schaubühne Berlin, das Schauspielhaus Düsseldorf, das Teatro Stabile del Veneto und zum Mercat de les Flors.
Silvia Delagneau, Kostüme
Silvia Delagneau
Silvia Delagneau stammt aus Salamanca. Sie studierte Bühnenbild am Institut del Teatre in Barcelona und an der École Supérieure des Arts Décoratifs in Paris. Seit Jahren arbeitet sie mit dem Choreografen Marcos Morau und seiner Compagnie «La Veronal» zusammen, so in Produktionen wie Rothko Chapel für die Göteborg Opera Dance Company, Pasionaria an den Teatros del Canal in Madrid und beim Grec Festival in Barcelona, Sonoma beim Festival d’Avignon, Opening Night am Teatre Nacional de Catalunya, Carmen beim Royal Danish Ballet und Orfeo ed Euridice am Tanztheater Theater Luzern. 2019 wurde sie in mit dem Premi ciutat de Barcelona für Theater ausgezeichnet. Ihre eigene Inszenierung von El sexe dels fongs hatte 2020 beim Grec Festival de Barcelona Premiere. Ausser mit Marcos Morau arbeitet Silvia Delagneau mit weiteren spanischen Theater- und Opernregisseuren zusammen.
Clara Aguilar, Musik
Clara Aguilar
Clara Aguilar lebt als Komponistin und Sounddesignerin in Barcelona. Multistilistisch bewegt sie sich zwischen Ambient-, Pop- und Kammermusik-Arrangements, elektronischer Musik und Techno. Sie hat Musik, Journalismus, Geisteswissenschaften und Gender Studies studiert. Seit 2017 ist sie Teil der Theaterszene von Barcelona und schuf Sounddesigns für mehr als dreissig Projekte. Sie ist Mitglied des VVAA Collective und arbeitete u.a. am Teatre Nacional de Catalunya, am Teatre Lliure, am Mercat de los Flors, der Sala Beckett und der Sala Hiroshima. Sie führte Regie bei L‘Amour Toujours (L‘Auditori) und war als Mitglied des VVAA-Kollektivs Co-Regisseurin von This Real Love (Teatre Lliure) und Arcas 2020 (Teatre Lliure; Teatros del Canal). Für Pool (No Water) erhielt sie die Auszeichnung für das beste Sounddesign (2018). Weitere Projekte als Sounddesignerin und Komponistin waren La partida d‘escacs von Stefan Zweig (Teatre Romea), Moi Dispositif Venus von Adeline Flaun (Tropiques-Atrium du Martinique), GRRRLS!!! Manifestos feministes von Carlota Subirós (CCCB), La Honte von Lisi Estarás (Mercat de les Flors) und Reiseführer von Ferran Dordal (Teatre Lliure). Sie gehörte zum Komponistenteam der Dokumentarserie Crims (Goroka). Weitere Filmprojekte sind in Vorbereitung. 2021 veröffentlicht sie ihr erstes elektronisches Album Mystery is all. Häufig arbeitet sie mit dem DJ und Produzenten John Talabot zusammen.
Martin Gebhardt, Lichtgestaltung
Martin Gebhardt
Martin Gebhardt war Lichtgestalter und Beleuchtungsmeister bei John Neumeiers Hamburg Ballett. Ab 2002 arbeitete er mit Heinz Spoerli und dem Ballett Zürich zusammen. Ballettproduktionen der beiden Compagnien führten ihn an renommierte Theater in Europa, Asien und Amerika. Am Opernhaus Zürich schuf er das Lichtdesign für Inszenierungen von Jürgen Flimm, David Alden, Jan Philipp Gloger, Grischa Asagaroff, Matthias Hartmann, David Pountney, Moshe Leiser/Patrice Caurier, Damiano Michieletto und Achim Freyer. Bei den Salzburger Festspielen kreierte er die Lichtgestaltung für La bohème und eine Neufassung von Spoerlis Der Tod und das Mädchen. Seit der Spielzeit 2012/13 ist Martin Gebhardt Leiter des Beleuchtungswesens am Opernhaus Zürich. Eine enge Zusammenarbeit verbindet ihn heute mit dem Choreografen Christian Spuck (u.a. Winterreise, Nussknacker und Mausekönig, Messa da Requiem, Anna Karenina, Woyzeck, Der Sandmann, Leonce und Lena, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern). Er war ausserdem Lichtdesigner für die Choreografen Edward Clug (u.a. Strings, Le Sacre du printemps und Faust in Zürich), Alexei Ratmansky, Wayne McGregor, Marco Goecke, und Douglas Lee. Mit Christoph Marthaler und Anna Viebrock arbeitete er beim Händel-Abend Sale und Rossinis Il viaggio a Reims in Zürich sowie bei Lulu an der Hamburgischen Staatsoper zusammen und mit Jossi Wieler und Sergio Morabito an der Oper Genf für Les Huguenots. 2023 gestaltete er das Licht für Spucks Ballett Bovary beim Staatsballett Berlin und 2024 Rossinis Tancredi an den Bregenzer Festspielen. Ausserdem war er Lichtdesigner bei Atonement von Cathy Marston am Opernhaus Zürich.
Tieni Burkhalter, Video
Tieni Burkhalter
Tieni Burkhalter studierte Bildende Kunst an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), wo er sich auf Video und Videoinstallation spezialisierte. Nachdem seine Werke vorwiegend in Galerien und an Experimentalfilmfestivals gezeigt wurden, arbeitet er seit 2009 für die Bühne. Als Videoproduzent ist er eng mit dem Opernhaus Zürich verbunden. Seine Bühnenarbeit führte ihn ausserdem zu Theatern in Berlin, Hamburg, Paris, Moskau, Oslo und Savonlinna. Am Opernhaus Zürich arbeitete er mit Andreas Homoki (Der fliegende Holländer, Das Land des Lächelns, Das Rheingold, Siegfried und Die Walküre), Evgeny Titov (Lessons in Love and Violence und L’Orfeo), Jan Philipp Gloger (Die Csárdásfürstin und Le nozze di Figaro), Adele Thomas (Il trovatore), Rainer Holzapfel (Die Odyssee), Nina Russi (Coraline) und Kai Anne Schuhmacher (Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer). Für das Ballett Zürich produzierte er Videos für Christian Spuck (Anna Karenina und Das Mädchen mit den Schwefelhölzern), Marcos Morau (Nachtträume), Edward Clug (Faust) und Douglas Lee (A-Life). Er war ferner am Opernfestival Savonlinna mit Philipp Himmelmann für Aida tätig, in Berlin mit Christian Spuck für Madame Bovary und wirkt seit vielen Jahren in Dmitri Tcherniakovs Inszenierungen mit: Pelléas et Mélisande und Die Sache Makropulos am Opernhaus Zürich, Senza Sangue/Herzog Blaubarts Burg, Elektra und Salome an der Staatsoper Hamburg, La Fille de Neige und Les Troyens an der Opéra National de Paris und Tristan und Isolde an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin.
Ruben Drole, Sänger / Schauspieler
Ruben Drole
Ruben Drole, Bassbariton, stammt aus Winterthur und studierte an der Musikhochschule Zürich. 2004 wurde er ins IOS und 2005 ins Ensemble des Opernhauses Zürich aufgenommen, wo er u.a. als Lucio Cinna (J.C. Bachs Lucio Silla), Haly (L’italiana in Algeri), Argante (Rinaldo), Wurm (Luisa Miller) und als Papageno in der von Nikolaus Harnoncourt geleiteten Zauberflöte zu erleben war. Als Papageno hat er 2015 auch sein Debüt an der Semperoper Dresden gegeben. Weitere Projekte mit Harnoncourt waren u.a. Kezal (Die verkaufte Braut) und Haydns Schöpfung bei der Styriarte Graz, Beethovens Christus am Ölberg in Wien und Luzern, eine Japan-Tournee (Mozarts Requiem und Händels Messiah) sowie Leporello (Don Giovanni) am Theater an der Wien. Im Zürcher Zyklus der Mozart/Da Ponte-Opern von Sven-Eric Bechtolf und Franz Welser-Möst wirkte er als Guglielmo (Così fan tutte), Figaro (Le nozze di Figaro) und Leporello mit. Dieselben Partien interpretierte er unter Welser-Möst auch mit dem Cleveland Orchestra. Bei den Salzburger Festspielen 2012 sang er den Achilla (Giulio Cesare) und trat dort 2013 in Haydns Il ritorno di Tobia und in Walter Braunfels’ Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna auf. In Zürich sang er u.a. Papageno (Die Zauberflöte), Alaskawolfjoe (Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny), Soldat (Die Geschichte vom Soldaten), Odysseus (Die Odyssee), Antonio (Le nozze di Figaro) sowie Herzogin/Raupe in Alice im Wunderland. Ausserdem war er jüngst in Amerika und im Ballettabend Nachtträume zu erleben.
Luigi Largo, Klavier
Luigi Largo
Luigi Largo stammt aus Neapel. Sein Klavierdiplom erwarb er am Konservatorium Salerno. Er war Ballettpianist am Teatro San Carlo in Neapel (1993-2001) sowie anschliessend Korrepetitor beim Ballett Zürich (2001-2007) und beim Niederländischen Nationalballett Amsterdam (2007-2009). Seit der Saison 2009/10 ist Luigi Largo wieder beim Ballett Zürich engagiert. Bei den Gastspielen des Balletts Zürich mit Christian Spucks Anna Karenina in Tel Aviv und Hongkong war er der Klaviersolist.
Israel Solà, Dramaturgie
Israel Solà
Israel Solà stammt aus Barcelona. Er studierte Physik an der Universität Barcelona sowie Regie und Dramaturgie am Institut del Teatre in Barcelona. Nach Abschluss seines Studiums gründete er die Theatergruppe «La Calòrica», für die zahlreiche Stücke entstanden sind. Dazu gehören De què parlem mentre no parlem de tota aquesta merda (TNC, 2021), Feísima enfermedad y muy triste muerte de la reina Isabel I (Teatre Lliure, 2019), Els Ocells (Sala Beckett, 2018) und Fairfly (Teatre Tantarantana, 2017; Auszeichung mit dem Max Award). 2021 inszenierte er die Opern La Voix humaine von Francis Poulenc und La veu sàuria von Mariona Vila im Principal de Palma. Er war Dramaturg bei Paraula roent, einem Stück, das auf dem Werk der Dichterin Antònia Vicens basiert (Palau de la Música, 2022), und bei der zeitgenössischen Tanzshow Bogumer von Vero Cendoya (Mercat de les Flors, 2021). Für die Parking Shakespeare Company in Barcelona entstanden Neufassungen von Viel Lärm um nichts und Titus Andronicus. 2022 wurde sein Stück Australia in der Sala Flyhard in Barcelona uraufgeführt. Ausserdem realisierte er verschiedene Radio-, Fernseh- und Podcast-Projekte.
Michael Küster, Dramaturgie
Michael Küster
Michael Küster stammt aus Wernigerode (Harz). Nach dem Studium der Germanistik, Kunst- und Sprechwissenschaft an der Universität Halle war er Moderator, Autor und Sprecher bei verschiedenen Rundfunkanstalten in Deutschland. Dort präsentierte er eine Vielzahl von Klassik-Programmen und Live-Übertragungen wichtiger Konzertereignisse, u. a. aus der Metropolitan Opera New York, der Semperoper Dresden und dem Leipziger Gewandhaus. Seit 2002 ist er Dramaturg am Opernhaus Zürich, u. a. für Regisseure wie Matthias Hartmann, David Alden, Robert Carsen, Moshe Leiser/ Patrice Caurier, Damiano Michieletto, David Pountney, Johannes Schaaf und Graham Vick. Als Dramaturg des Balletts Zürich arbeitete Michael Küster seit 2012 u. a. mit Cathy Marston, Marco Goecke, Marcos Morau, Edward Clug, Alexei Ratmansky, William Forsythe, Jiří Kylián und Hans van Manen, vor allem aber mit Christian Spuck zusammen (u. a. Romeo und Julia, Messa da Requiem, Winterreise, Dornröschen). An der Mailänder Scala war er Dramaturg für Matthias Hartmanns Operninszenierungen von Der Freischütz, Idomeneo und Pique Dame.