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Monteverdi

Musiktheater von Christian Spuck
Musik von Claudio Monteverdi,
Benedetto Ferrari, Biagio Marini, Tarquinio Merula,
Francesco Rognoni und Giovanni Maria Trabaci
Uraufführung

In italienischer Sprache mit deutscher und englischer Übertitelung. Dauer ca. 2 Std. 25 Min. inkl. Pause nach ca. 1 Std. 05 Min. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.

Gut zu wissen

Trailer «Monteverdi»

Pressestimmen

«Dem Zürcher Ballettchef gelingt an diesem Abend ein Paradox: Der Tanz tritt zurück – und gewinnt gerade dadurch an Ausdrucksmöglichkeiten.»
NZZ, 17.01.22

«Spuck ist mutiger geworden, auch bezüglich der Geschlechterrollen»
Tages-Anzeiger, 17.01.22

«Nur, wer derart hochklassig ist wie [das Ballett Zürich], vermag Monteverdi so zu tanzen: als Christian Spucks persönlichste, intimste Choreografie.»
​​​​​​​CH Media, 17.01.22


Interview


So einfach und so viel Gefühl

Christian Spuck ist fasziniert von den Madrigalen und Lamenti Claudio Monteverdis. Gemeinsam mit Sängerinnen und Sängern, dem Ballett Zürich, dem Orchestra La Scintilla und dem Dirigenten Riccardo Minasi entwickelte er Anfang 2022 einen Musiktheaterabend, der der zutiefst berührenden Emotionalität in der Musik des genialen Italieners nachspürt.

Christian, Claudio Monteverdi gehört zu den Komponisten, die dir viel bedeuten. Woher rührt diese persönliche Beziehung?
Ich habe seine Musik zum allerersten Mal bei einer Tanz­-Produktion von Anne Teresa De Keersmaeker gehört, als ich 17 Jahre alt war. Da hat sie mich allerdings noch eher gelangweilt. Einige Jahre später habe ich mir dann bei Zweitausendeins, dem damals wichtigsten Schallplattenladen für junge Leute, die Gesamtaufnahme der drei Monteverdi­Opern von John Eliot Gardiner gekauft und fand darin vor allem den grossen Anfangsmonolog von Penelope in Il ritorno d’Ulisse in patria wunderschön. Ich habe das auf meinem Walkman immer gehört und fand die Schlichtheit der Musik in Kombination mit der Direktheit, mit der die Emotionen zum Ausdruck kommen, total berührend. Das war der Beginn meiner Liebe zu Monteverdi, die nach und nach gewachsen ist. Die extrem reduzierte Form mit nur einer Gesangsstimme plus Lauten­ und Basso Continuo­-Begleitung erzählt so viel. Kurz bevor ich nach Zürich kam, habe ich dann auch einen Ballettabend mit Musik von Monteverdi gemacht, der hiess Poppea, Poppea. Die Musik wurde darin aber nicht live gespielt. In unserer Zürcher Produktion, die wir im Moment proben, ist das anders: Hier kommen Sängerinnen und Sänger, unser Orchestra La Scintilla und die ganze Ballettcompagnie zusammen.

Claudio Monteverdi hat seit dem legendären Pionier­-Zyklus mit Nikolaus Harnoncourt und Jean-­Pierre Ponnelle am Opernhaus in Zürich eine grosse Renaissance auf den Opernbühnen erlebt. Seine Opern sind vielerorts fester Bestandteil des Repertoires geworden. Monteverdi hat aber auch Karriere im Privaten gemacht. Melancholische Menschen hören ihn wie Popsongs. Einige seiner populärsten Nummern sind regelrechte Hits bei Liebeskummer. Hörst du Monteverdi auch zu Hause nur für dich?
Ja, klar. Für mich war Monteverdi unabhängig von seiner Bühnenpräsenz immer auch etwas Privates. Das spielt auch in unserer Produktion eine Rolle. Ich habe mir die Highlights aus seinem Schaffen herausgesucht, die ich emotional besonders stark finde und die als Nummern für sich stehen können. Die meisten Stücke sind aus dem Achten Madrigalbuch. Es ist, wie du sagst: Viele Sachen sprechen zu uns wie Songs von heute, obwohl sie vierhundert Jahre alt sind.

Inwiefern eignet sich Monteverdis Musik für ein Ballett?
Ballett finde ich nicht den richtigen Begriff für das, was wir machen. Es ist umfassender. Ich sehe es als ein Musiktheater, in dem Gesang, Tanz und instrumentale Teile zusammenkommen. Ich habe sieben Sängerinnen und Sänger in dieser Produktion, so viele wie noch nie, dazu das gesamte Ballett Zürich. Aber deine Frage zielt ja darauf ab, wie viel Nähe zum Tanz per se in Monteverdis Musik steckt. Tanz spielt in seinen Werken durchaus eine wichtige Rolle in Form von Ritornellen oder Zwischenspielen, in den Madrigalbüchern gibt es explizit als «Balli» ausgewiesene «Ballette». Aber ausgerechnet die finde ich nicht so spannend, sie sind in der Form eher schematisch und vorhersehbar. Dem Tanz kam zu Monteverdis Zeiten eben eine ganz andere Bedeutung zu als heute. Das war zeremonielle Unterhaltung am Hof und hatte nicht den subjektiven Ausdruckscharakter, der für Monteverdis Musik so prägend ist. Mich interessiert die Vokalmusik und die emotionale Kraft, die ihr innewohnt. Sie inspiriert mich zu Tanz.

Du hast das Achte Madrigalbuch erwähnt. Was ist das Besondere an dieser Werksammlung?
Es ist Monteverdis letztes Madrigalbuch, in dem er noch einmal eine Art Summe seines Schaffens zieht. Er hat es Canti guerrieri et amorosi genannt, Lieder von Krieg und Liebe, wobei mit «Krieg» ein Krieg der Liebenden gemeint ist. Im Achten Madrigalbuch finden sich berühmte Stücke wie das Lamento della ninfa, Hor che’l ciel e la terra oder das unglaubliche Combattimento di Tancredi e Clorinda. Sie sind in einer interessanten Zwischenform komponiert – noch nicht richtige Oper, aber auch nicht mehr konzertanter Vortrag. Die Szenen werden durch erzählte Dramatik zum Ausdruck gebracht, die Figuren selbst treten nur sparsam in Erscheinung. Monteverdi hat dafür einen sehr expressiven Gesangsstil erfunden, er selbst nennt ihn «stile concitato», erregten Stil. Das macht die Werke für eine Umsetzung in abstrakten Tanz extrem spannend.

Wovon handeln die Stücke, die du für deinen Abend zusammengestellt hast?
Von Verlassensein, von Vereinsamung und gebrochenen Herzen. Eigentlich wohnt nur den eingeschobenen Tänzen eine gewisse Fröhlichkeit inne, ansonsten sind die Stücke sehr auf der melancholischen Seite. Melancholie ist ein grosses Thema im Schaffen von Monteverdi. Er konnte wie kein anderer zuvor Liebesschmerz und Welttraurigkeit in Töne fassen. Er hat dadurch etwas für die damalige Zeit völlig Neues in die Musik gebracht – das tief empfindende Individuum, das seine innersten Gefühle nach aussen kehrt. Vor Monteverdi wurde Musik vor allem für die Kirche, zum Lob Gottes geschrieben, oder sie diente zur Unterhaltung an Fürstenhöfen. Damit gab sich Monteverdi aber nicht zufrieden. Er wollte mit seiner Musik nicht mehr nur gefallen, sondern die Zuhörer erschüttern und zu Tränen rühren – und es ist ihm gelungen. Seine Aufführungen müssen für die damalige Zeit eine unglaubliche emotionale Intensität gehabt haben. Es gibt Berichte, in denen beschrieben wird, dass das Publikum beim Hören von Monteverdis Musik tatsächlich in Tränen ausgebrochen ist.

Wie könnte man den Abend, den du kreierst, überschreiben?
Es gibt ein berühmtes Buch aus dem 17. Jahrhundert, das zu Lebzeiten Monteverdis geschrieben wurde. Es heisst Die Anatomie der Melancholie von Robert Burton. Davon handelt auch unsere Arbeit: Unser neues Stück ist eine Art Untersuchung über das Wesen der Melancholie. Von welchen Gefühlszuständen ist sie geprägt? Wie äussert sie sich? Wie viele Facetten wohnen ihr inne? Ein anderer Aspekt ist theatralischer Art: Mit Monteverdi beginnt die Geschichte der Oper. Seine Musik ist der faszinierende Anfang von Oper mit und durch Musik, und diese Anfangssituation werden wir zum Thema machen, im Bühnenraum und in den fragmentarischen Szenen und Episoden, die darin stattfinden. Es ist ein Moment von Theatralität, dervor dem eigentlichen Beginn von Theater mit konsistenten Figuren und einer ausführlichen Handlung liegt. Es geht mehr um die Emotionen, die die Szenen hervortreiben, und da kann ich mit Tanz und einer abstrakten Choreografie sehr gut ansetzen.

Im Lamento della ninfa etwa klagt eine von ihrem Geliebten verlassene Nymphe. In Combattimento stehen sich Tancredi und Clorinda gegenüber, die aus feindlichen Lagern stammen, sich aber trotzdem lieben und einen Kampf auf Leben und Tod führen. Treten diese Figuren in deinem Musiktheater auf?
Ja und Nein. Es treten Tänzerinnen und Tänzer auf, die diesen Figuren für Momente eine emotionale Beglaubigung geben, aber sie sind nicht diese Figuren. Sie treten nicht als Nymphen auf. Alle Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne sollen durch ihre Kunst, also Gesang und Tanz, das vermitteln, wovon die Musik in ihrem Inneren handelt. Wir streben eine Gleichzeitigkeit von angedeuteter Narration und Abstraktion an. Wir versuchen den ersten Momenten von Musiktheater nachzuspüren, und mich interessiert dabei auch die Fragilität, die in so einem Anfang immer liegt.

Der Hauptakteur in Combattimento di Tancredi e Clorinda ist ein Erzähler, der den Kampf zwischen dem Kreuzritter Tancredi und der sarazenischen Heerführerin Clorinda schildert. Was heisst das für die Umsetzung auf der Bühne?
Es ist für einen Regisseur oder Choreografen immer eine grosse Herausforderung, wenn auf der Bühne erzählt wird, was geschieht. Dann macht es nämlich keinen Sinn mehr, es auch noch zu zeigen. Zeige ich es trotzdem, gibt es eine ungute Verdoppelung von Erzähltem und Gezeigtem. Das ist das Problem. Aber das Tolle an Monteverdis Musik ist ja, dass man bereits in den Beschreibungen des Erzählers den dramatischen Kampf hört, die wütenden Schwertschläge, das Blut, das aus den Wunden rinnt, das Entsetzen, das Seufzen. Alles ist musikalisch vor allem durch Sprache umgesetzt. Alles ist auch ohne Bühne da. Unsere Aufgabe ist es, diese Dramatik nicht durch eine zusätzliche szenische Bebilderung zu schwächen, sondern ihre emotionale Kraft zu verstärken, und das geht meiner Meinung nach nur mit Abstraktion in der Choreografie. Das Publikum soll gewissermassen mit dem Auge zuhören. Das wäre mein Wunsch.

Du sagst, du willst die Anfangssituation von Theater zum Thema machen. Kannst du etwas konkreter beschreiben, was das heisst?
Wir arbeiten alle am Theater, es ist unser Leben. Und es ist für uns selbstverständlich, dass wir auf der Bühne etwas erzählen. Ich finde es spannend, diese Selbstverständlichkeit zu hinterfragen und mit Monteverdi zu reflektieren: Wann beginnt Theater? Aus welchen Energien speist es sich? Durch was wird es in Gang gesetzt? Mein Bühnenbildner Rufus Didwiszus hat für unseren Monteverdi­Abend einen Raum geschaffen, der Vieles ist: Man kann in ihm eine Landschaft sehen, den Innenraum eines geschlossenen Caféhauses, eine Wartehalle. Es liegen Requisiten herum. Der Ort verströmt eine melancholische Grundstimmung. In einer solchen Offenheit kann theatralische Kreativität entstehen.

Besteht nicht die Gefahr, dass ein Abend mit Monteverdis Musik im Liebes­schmerz absäuft?
Ich hoffe nicht, dass das passiert. Ich habe in der Vorbereitung des Stücks nach einem musikalischen Kontrast zu Monteverdi gesucht. Ich wollte eine Leichtigkeit in die Produktion tragen und Humor, der den Schwermut der Lamenti bricht. Wir sind dann auf italienische Popsongs der sechziger und siebziger Jahre gekommen, die wir zwischen die Monteverdi­-Stücke geschnitten haben. Monteverdis Texte handeln ganz oft von Liebeskummer und Verlassensein und haben darin viel Ähnlichkeit zu Schlagertexten, die wir heute hören. In die Stille zwischen den Madrigalen erklingen bei uns Schlager vom Band. Die vierhundert Jahre alte Musik schlägt in die Gegenwart von heute um, und aus dieser Stimmung entwickelt sich die nächste Monteverdi-­Szene. Ich habe es mir humorvoll vorgestellt, wenn nach Monteverdi plötzlich Adriano Celentano kommt. Aber in den Proben haben wir dann festgestellt, dass die Stimmungslage sich gar nicht so sehr ändert. Die Melancholie bleibt. Sie liegt über der Musik aus beiden Genres, obwohl die so unterschiedlich sind. Trotzdem ist der Kontrast wichtig, denn das Combattimento di Tancredi e Clorinda beispielsweise ist so aufwühlend, dass man sich unweigerlich fragt, wie ein Abend nach diesem Stück überhaupt noch weitergehen kann. Das geht nur über einen scharfen Kontrast, durch Humor. Schade, dass das nur auf der Theaterbühne möglich ist und nicht im wirklichen Leben. Da würde man ja manche katastrophische Entwicklung auch gerne mit einem Witz relativieren, aber das hilft leider nicht.

Du sprichst wahrscheinlich die Corona­-Situation an. Ich habe manchmal das Gefühl, dass die Art, wie in diesem Stück das Theater aus dem Nichts und dem Stillstand wieder Raum zu greifen versucht, auch mit der Erfahrung des Lockdowns zu tun haben könnte. Reagiert das Projekt auf die Zeit, in der an den Theatern Spielverbot herrschte und phasenweise nicht einmal geprobt werden konnte?
Die Idee zu Monteverdi ist eigentlich schon älter. Die hat uns schon beschäftigt, als es Corona noch nicht gab. Ich hab mich gefragt, wie es künstlerisch mit dem Ballett Zürich weitergehen könnte, als wir so erfolgreich waren, etwa nach Nussknacker und Mausekönig. Sollen wir die Handlungsballette und die konventionellen Formen weiter bedienen, oder sollen wir weitergehen und Grenzen ausloten? Bei Helmut Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern haben wir das getan, das Werk war noch nie als Ballett zu sehen, und fünfzig Tänzerinnen und Tänzer haben sich über einen sehr langen Zeitraum mit komplexer zeitgenössischer Musik auseinandergesetzt. In unserem Monteverdi­-Projekt sehe ich auch einen Versuch, aus den konventionellen Bahnen des Balletts auszubrechen und künstleri­sches Neuland zu betreten. Leicht fällt das nicht. Es tauchen in der Entstehung des Abends jeden Tag mehr Zweifel und Fragen in meinem Kopf auf. Ich glaube, es gibt keine Produktion, mit der ich mehr kämpfen musste. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass die Genialität von Monteverdis Musik in ihrer Einfachheit liegt. Da trifft alles ins Schwarze. Anders als eine Oper von Verdi, die ohne Szene gar nicht denkbar ist, brauchen die Sachen eigentlich kein Theater und erst recht kein Ballett. Aber sie lassen einen auch nicht los, weil sie so wundervoll sind. Ich hoffe, wir finden bis zur Premiere noch Antworten auf die vielen Fragen.

Das Gespräch führte Claus Spahn.
Dieser Artikel ist erschienen im MAG 88, Januar 2022.
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Hintergrund


Der weite Blick der Weltverlorenen

Die Musik von Claudio Monteverdi, sagt man, seit melancholisch. Aber was ist eigentlich Melancholie? Für den ungarischen Kunsttheoretiker László Földényi ist sie mehr als eine schwermütige Stimmung. Für ihn ist sie eine Haltung zur Welt.

Herr Földényi, wir wollen mit Ihnen über Melancholie reden. Sie haben zwei vielbeachtete Bücher darüber geschrieben, zuletzt das Lob der Melancholie. Ist die Melancholie Ihr grosses Lebensthema?
Das scheint so zu sein, ja. Ich komme von dem Thema nur schwer los. Auch andere meiner Bücher, etwa über Caspar David Friedrich oder Heinrich von Kleist, hatten mit Melancholie zu tun. Diese beiden Künstler sind in meinen Augen auch grosse Melancholiker. In meinem ersten Buch aus den achtziger Jahren habe ich die Geschichte der Melancholie erforscht und war fasziniert davon, wie unterschiedlich sie in den verschiedenen Epochen bewertet wurde. Für die Griechen waren viele herausragende Persönlichkeiten Melancholiker, von den Heroen bis zu Philosophen wie Empedokeles oder Platon. Im Mittelalter galten die Geisteskranken und Gottesleugner als Melancholiker. In der Renaissance waren es hauptsächlich die grossen Künstler, im 17. und 18. Jahrhundert die Faulen, die vom Leben Gelangweilten und die Aussenseiter der bürgerlichen Gesellschaft. Im 19. Jahrhundert verdrängt der Begriff der Depression die Melancholie, und im 20. Jahrhundert wird sie zum kitschigen Gemeinplatz: Melancholisch war ein schöner Spaziergang im Sonnenuntergang am Meer und ähnliches.

Aber der depressive Mensch im Verständnis unserer Zeit ist nicht gleichzusetzen mit dem Melancholiker, über den Sie reflektieren. Wie lässt sich das Phänomen der Melancholie denn für uns heute fassen?
Nach der Beendigung meines Buches über die Geschichte der Melancholie hat mich der Gedanke nicht mehr losgelassen. Wenn man trotz unterschiedlichster Deutungen immer am Begriff «Melancholie» festgehalten hat, muss es über die Jahrhunderte hinweg einen gemeinsamen Nenner geben, und dem bin ich in meinem zweiten Buch nachgegangen. Ich wollte herausfinden, was die griechischen Philosophen, die Herätiker, die Gelangweilten und die Genies gemeinsam haben. Man kann die Melancholie nicht auf einen klaren Begriff reduzieren, aber ich habe festgestellt, dass sie schon immer mit einem Verlust des Weltvertrauens einherging. Melancholiker haben die schwarzen Schatten über der jeweiligen Zivilisation wahrgenommen, und sie waren überzeugt, dass es noch etwas hinter der Hülle der realen Welt geben muss. Das klingt nach einem religiösen Gedanken, aber die Melancholiker sind nicht religiös. Der Gläubige hat ein festes Vertrauen ins Jenseits, der Melancholiker nicht. Trotzdem kann der Melancholiker nicht akzeptieren, dass die reale Welt die endgültige Verfasstheit unseres Daseins ist, es muss noch etwas anderes geben. Der Dichter Charles Baudelaire hat in einem Aufsatz über die «irritierende Melancholie» geschrieben, die der Musik und der Poesie entspringt. Sie brächte uns eine Welt, die jenseits des Grabes liegt, zum Vorschein. Das fand ich einen schönen Gedanken. Baudelaire sieht das Jenseits hier bei uns, nur wir bemerken es nicht. Im Bekannten das Unbekannte zu erkennen, sei Melancholie. Ich stimme Baudelaire zu. Melancholie hat mit Offenheit für Metaphysik zu tun.

Das Melancholische bringen wir immer mit einer gewissen Gestimmtheit des Menschen in Verbindung. Wenn der Begriff aber so gross und so weit gedacht ist, in welche Stimmung gerät dann der melancholische Mensch?
Mich stört es, wenn man Melancholie auf Schwermut, Traurigkeit, Niedergeschlagenheit oder Weltschmerz reduziert. Man kann als Melancholiker auch heiter und glücklich sein. Novalis war oft heiter, aber ein grosser Melancholiker. Für den englischen Romantiker John Keats war die Melancholie «the very temple of delight». Melancholie ist mehr als ein Gefühl, sie ist eine Art von Weltsicht. Der Melancholiker will unsere Welt in Richtung des Unbekannten erweitern. Das Unbekannte kennt er nicht, aber es zieht ihn an.

Ist die Melancholie ein erstrebenswerter Zustand für den Menschen?
Ich würde sagen, man strebt nicht nach Melancholie, sondern man wird melancholisch, ohne es zu merken. Wenn man sich in Musik vertieft, hört man am Ende etwas, das über die Musik hinausgeht. Der Schriftsteller Louis­-Ferdinand Céline sagte, in jeder Musik stecke ein einziges Lied, und das sei das Lied vom Tod. Der Gedanke, dass aus jeder Musik die ungeschriebene Weise vom Tod herauszuhören ist, gefällt mir. Diese Erfahrung kann man nicht nur bei Monteverdi oder Gustav Mahler machen, sondern selbst bei Haydn, der helle Musik komponiert hat.

Welches Verständnis von Melancholie hatte man zu Lebzeiten von Monteverdi im 17. Jahrhundert?
Ein typischer Melancholiker in der Spätrenaissance war der italienische Neuplatoniker Marsilio Ficino. Er hatte ein zwiespältiges Verhältnis zu seiner eigenen Melancholie. Einerseits litt er daran und beklagte sich ständig: «Warum bin ich im Zeichen des Saturn geboren? Warum bin ich so unglücklich?» Anderswo schreibt er dann, dass gerade Saturn für die geistige Ausserordentlichkeit verantwortlich sei. Der Zwiespalt, einerseits verdammt und andererseits ein Auserwählter zu sein, war typisch für die Renaissance. Zu Monteverdis Zeiten war man stolz auf diesen Zwiespalt.

Die Renaissance steht für das grosse Erwachen des Menschen in der Kunst, wie es ja auch bei Monteverdi zu erleben ist. Öffnet dieses aufblühende Ich­-Bewusstsein auch der Melancholie die Pforten?
Das kann man so sagen. Die Melancholie hat in dieser Zeit eine grosse Epoche. Das Ich im neuzeitlichen Sinne wird hier geboren, immer mehr Schichten des Individuums kommen zum Vorschein, voll mit Widersprüchen natürlich. Wenn man Vasaris Lebensgeschichten der grossen Maler liest, stellt man fest, wie viele von ihnen Melancholiker waren. Das macht sie unglücklich und befähigt sie gleichzeitig dazu, geniale Werke zu schaffen.

Es gibt ein berühmtes Buch, das im 17. Jahrhundert entstanden ist, Die Anatomie der Melancholie von Robert Burton. Sie kennen es natürlich. Kann man aus der Existenz dieser grossen Abhandlung schliessen, dass die Epoche Monteverdis nicht nur eine melancholische war, sondern auch eine, in der besonders intensiv über das Wesen der Melancholie nachgedacht wurde?
Das würde ich so nicht sagen. Die Melancholie ist von jeher ein Gegenstand der Reflexion, schon bei Aristoteles. Die Melancholie ist geradezu eine Condition humaine. Sie gehört zum Menschsein.

In den Madrigalen und Lamenti von Monteverdi geht es ganz oft um Liebesschmerz. Die Einsamen und Verlassenen klagen ihr Leid. Ist denn Liebeskummer überhaupt ein Ausdruck von Melancholie, so wie Sie sie verstehen?
Natürlich. Liebe ist immer eine Form von Selbstverlust. Man verliert sich, wenn man verliebt ist, egal ob die Liebesgefühle einseitig oder gegenseitig sind, und gerade in den Situationen, in denen man kopflos ist, ist man am nächsten bei sich selbst. Das ist eine sehr melancholische und vielversprechende Gefühlslage.

Bei Monteverdi ist dem Schmerz der Liebeskranken immer auch eine Süsse beigemischt, ein Genuss. Ist der Teil der Melancholie?
Unbedingt. Das Schwelgen gehört dazu. Mir fällt da sofort das berühmte Schluss­ Duett «Pur ti miro, pur ti godo» aus Monteverdis Oper L’incoronazione di Poppea ein, das finde ich einfach wunderbar. Poppea und Nerone sind am Ende und überschreiten in dem Duett eine Grenze, nicht ins Jenseits, sondern in eine Sphäre, in der alles, was bisher geschah, nebensächlich wird. Das ist unendlich traurig und zugleich voller Glück. Auf diese Art eine Oper zu beenden, ist einmalig.

In dem Madrigal Interrotte speranze, zu deutsch «Erstickte Hoffnungen», will das lyrische Ich die «wilde Liebesglut nur noch mit Seufzern nähren und den Kummer vor spähenden Augen verstecken». Ziehen sich Melancholiker immer in die Einsamkeit zurück, oder ist auch eine kollektive Melancholie denkbar?
Das bezweifle ich. Ich glaube, die Melancholie ist ein sehr privater Zustand. Oft bemerkt man die Melancholie erst, nachdem der Zustand schon vorbei ist. Und oft merkt man überhaupt nicht, dass man gerade melancholisch ist. Lord Byron beschreibt in seinem Tagebuch, wie er an einer Festtafel seine Gäste unterhielt. Er war lustig, glänzte, alle lachten, und zu seiner Frau rief er: «Siehst du, Bell, und mich nennt man einen Melancholiker!» Sie erwiderte: «Ja! Du bist der melancholischste Mensch der Welt, und gerade, wenn du am fröhlichsten bist.»

Der Choreograf unserer Monteverdi­-Produktion, Christian Spuck, hat den Abend in Fragmentform angelegt als ein Puzzle mit vielen offenen Enden, und schon in den Proben ist zu spüren, dass sich durch diese Form in Verbindung mit Monteverdis Musik Räume für eine ganz eigene weltverlorene Stimmung auftun. Gibt es Verbindungen zwischen dem Fragmentarischen und dem Melancholischen?
Fragmente sind immer wichtige Herausforderungen. Besonders in der Romantik spielen sie eine grosse Rolle. Wenn das Fragment nicht als abgebrochener Teil eines einheitlichen Ganzen erscheint, sondern nur als Fragment existiert, ist es ein typisches Symbol der Melancholie.

Sie schreiben in Ihrem Buch, der Melancholiker nehme Welt in Stücken wahr, und zitieren John Dunne, der schreibt: «Alles in Scherben ohne Bezug, hier ist zu wenig und dort nie genug.»
Wir leben eigentlich in Fragmenten. Der Weg von der Geburt bis zum Tod ist ein Fragment, nichts anderes. Natürlich streben alle Religionen danach, dieses Fragment des Lebens in ein grosses Ganzes einzubetten. Der Melancholiker zweifelt daran und geniesst das Leben als Fragment.

In der Moderne ist das eine sehr unzeitgemässe Lebenseinstellung. Wir wollen die Welt immer zu einem sinnhaften, kompletten Ganzen zusammensetzen.
Ja, das machen diejenigen, die alles erklären wollen, die Technokraten, die Gläubigen. Der Melancholiker geht einen anderen Weg. Er kann die Unlösbarkeit von Dingen akzeptieren.

Ist die Melancholie also auch ein Affront gegen die Moderne?
Schon. Sie ist eine anachronistische Anlage. Sie ist jetzt kein aggressiver Akt gegen die moderne Welt, aber wenn man melancholisch wird – und das erlebt jeder Mensch –, erkennt man, wie ungenügend all das ist, was uns horizontal umgibt. Die Moderne möchte für alles Lösungen finden, aber das geht natürlich nicht.

Wird die Melancholie in unserer Zeit als Depression pathologisiert?
Die Depression ist eine Krankheit, die man behandeln muss mit Medikamenten und Therapie, sie ist eine Last. Aber Melancholie ist keine Last für den Menschen. Sie macht einen offen für Fragen, die wir sonst nur selten stellen. Diese vermeintliche Gewissheit, dass wir alles im Griff haben, wird von den Melancholikern in Frage gestellt, etwa in Situationen übergrosser Trauer, überfliessender Liebe, kathartischen Kunstgenusses oder einem Zustand der Extase. Dann hat man das Gefühl, dass es wichtigere Horizonte gibt als die, die wir jeden Tag um uns herum sehen. Ich glaube, Melancholie ist eine sehr gesunde Einstellung zur Welt.

László Földényi zählt zu den bedeutendsten ungarischen Intellektuellen und leitet als Professor den Lehrstuhl für Kunsttheorie an der Akademie für Theater und Film, Budapest. Sein Buch «Lob der Melancholie» erschien 2019 im Verlag Matthes & Seitz und wurde mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet.

Das Gespräch führten Michael Küster und Claus Spahn
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 88, Januar 2022.
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Die geniale Stelle


Liebe und Krieg

Neun Takte aus Claudio Monteverdis «Il combattimento di Tancredi e Clorinda»

So etwas hat es gegeben! Ein Komponist präsentiert sein neuestes Werk und erntet helle Begeisterung, weil seine Musik ganz modern ist, nur so strotzt von kühnen Harmonien, neuartigen Klangfarben und ungewöhnlichen Spieltechniken. Die Zuhörer lauschen mit angehaltenem Atem einer Erzählung, die sie zwar gut kennen, aber noch nie so gehört hatten. Ein Werk der musikalischen Avantgarde eroberte sein Publikum im Sturm. Das waren noch Zeiten!

Mehr noch: Monteverdis Vertonung einiger Verse aus Torquato Tassos Epos Das befreite Jerusalem mutet auch nach fast vierhundert Jahren noch frisch und fast zeitgenössisch an. Erzählt wird eine Episode der Zeit des ersten Kreuzzugs: Der christliche Ritter Tancredi kämpft in der Nacht mit der sarazenischen Kriegerin Clorinda, die er für einen Mann hält. Zu spät erkennt er, dass er die Frau getötet hat, die er über alles liebte. Sie vergibt ihm, bittet ihn um die Taufe und stirbt in seinen Armen. Das ist eine Geschichte, die ein grosses Orchester mit reichem Schlagwerk zu verlangen scheint – Monteverdi beschränkt sich auf drei Singstimmen und ein kleines Streicherensemble und vollbringt das Wunder, durch geschickten Einsatz neuer Techniken wie Tremolo und Pizzicato den Lärm der Schlacht und die Wut der Krieger so plastisch zu schildern, dass sich der Zuhörer mitten in das Geschehen versetzt fühlt. Aber nicht nur diese spektakulären Effekte begeistern; vielleicht noch erstaunlicher ist Monteverdis Fähigkeit, mit feinsten Ausdrucksnuancen das ganze Spektrum menschlicher Empfindungen von wütendem Hass bis zur zärtlichsten Liebesgeste auszudrücken und so auf kleinstem Raum eine gewaltige, tief ergreifende Tragödie zu gestalten.

Wer in diesem Werk die eine «geniale Stelle» sucht, wird sich nicht entscheiden können, denn hier ist buchstäblich jeder Takt ein Geniestreich. Das zeigt schon der scheinbar ganz unauffällige Anfang: «Tancredi, der Clorinda für einen Mann hält, will sich mit ihr im Kampf messen.» Mit dieser schnörkellosen Mitteilung beginnt das Stück, und die Singstimme scheint denselben trockenen Ton anzuschlagen, indem sie den Text auf einem einzigen Ton psalmodierend vorträgt. Aber etwa in der Mitte der Phrase schleicht sich eine kleine Abweichung ein: Plötzlich sinkt die Stimme um einen Ganzton nach unten, um aber sofort wieder aufzusteigen. Ein winziges Zittern der Stimme, das auf die emotionale Beteiligung des Erzählers hindeutet. Wenn in der Folge ausgesprochen wird, dass sich Tancredi mit dem vermeintlichen Gegner im Kampf messen will, gibt es aber kein Halten mehr: Die Stimme sinkt mit einer resignierten Geste um eine Quinte ab, die letzten beiden Töne der Phrase sehr lang dehnend, was den trauervollen Gestus der Phrase noch einmal unterstreicht. Was man in der ersten Halbphrase vielleicht noch überhören konnte, tritt nun deutlich hervor: Der Erzähler referiert nicht unbeteiligt, sondern ist selbst von dem Geschehen, das er berichtet, zutiefst ergriffen, auch wenn er seine Rührung verbergen möchte. Denn was dieser karge Einleitungssatz ausspricht, ist der tragische Kern des Geschehens: dass die Liebenden Krieger sind, dass der Krieg sie zum Kampf treibt, der beide zerstört. So spektakulär Monteverdis Musikgemälde des blutigen Kampfes ist, die eigentliche Grösse liegt in dieser sparsamen, tief mitfühlenden und dabei ganz unsentimentalen Zeichnung der seelischen Dimension des Geschehens.

Text von Werner Hintze.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 89, Februar 2022.
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Volker Hagedorn trifft...


Emma Ryott

Emma Ryott stammt aus England. Sie arbeitete für das English National Ballett und die Royal Shakespeare Company. Heute ist sie international als Kostüm- und Bühnenbildnerin tätig. Eine enge Zusammenarbeit in den Bereichen Ballett und Oper verbindet sie seit 2003 mit Christian Spuck. Auch für seine Inszenierung «Monteverdi» kreiert sie die Kostüme. Ein Text aus dem Jahr 2022.

Wenn Emma Ryott im Kino sitzt, schaltet sich ihr Extraauge ein. So, wie sie es mit der Hand andeutet, sitzt es, natürlich unsichtbar, links an der Schläfe und speichert nützliche Eindrücke für ihren Job, an den die Kostümbildnerin dann eigentlich nicht denkt. «Ich gehe ja ins Kino, um hineingezogen zu werden, to get involved!», sagt sie. Aber die Elster in ihr, wie sie sie nennt, schläft nie, «hmmm, this could be interesting…», und trägt alles ins Nest, die Kinobilder und noch viel mehr, «Sachen aus dem Internet, Zeitungsartikel, und was man in irgendeinem Fenster sieht, Magazine, Modemagazine, auch alte Kollektionen, es gibt Designer, die ich sehr mag, Jean Paul Gaultier, Alexander McQueen…» Das alles fliesst ein in den inneren Fundus und verwandelt sich irgendwann in Stoff und Farbe, Rüschen und Rüstungen, in das, was Schauspieler, Sängerinnen, Tänzer auf der Bühne tragen. Während wir in der Zürcher Opernkantine zusammensitzen, werden in den Werkstätten ein paar Meter weiter silberne Applikationen auf schwarze Gewänder gestickt, einfachere Kleider hängen schon reihenweise auf Bügeln, «250 Kostüme, alles in allem», sagt Emma. Nicht, weil so viele Tänzerinnen und Sänger auf der Bühne wären in Monteverdi, dem neuen Ballett von Christian Spuck – aber es gibt zwei Besetzungen, und jede und jeder darin wird immer wieder mal etwas anderes tragen.

Emma Ryott selbst trägt dezentes Beige. «Als Kostümdesignerin laufe ich neutraler herum als die Leute, die ich kostümiere. Ich muss nicht die grosse Präsenz haben. Manche ja, aber ich nicht. Ich bin keine Performerin und will auch keine sein.» Ihr kann die grosse Präsenz genügen, die ihre Arbeit international und besonders im Œuvre des Choreografen Christian Spuck geniesst, mit dem sie seit achtzehn Jahren zusammenarbeitet. Über Monteverdi sprachen die beiden zuerst vor einem Jahr in Moskau, wo Emma für seine Choreografie Orlando das Bolschoi Ballett einkleidete. «Die Musik war dabei noch gar nicht so wichtig, wie sie am Schluss sein wird. Wir sprachen über Atmosphäre mehr als über alles andere. Später dann über Farben, über die basic colour world. Wir wollen diesmal viel mehr Farbe nach so vielen monochromen und disziplinierten Paletten. Wir wollen mehr Freiheit, und wir wollen die Geschichte über Farben erzählen.» Der Haken ist nur, dass es keine Geschichte gibt, auch wenn Monteverdis Combattimento eines der aufregendsten Liebesdramen der Musik ist. Zusammen mit anderen Werken wird ein abstraktes Ballett daraus, «und das ist schwer hinzukriegen, nicht ohne Kopfzerbrechen!»

Trick ist es, eben doch eine Geschichte zu erzählen, mit den Kostümen. Vom story telling mag sie nicht lassen, seit sie mit zwölf, dreizehn Jahren von Shakespeares Henry V. überwältigt war, in Stratford-­upon­-Avon. «Das war ein Schulausflug», sagt sie, «ich fand die Ausstattung unbeschreiblich. Ich dachte, das möchte ich auch können, so etwas entwerfen!» Und so studierte sie, jüngste von drei Töchtern einer Lehrerin und eines Werbefachmanns, Theaterdesign in Nottingham. Dann wurde sie Kostümbildnerin beim English National Ballett. Es folgten dreizehn Jahre bei der Royal Shakespeare Company, zuletzt als Kostümchefin, schliesslich machte sie sich auch mit der Oper vertraut und wurde selbstständig.

«Ich musste meine eigene Stimme finden», meint sie. Das gelang ihr auf dem Kontinent. «Es gibt hier mehr Möglichkeiten, es ist ein wunderbares Theatersystem auf eurer Seite vom Teich, aus historischen Gründen. In England ist der Respekt vor dem gesprochenen Wort gross, aber weniger der vor den visuellen Künsten, überhaupt werden die Künste nicht als Teil des Stoffs des Lebens gesehen, eher als Spezialität.» «The fabric of life» ist eine passende Metapher bei einer Frau, die Stoffe über alles liebt. «Kostüme entwerfen ist wie mit Stoffen malen, sie haben eine Sprache. Alle Kleider haben eine Sprache, auch das, was Sie jetzt tragen. Das ist unbewusst. Sie merken es nicht mal!»

Sie lacht, und ich wage nicht zu fragen, was wohl kleine blaue Knöpfe an einem weissen Hemd über mich erzählen könnten. Aber – welche Sprachen sieht sie denn in den Strassen der Städte, in denen sie unterwegs ist? «Hier in Zürich sind die Leute gut angezogen in die französische Richtung, sie wollen gut aussehen, schick oder casual, aber auf Nummer sicher. In London sieht man viel extremere Dinge, das mag ich. Sehr eklektisch, bunt, spannungsgeladen. Sie wollen etwas sagen. Hier bin ich! Natürlich nicht alle…» Der Wechsel der Moden über die Jahre ist ihr neulich an eigenen Entwürfen von 2006 aufgefallen, «die Art des Zuschnitts, wirklich seltsam. Schultern sehr gross, Taille sehr klein. Das habe ich gemacht? Das war fast ein Schock, jedenfalls sehr überraschend.»

Die Suche nach der neuen Kleidersprache von Monteverdi war mit den ersten Gesprächen über die Farbpalette natürlich nicht zu Ende. «Ich sammelte Bilder, und wir trafen uns, um zu gucken, worauf wir wie reagieren, was wir mögen. Dann kam ich mit der Kostümabteilung zusammen, erzählte die Ideen, machte Zeichnungen, und wir kreierten eine Art Kollektion. Die können hier wirklich alles. Sie schufen grosse Kostüme, prunkvoll, extravagant, historisch orientiert am 17. Jahrhundert, aber wir fanden, es ist nicht die richtige Richtung. Man muss das vereinfachen, um die Essenz des Stückes zu treffen.»

Wie der Bühnenbildner Rufus Didwiszus, mit dem sie auch diesmal zusammenarbeitet, kennt Emma die Krise auf halbem Weg, «den Punkt, an dem man sich fragt: Was tun wir, wo soll das hingehen? Ist alles, was ich mache, schrecklich? Hat es Sinn? Spricht es zum Publikum?» Dann müsse man einen Schritt zurücktreten: «Okay, schauen wir uns das mal an.» Ja, schauen wir uns das an. Es gibt immer noch weisse Halskrausen, aber so elegant, leicht, reduziert, dass man fast beim Bauhaus ist. Hemden wurden genäht, deren Textur entfernt an Kettenhemden denken lässt – aber nicht explizit. Und alles wirkt schlank.

«Die Bewegungsgeschwindigkeit der Tänzerinnen und Tänzer hat selbst eine Stimme, man darf da nicht zuviel drauftun, am wenigsten bei einem abstrakten Ballett.» Zugleich sind da, gar nicht abstrakt, die Persönlichkeiten. «Christian wählt für bestimmte Bewegungen bestimmte Tänzer aus, das versteht man erst, wenn man eine Weile mit der Compagnie zusammen war. Und das kann ich unterstützen. Ein Kostüm hilft auch, die Rolle und sich selbst zu entdecken, es kann ihnen den kleinen Schubs geben, von dem sie gar nicht wussten, dass sie ihn brauchten.»

Das ist eine schöne Beschreibung für das, was Theater auch mit den Menschen machen kann, die es besuchen. Einmal nahm Emma ihren vierjährigen Sohn mit nach Stratford­upon-­Avon, den Ort ihrer Erweckung, es gab Wie es euch gefällt. «Er war vollkommen gebannt vom Schnee auf der Bühne. ‹How come it’s snowing on stage, mum?›» Das habe er, nun erwachsen, längst vergessen, aber nicht, dass da etwas Wunderbares geschah. Voriges Jahr hat sie für ein kleines Sommerfestival in Oxfordshire Wagners Rheingold ausgestattet. «Es gab Vorstellungen für Schülerinnen und Schüler, und es war auf Deutsch! Natürlich gab’s auch ein bisschen unruhiges Füssescharren. Mit elf, zwölf kann man nicht alles interessant finden. Aber sie waren hingerissen, sie waren mitten drin!»

Für Emmas eigenen Weg war übrigens nicht nur der Schulausflug zu Shakespeare bedeutsam, sondern auch das BBC­-Fernsehen am Samstag. «Da gab es die frühen Hollywoodfilme, schwarzweiss, die habe ich mit meinen Schwestern angeschaut. Seitdem ist Edith Head mein Vorbild.» Die Frau, die Kostüme für Bette Davis, Audrey Hepburn, Ginger Rogers, Elizabeth Taylor, für Fred Astaire, Cary Grant entwarf. «Sie war eine Meisterin, absolut unglaublich!» Emmas Extraauge, das war schon früh aktiv.


Ein Text von Volker Hagedorn.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 88, Januar 2022.
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