Boléro / Le Sacre du printemps
Choreografien von Johan Inger und Edward Clug
Musik von Maurice Ravel (1875-1937), Arvo Pärt (*1935) und Igor Strawinsky (1882-1971)
Dauer 1 Std. 35 Min. inkl. Pause nach ca. 30 Min. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.
Gut zu wissen
Interview
Ich weiss selbst nicht, ob es ein Traum ist
In der Saison 20/21 tanzte das Ballett Zürich zum ersten Mal ein Stück von Johan Inger. In «Walking Mad» verschwimmen die Grenzen von Tanz und Theater. Zur berühmten Musik von Maurice Ravels «Boléro» treffen drei sehr unterschiedliche Frauen aufeinander. Michael Küster hatte vor der Premiere mit dem schwedischen Choreografen über seine Karriere und das Stück gesprochen.
Johan Inger, Sie stammen aus Schweden und gelten heute als einer der gefragtesten Choreografen aus Skandinavien. Ist dieses «skandinavisch» in Bezug auf den Tanz eigentlich eine künstlerische Kategorie oder nur eine Marketing-Erfindung?
Genau wie die vielen Referenzen und Erfahrungen aus Kindheit und Jugend, die uns als Menschen geprägt haben, trägt man, glaube ich, auch das Land, aus dem man kommt, in sich. Was die Choreografie betrifft, so stellt sich die Situation für Skandinavien und insbesondere für Schweden sehr übersichtlich dar. Schweden ist ein grosses Land mit relativ wenig Menschen. Ich sehe hier eine Verbindungslinie, die von Birgit Cullberg, der Lichtgestalt des schwedischen Balletts, über Mats Ek zu Choreografen wie mir oder auch Alexander Ekman führt. In unserer Tanzsprache gibt es durchaus so etwas wie einen «Swedish Approach».
Woran kann man diesen schwedischen Zugang festmachen?
In unserer choreografischen Sprache entdecke ich oft etwas sehr Erdverbundenes und Bodenständiges. Es gibt eine gewisse Einfachheit und Direktheit, die Verkomplizierungen zu vermeiden sucht. Ich empfinde unsere Kunst als sehr «anti-barock», was sicher unseren Traditionen, unserer Volksverbundenheit geschuldet ist. Oft findet sich eine Leichtigkeit und ein sehr eigener Sinn für Humor. Ohne nostalgisch zu sein, wohnt dieser choreografischen Sprache jedoch auch eine gewisse Schwere inne, eine besondere Art von Melancholie, die verbunden ist mit Gefühlen der Einsamkeit und Dunkelheit. Das Ganze ergibt eine sehr spezielle Mischung.
Nach einem ersten Engagement beim Royal Swedish Ballet waren Sie in den Neunziger Jahren einer der charismatischsten Tänzer des Nederlands Dans Theaters (NDT), das damals vor allem von Jiří Kylián geprägt wurde. Wie findet man in dieser Umgebung zu einer eigenen choreografischen Sprache?
Die wenigsten Choreografen verfügen von Beginn an über einen eigenen Stil, eine unverwechselbare Signatur. Die entwickelt sich meist über einen längeren Zeitraum und hängt von den verschiedensten Einflüssen ab. Sie wird in starkem Mass davon bestimmt, was um einen herum passiert und von dem Potential, das man im eigenen Körper trägt. Das Nederlands Dans Theater habe ich damals als ein «Mekka des Tanzes» empfunden. In seiner Blütezeit vereinte es drei Compagnien mit einem jeweils eigenen Profil unter einem Dach. In den insgesamt fünf Ballettstudios passierten gleichzeitig die unterschiedlichsten Dinge. Man machte eine Tür auf, und da war William Forsythe. Hinter der nächsten Tür choreografierte Jiří Kylián, im dritten Studio waren vielleicht gerade Ohad Naharin oder Mats Ek mit einer neuen Kreation beschäftigt. Das NDT war ein Schmelztiegel der interessantesten Choreografen jener Zeit. Ich erinnere mich, wie ich all die verschiedene Einflüsse geradezu aufgesogen habe. Jiří Kylián ist sicher der Choreograf, den ich durch meine tänzerischen Erfahrungen am meisten in meinem Körper trage. «Kyliánesk» ist mein Werk deshalb aber nicht, choreografisch stehen mir Mats Ek oder Ohad Naharin näher.
Wie haben Sie den Schritt vom Tänzer zum Choreografen erlebt?
Die Entwicklung in Richtung Choreografie kann ich nicht von meiner tänzerischen Existenz trennen. Meine erste Choreografie entstand 1995 für das NDT 2, danach habe ich noch bis 2002 in der Compagnie getanzt. Sieben Jahre habe ich also gleichzeitig getanzt und choreografiert. Dabei habe ich viel aus meinem eigenen Tanz herausgezogen. Anders als viele Kollegen habe ich in meinem Tanzen kein Defizit verspürt, das ich mit dem Choreografieren irgendwie kompensieren wollte. Wenn ich Musik hörte, sah ich Bilder vor meinen Augen und entwickelte Ideen dazu. So hat das Choreografieren angefangen. Als ich noch beim Royal Swedish Ballet tanzte, war keine Zeit dafür. Aber als ich beim NDT anfing, bin ich buchstäblich in eine andere Welt eingetaucht, weil dort im Grunde alle Tänzer auch choreografiert haben. Da habe ich mir gesagt: Versuch es! Mein erstes Stück war ein zweiminütiges Duett, und ich weiss noch wie heute, dass ich mich nie zuvor so ausgeliefert gefühlt habe, nie einen solchen Adrenalinstoss, nie so viel Angst und Aufregung gespürt habe. Danach war ich wie süchtig nach diesem extremen Gefühl.
Nach dem Ende Ihrer tänzerischen Laufbahn haben Sie von 2003 bis 2008 das Cullberg Ballet in Stockholm geleitet, eine Mammutaufgabe…
Das stimmt. Das Cullberg Ballet war in Schweden über lange Jahre das Synonym für Tanz schlechthin. Birgit Cullberg hatte es 1967 gegründet. Als Teil des Rijkstheaters tourte die Compagnie jahrelang durch alle Teile des Landes und verhalf dem Ballett als Kunstform zu grosser Popularität. Das Cullberg Ballet war eine wirkliche Marke, und jeder in Schweden hatte irgendeine Beziehung zu diesem Ensemble oder zur Cullberg-Familie, zu Birgit, ihrem Sohn Mats Ek oder seinem Bruder Niklas, der ebenfalls ein toller Tänzer war. Wann immer man in Schweden über Tanz sprach, kam die Rede irgendwann auf die Cullbergs. Ein grosses Erbe, das man da auf seinen Schultern getragen hat… Diese fünf Jahre waren eine sehr produktive Zeit. Bei jedem neuen Stück machte man im Grunde da weiter, wo man aufgehört hatte. Wir waren sehr kreativ.
Dennoch haben Sie sich dann für eine Laufbahn als freischaffender Choreograf entschieden.
Tatsächlich kommt diese Arbeitsweise meinem Naturell mehr entgegen. Ich werde nicht abgelenkt von administrativen Verpflichtungen, sondern kann mich voll und ganz auf das Stück fokussieren, das ich erarbeiten möchte. Die Leute freuen sich, wenn ich komme, und aus der Frische jeder neuen Begegnung entsteht viel Energie.
Wie hat sich Ihre choreografische Sprache im Laufe der Jahre verändert?
Meine ersten Stücke beim Nederlands Dans Theater waren in der Regel Teile von dreiteiligen Ballettabenden und durften eine gewisse Länge nicht überschreiten. Ich war sehr an diese kleinteilige Form gewöhnt und habe erst 2015 begonnen, in grösseren Formaten und vor allem auch narrativ zu arbeiten. Das war eine Neuentdeckung für mich. In schneller Folge habe ich zum Beispiel eine Carmen gemacht, habe Peer Gynt, Petruschka und auch einen Don Juan herausgebracht. Das war noch einmal ein wichtiger Schritt und ist bis jetzt jedes Mal eine ganz neue Herausforderung. In meinen Stücken versuche ich, menschlich und vor allem ehrlich zu sein. Ich erlebe sie jedes Mal wie eine Reise, bei der man verschiedene Stationen durchläuft und viel über sich selbst erfährt.
Das geht den Tänzerinnen und Tänzern in Ihren Stücken hoffentlich ähnlich. Was erwarten Sie von ihnen?
Da zu sein, wenn es darauf ankommt und Präsenz zu zeigen. Wenn Tänzer die Essenz eines Stückes, das wir erarbeiten, in sich wiederfinden und sie mit ihrer eigenen Authentizität auf die Bühne bringen, macht mich das glücklich.
Mit Walking Mad tanzt das Ballett Zürich jetzt ein Stück, das bereits 20 Jahre alt ist und zu einer Art «Signature Piece» von Johan Inger geworden ist. Was hat es heute mit Ihnen zu tun?
Das Stück hat immer noch eine grosse Bedeutung für mich, und wahrscheinlich würde es ganz ähnlich aussehen, wenn ich es heute entwickeln würde. Wenn man ein Vierteljahrhundert choreografiert hat, erkennt man im Rückblick, dass es neben den Erfolgen auch mittelmässige Stücke und vielleicht sogar Flops gegeben hat. Aber zu Walking Mad kann ich auch heute noch stehen, und die Begeisterung, mit der die Tänzerinnen und Tänzer aus den unterschiedlichsten Compagnien dieses Stück tanzen, ist jedes Mal eine schöne Bestätigung.
In Walking Mad verschwinden die Grenzen zwischen Tanz und Theater. Woher kam die Inspiration für dieses Stück?
2001 sollte ich für das Nederlands Dans Theater ein Stück mit Orchester kreieren. Irgendwie fiel mir Maurice Ravels Boléro in die Hände, und ich erinnerte mich augenblicklich an einen Fernsehbeitrag, den ich Jahre zuvor gesehen hatte. Noch in Schwarz-Weiss dirigierte Sergiu Celibidache damals das weltberühmte Stück. Nachdem er anfangs noch zurückhaltend und beinahe minimalistisch in seinen Bewegungen war, geriet er mit dem immer weiter anschwellenden Crescendo buchstäblich in Rage. Sein Dirigat wurde immer gestenreicher und extremer, seine Frisur geriet aus der Façon, und am Schluss schien es, als würde Celibidache verrückt werden. Die Art, wie mir die Musik präsentiert wurde, beeindruckte mich vor allem in ihrer Theatralität. So eine Verrücktheit wollte ich in Walking Mad einfangen.
Wie ist Ihnen das gelungen?
Für die Bühne benötigte ich eine deutliche Brechung des musikalischen Minimalismus’, einen Kommentar dazu, dass die Musik im Grunde nur eine Konstante in dem Stück darstellt. Die bewegliche Wand, die das Bühnenbild bestimmt, ist von symbolischer Gestalt und gab mir die Möglichkeit, mit unterschiedlichen Räumen zu spielen: von offen und gross dimensioniert bis eng und begrenzt. Das war sehr hilfreich bei der Strukturierung des Stückes. Die Hauptdarsteller, drei Tänzerinnen und ein Tänzer, tanzen und spielen in den sich verändernden Räumen. Sie begeben sich auf eine Reise, auf der sie die verschiedensten Stadien zwischen Verrücktheit und Gewalt durchlaufen. Die Wand ist dabei ein wesentlicher Bestandteil der Choreografie.
Wo kommen die Hauptdarsteller am Ende ihrer Reise an?
Zunächst gibt es einen Mann, der anfangs aus dem Publikum kommt, auf die Bühne tritt und seine eigene Reise beginnt. Er schreitet durch das Stück wie ein Wanderer. Neben ihm wird Walking Mad von drei sehr unterschiedlichen Frauencharakteren geprägt. Sie haben etwas von Tschechows Drei Schwestern. Ich wollte zeigen, dass jede von ihnen auf irgendeine Weise blockiert ist oder in ihrer Lebenssituation feststeckt. Die Jüngste zum Beispiel braucht ständig Bestätigung und Wertschätzung, um sich gut fühlen zu können. Die Zweite geht sehr zerstörerisch mit sich und den Männern in ihrem Leben um. Aber irgendwie kommen diese beiden Frauen in ihrem Leben weiter, nur der Letzten gelingt das nicht. Sie verharrt im Gestern und bleibt, wo sie sich befindet. Im Kontrast dazu sind die Männer – mit einer Ausnahme – eher als Energie, als Masse zu sehen. Sie kreieren im Lauf des Stücks immer neue Situationen.
Wie sind Sie mit Ravels Komposition umgegangen, und welche Rolle spielt Arvo Pärts zerbrechliches Klavierstück Für Alina in diesem Kontext?
Das ganze Stück war eine grosse Herausforderung für mich. Ich musste mich zu Ravels Musik in Beziehung setzen, verbunden mit den Erwartungen des Publikums und meinem eigenen Wunsch, etwas Unvorhersehbares zu schaffen. Wenn man sich mit dem Boléro beschäftigt, kommt man an der sexuellen Aufgeladenheit dieser Musik nicht vorbei. Deshalb war mir schnell klar, dass ich in meinem Stück über die Mechanismen in den Begegnungen von Männern und Frauen erzählen will. Und ich wollte auf keinen Fall mit dem bekannten Boléro-Schluss enden. Das wäre zu einfach gewesen. Jeder weiss ja im Grunde, wie das Stück abläuft. Deshalb war es mir sehr wichtig, die Erwartungshaltung auf Seiten des Publikums zu unterlaufen. Mit Hilfe der Musik von Arvo Pärt habe ich eine Art Echo kreiert. Nach dem Ende des Boléros bleibt nur noch eine Frau übrig – zur fragilen Musik von Pärts Klavierstück Für Alina. Nicht mutig genug, den Sprung zu wagen, wird die Wand für sie zur unüberwindbaren Grenze.
Die geniale Stelle
Wie gern wäre man doch dabei gewesen an jenem 29. Mai 1913 im Pariser Théâtre des Champs-Élysées! Ohrenbetäubendes Geschrei, wutverzerrte Gesichter, zerbeulte Zylinder, zerdroschene Spazierstöcke, abgerissene Frackschösse, herumkullernde Perlenketten, Damen, die sich in Krämpfen winden oder sich in die Frisuren ihrer Sitznachbarinnen verkrallt haben… Die Uraufführung von Igor Strawinskys Ballett Le Sacre du printemps war eine der denkwürdigsten Schlachten um die moderne Kunst, die im vergangenen Jahrhundert geschlagen wurden. Ewig schade, dass man da nicht hat mitkämpfen können! – Oder vielleicht doch nicht?
Wer kann schon wissen, ob er sich für das Neue und die Freiheit der Kunst ins Getümmel gestürzt hätte? Ob er nicht vielmehr auch den Haustürschlüssel gezückt hätte, um mit ohrenbetäubenden Pfiffen den Abbruch der Aufführung zu erzwingen? Denn es war wirklich viel, was Choreograf und Komponist dem Publikum zumuteten. Was sich auf der Bühne zutrug, schien ein einziger Hohn auf die gerade in Frankreich liebevoll gepflegten Traditionen des Balletts zu sein. Dazu dröhnte aus dem Orchester eine wilde Mischung aus wüsten Dissonanzen, kurzatmigen Melodien und hämmernden Rhythmen, die das Orchester immer wieder in ein einziges monströses Schlaginstrument zu verwandeln schienen. Wer will den damaligen Besuchern verübeln, dass sie ausser Stande waren, die Schönheit dieser Musik, ihre Kraft und klangliche Raffinesse zu würdigen und zu geniessen? Wer weiss, wie viele, vom Titel des Werkes in die Irre geführt, ein süsslich klingendes «Frühlingsrauschen» à la Sinding erwartet haben mögen, gefällig garniert mit zarten Elfen und Sylphiden, und sich schändlich betrogen fühlten? Wer sicher ist, dass er es besser gewusst hätte, der werfe den ersten Stein.
Heute, mehr als hundert Jahre später, erfahren in den Klangeruptionen der Musik des 20. Jahrhunderts, haben wir es leichter. Wir hören Strawinskys Huldigung an Tschaikowski, am Beginn des Mystischen Reigens der jungen Mädchen im zweiten Teil des Werkes. Wir hören sie trotz des Schleiers zarter Dissonanzen, der die Melodie der sechs Solobratschen umgibt. Und wir können das kleine musikalische Wunder bemerken, das sich wenig später zuträgt: Vor dem Hintergrund eines leisen Streichertremolos erklingt eine metrisch instabile Flötenmelodie, die ein russisches Frühlingslied sein könnte. Gleich darauf wird sie von zwei Klarinetten übernommen und in Septparallelen wiederholt. Den damaligen Zuhörern, wenn sie die Stelle in dem Tumult überhaupt wahrgenommen haben, wird die Kette von Dissonanzen als freche Provokation erschienen sein. Doch der Komponist hat sehr viel mehr angestrebt und verwirklicht. Das herbe Klanggewand, in das er diese folkloristische Melodie kleidet, befreit sie von allem Pikant-Exotischem, das Volksmusikzitaten in der Kunstmusik der Romantik oft anhaftet. Und zwar paradoxerweise gerade dadurch, dass dieser damals ganz neue Effekt das Fremdartige betont, den Kontrast zu einer aufs Höchste verfeinerten Musikkultur hervorhebt, in deren Kontext sie nun erscheint. Die Melodie wird nicht dem spätromantischen Klangideal unterworfen. Es ist, als würde ein russischer Bauer in das Orchester tappen und mit seiner etwas schrill klingenden Schalmei seine religiöse Verehrung der allmächtigen Natur hörbar machen. Als hätte er eine Tür geöffnet und die herbe Brise des Frühlingsmorgens hereingelassen, den frischen Wind einer Moderne, die sich auf die Tradition stützt und sie aneignet, statt sie zu zerstören, wie die Schreihälse im Zuschauerraum geglaubt haben.
Text von Werner Hintze.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 86, Oktober 2021.
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Gespräch
Edward Clug, Igor Strawinskys Le Sacre du printemps ist ein Meilenstein für die Musik-, aber besonders auch für die Tanzgeschichte. In beiden Kunstformen gibt es ein «vor» und ein «nach» Sacre. Was bedeutet dir dieses Stück?
Immer wieder bin ich davon fasziniert, wie sich in Strawinskys Werk die gesamte Entwicklung der Musik im 20. Jahrhundert spiegelt. Le Sacre du printemps ist bei der Uraufführung 1913 im Pariser Théâtre des Champs-Élysées wie ein Meteorit aus dem All ins Herz der bürgerlichen Musikkultur eingeschlagen. Noch heute freue ich mich an den Augenzeugenberichten dieser Aufführung, die als einer der grössten Skandale in die Musikgeschichte eingegangen ist. Das Spannende liegt für mich vor allem im charakteristischen Wechselspiel der Bewegungszusammenhänge. Strawinskys Musik ist tönende Bewegung, auch wenn die ständigen metrischen Wechsel und die komplizierten rhythmischen Überlagerungen einer tänzerischen Umsetzung erst einmal zu widersprechen scheinen. Dass das jedoch absolut kein Gegensatz ist, haben herausragende Umsetzungen in den letzten einhundert Jahren eindrucksvoll bewiesen. Zum 100-jährigen Sacre-Jubiläum, das die Musikwelt 2013 begangen hat, konnte ich der Versuchung, mich selbst mit dem Frühlingsopfer auseinanderzusetzen, nicht länger widerstehen.
Die Geschichte von Le Sacre du printemps ist natürlich auch eine Historie seiner Choreografen. Wie präsent ist diese Rezeptionsgeschichte in deiner Choreografte?
An den vielen Versionen, die seit 1913 entstanden sind, lässt sich die Tanzgeschichte der letzten 100 Jahre verfolgen. Am meisten haben mich die Umsetzungen von Pina Bausch (1975) und Maurice Béjart (1959) beeindruckt. Béjart hat auf sehr ursprüngliche Weise das Erwachen der Liebe zwischen Mann und Frau in aller Körperlichkeit gezeigt. Pinas sehr theatralische Lesart drang in noch tiefere, allgemein menschliche Dimensionen vor. Mein Zugang zu Sacre verlief jedoch zunächst einmal nur über die Musik. Geradezu magnetisch hat sie mich angezogen und regelrecht herausgefordert. Lange bevor ich daran dachte, Choreograf zu werden. Da ist dieser unerklärliche Moment, wo man diese Musik in seinem Bauch spürt, als würde einem als lebenslangem Vegetarier plötzlich ein saftiges Steak vorgesetzt werden. Ich habe versucht, mich von allen Versionen frei zu machen. Einzig aus der Uraufführungsfassung von Vaslav Nijinsky habe ich zwei Elemente übernommen: die Bärte der Männer sowie die Zöpfe und Wangenbemalung der Frauen. Nijinskys Fassung erscheint mir bis heute sehr hermetisch und in gewisser Weise unantastbar. Ein Universum, das sich nicht von allein öffnet. Es wirkt wie eingefroren, als würde es auf die Jahre warten, die da kommen und einen bis dahin zur Zwiesprache mit seinem Schöpfer auffordern.
Lässt sich nach einer über einhundertjährigen Aufführungsgeschichte überhaupt noch etwas Neues zum Thema Sacre sagen?
Die Herausforderung liegt sicher darin, dass man diese Aufführungstradition mitdenken, sich aber letztlich von ihr lösen muss. Wie bei Nijinsky ist auch mein Ausgangspunkt die heidnische Legende, die ich jedoch in meine Umgebung übersetze. Natürlich denken wir bei Sacre sofort an die grossen, machtvollen Momente, in denen die ganz ursprüngliche Kraft des Rhythmischen so eindrucksvoll zum Tragen kommt. Doch daneben existieren eben auch ganz poetische, ja fast zärtliche Passagen. Mich hat im Sacre-Kontext vor allem die Figur der Auserwählten – der Geopferten – interessiert. In meiner Choreografie wird sie gleich zu Beginn des Balletts vorgestellt. Man weiss sofort, wer sie ist, und wie auf einer Reise begleiten wir sie von diesem Moment bis zu ihrem letzten Atemzug. Das ist ein Unterschied zur Originalversion, wo im ersten Teil ja erst einmal die Rituale der rivalisierenden heidnischen Stämme thematisiert werden. Bei uns ist die Entscheidung über das Opfer bereits gefallen, wenn sich der Vorhang öffnet. Die Auserwählte sondert sich selbst aus der Gruppe ab, sie wird – das erscheint mir ganz wichtig – nicht zu der Opferhandlung gezwungen. Sie hat eine bewusste Entscheidung getroffen, die von Furcht und Stolz gleichermassen geprägt ist. Für sie ist es eine Ehre, die Auserwählte zu sein. Mir kam es darauf an, dass wir die Sacre-Reise aus der Perspektive dieser Frau antreten. Erkennbare Situationen versetzen uns in die Lage, ihrer letzten Reise durch das gesamte Stück zu folgen und eben nicht nur im letzten Solo. Wenn der Auserwählten von zwei Frauen die Zöpfe entflochten werden, ist das ein sehr ergreifender Moment. «Du bist keine von uns mehr», scheinen sie zu sagen, aber dieses Entflechten der Zöpfe hat eine so grosse Zärtlichkeit und geschieht so behutsam, dass jenes Sich-Aufopfern in einem anderen Licht erscheint.
Sein Leben für eine Gemeinschaft hinzugeben, und sei es auch nur einen Teil davon, scheint am Beginn des 21. Jahrhunderts kein sehr populäres Thema zu sein.
Im Gegensatz zu dem vorzeitlichen Ritual des Sich-Opferns, von dem Strawinsky und Nikolai Roerich in ihrem Ballett erzählen, erleben wir heute, wie sehr sich die privaten Interessen des Einzelnen vor das Wohl einer Gemeinschaft stellen. Wir wollen nichts abgeben, nichts teilen, nichts verlieren. Und mit Blick auf unseren Planeten müssen wir feststellen, dass wir anstatt ihr zu opfern, die Erde selbst zum Opfer auserkoren haben. Für ihre Fruchtbarkeit sind wir heute bereit, fast jeden Preis zu zahlen und sägen so an dem Ast, auf dem wir sitzen. Dennoch lag es mir fern, Sacre auf einen Kommentar zur Umweltproblematik herunterzubrechen. Als Choreograf stand für mich das Archaische der heidnischen Legende im Vordergrund. Wenn jemand natürlich meint, Parallelen zu unserer Gesellschaft zu entdecken, übernehme ich dafür keine Verantwortung. (lacht)
Also wirklich gar keine Verbindung ins 21. Jahrhundert?
In Sacre-Aufführungen mit ihren sehr archaischen Bildern realisiert man eigentlich immer, dass wir nicht so fern von den heidnischen Riten, den blutigen Ritualen aus der vermeintlich grauen Vorzeit sind. Sie liegt näher, als uns lieb ist. Am Beginn meiner Beschäftigung mit dem Frühlingsopfer gab es zwar einige Ideen, Sacre mehr im Heute zu verankern. Doch wenn man einmal anfängt, sich zu dieser Musik zu bewegen und versucht, eine bestimmte Essenz herauszufiltern, eliminiert sich jede überflüssige Information fast von selbst. Man kommt auf das Einfachste und Ursprünglichste zurück. Also kein Platz für ölverschmierte Möwen! Die Kraft der Musik, aber auch die tänzerische und darstellerische Stärke meiner Tänzerinnen und Tänzer hat mir geholfen, mich von überflüssigem Ballast zu befreien.
Zur «Anbetung der Erde», wie der erste Teil in Strawinskys Partitur betitelt ist, ergiesst sich in deiner Choreografie Wasser auf die Bühne.
Am Anfang habe ich, ehrlich gesagt, noch gar nicht gewusst, dass wir Wasser benutzen würden. Das hat sich erst im Prozess des Choreografierens so ergeben. Als wir beim «Tanz der Erde» angekommen waren, hat mir die Musik gesagt, dass da etwas vom Himmel fallen müsse. Mir war nicht klar was. Wir haben dann verschiedene Möglichkeiten durchgespielt, und plötzlich ergab das Wasser Sinn, weil es sich ganz aus der Geschichte entwickelt: Wasser als das fruchtbringende und reinigende Element in all seiner Gewalt! In der Introduktion zum zweiten Teil, dem lyrischsten und innigsten Moment der gesamten Sacre-Partitur, kann es dann aber auch eine poetische Qualität entfalten, wenn die Mädchen schwanengleich über das Wasser gleiten.
Wie gehen die Tänzer mit diesem für sie auf der Bühne eher ungewohnten Element um?
Am unangenehmsten ist sicher, dass sich das warme Wasser, das da herabgeschüttet wird, in kürzester Zeit abkühlt. Ein Stück in diesem kalten Nass kreieren und darin tanzen zu müssen, ist – zugegeben – keine sonderlich angenehme Erfahrung. Der Begriff Sacre bekommt da also noch einmal eine ganz neue Bedeutung. Gerade wenn man weiss, wie empfindlich Tänzer normalerweise reagieren können. Da reicht manchmal nur ein Tropfen Wasser, um den Ausnahmezustand nach dem Motto: «Ich tanze nicht!» hervorzurufen. Hier sind es nun gleich 120 Liter, die auf die Tänzer hinunter prasseln. Dass sie das ertragen, hat meinen allergrössten Respekt. Sich auf solch einem ungewohnt rutschigen Untergrund bewegen zu müssen, ist eine Herausforderung. Tänzer sind es gewöhnt, mit äusserster Selbstkontrolle zu agieren. Diese Fähigkeit funktioniert zwar auch auf dieser völlig unberechenbaren Oberfläche, aber durch das Wasser kommt ein Element des Risikos und der Unsicherheit in die Aufführung, das ihr etwas sehr Natürliches verleiht und die Aufmerksamkeit ein wenig von der überstarken Musik abzieht. Es ist ein bisschen, als würde sich durch das Wasser eine gewisse Balance des Stückes herstellen.
Schon in deinen anderen Zürcher Arbeiten hast du Elemente des Bühnenbildes für die Choreografie nutzbar gemacht. Ob Schneehaufen oder quer über die Bühne gespannte Saiten: Die Tänzer werden provoziert, sich zu einem Bühnenbild in Beziehung zu setzen.
Im Fall von Sacre hat mich die Musik regelrecht dazu herausgefordert. Strawinsky scheint die ganze Zeit sagen zu wollen: Lasst uns nicht ruhen! Aber es stimmt. Solche Momente interessieren mich in all meinen Choreografien: Bis wohin kann man gehen, wie weit kann man eine Idee ausreizen und aus ihr ungewohnte Kraft schöpfen? Tanz ist eine Abfolge sich bewegender Bilder. Nur das genaue Timing dieser sich verändernden Sequenzen lässt sie natürlich und glaubwürdig erscheinen.
Wie besetzt man ein Ballett wie Le Sacre du printemps?
Wie jede andere Entscheidung, die im Zusammenhang mit Sacre getroffen werden muss, ist das ein sehr instinktiv verlaufender Prozess. Was will ich? Solisten mit starken Persönlichkeiten oder Tänzer, die sich sehr gut in eine Gruppe einfügen? Die Kombination aus beidem wäre ideal. Bei einem Ensemblestück wie Sacre finde ich eine Gemeinschaft, die wirklich aus verschiedenen Individualitäten besteht, spannender als ein uniforme Masse. Es gibt zwar Momente, in denen die Tänzer unisono auftreten müssen, aber die anderen Momente sind mir ebenso wichtig. Die Masse ist nicht grau!
Deine Sacre-Choreografie kam 2012 beim von dir geleiteten Slowenischen Nationalballett in Maribor heraus. Wie wird sich die neue Zürcher Version von der damaligen Fassung unterscheiden?
Ich bin sehr stolz, dass Christian Spuck dieses Stück ins Repertoire des Balletts Zürich übernimmt. Ich mag diese Choreografie sehr und freue mich, jetzt noch einmal daran zu arbeiten. Ich bin vier Jahre älter geworden und schaue aus einer anderen Perspektive auf dieses Stück. Die Antworten auf einige Fragen, die damals offen geblieben sind, kommen erst jetzt. Die Grundstruktur aus Maribor behalte ich bei, aber ich bin sehr froh über die Gelegenheit, einige Momente noch einmal überdenken und schärfen zu dürfen. Das können einzelne Bewegungen sein, aber auch musikalische Situationen, die nach anderen choreografischen Lösungen verlangen und das Ganze organischer, natürlicher und überzeugender machen. Und natürlich ist so eine Wiederbegegnung immer auch an die jeweiligen Tänzer gebunden. Ihre Persönlichkeiten und tänzerischen Qualitäten rufen nicht selten ganz unerwartete Lösungen hervor.
Was ist das Fazit deiner kreativen Auseinandersetzung mit Strawinskys Musik?
Es hat mich überrascht, wie stark ich beim Choreografieren das Diktat seiner Musik gespürt habe. Man merkt in jedem Moment, dass die Musik nicht nur tänzerische Aktionen begleiten will, sondern selbst deren Quelle, also der Ursprung des Tanzes ist. Die Schwierigkeit für den Choreografen liegt darin, den Kontrapunkt zu dieser Musik zu finden. Natürlich könnte man der Musik einfach folgen oder sie als Krücke benutzen. Doch Choreografie ist Freiheit. Man darf sich nicht zum Sklaven der Musik machen. Man muss im richtigen Moment die richtigen Prioritäten setzen und nicht versuchen, die Musik zu übertrumpfen. In einigen Situationen habe ich mich als Choreograf aus einem anderen Blickwinkel gesehen. Es ging da plötzlich nicht mehr um mich. Nicht um den Versuch, sich etwas zu beweisen oder jemanden zu beeindrucken. So, als würde man sich ganz in der Musik auflösen.
Das Gespräch führte Michael Küster
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 42, September 2016
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Die geniale Stelle
«Das Werk eines Wahnsinnigen!» – «Kakophonie!» – «Ein Machwerk von Idioten!» – Es ging hoch her am Abend des 29. Mai 1913 im nagelneuen Théâtre des Champs-Élysées. Herren im Frack zerbeulten ihren Nachbarn mit Faustschlägen den Zylinder, gingen wutentbrannt mit Spazierstöcken aufeinander los oder bliesen mit dicken Backen angestrengt in Trillerpfeifen, Damen in kostbarer Abendrobe wanden sich schreiend in Krämpfen oder lagen ohnmächtig zwischen den Sitzreihen, der Dirigent konnte wegen des Getöses das Orchester kaum noch hören. Die Uraufführung von Igor Strawinskys Le Sacre du printemps hatte sich zu einer gewaltigen Schlacht, einer heroischen Sternstunde im Kampf um die moderne Musik ausgewachsen.
Heute zählt das Stück unumstritten zu den klassischen Meisterwerken des 20. Jahrhunderts, die Herrschaften, die damals so tapfer gegen diese Katzenmusik ankämpften, haben das wohl kaum so gesehen. Was sie an diesem denkwürdigen Abend hörten, schien ihnen gar keine Musik zu sein, erst recht keine meisterhafte, sondern sinnloser Lärm, dem sie mit kräftigem Radau den Garaus machen wollten.
Was nahm sich dieser freche Russe auch heraus! Man betrachte nur den Anfang der Einleitung zum zweiten Teil, der dem Vernehmen nach auf ganz besondere, geradezu hysterische Ablehnung stiess! Was man hier zu hören bekommt, muss doch jeden ehrbaren Musikliebhaber zornig machen, dachten die Kenner damals: Ein d-Moll-Akkord wird als Orgelpunkt in extrem tiefer Lage von den Hörnern intoniert. Wie hört sich denn das an? Und damit nicht genug! Gleichzeitig spielen die Holzbläser in extrem hoher Lage abwechselnd dis- und cis-Moll-Akkorde! Keiner der grossen Komponisten der ruhmreichen französischen Ballett-Tradition wäre im Traum darauf verfallen, solche Harmonien niederzuschreiben und sie auf diese groteske Weise zu instrumentieren. Und nun kommt dieser Russe daher … Er muss verrückt sein.
Mit Sicherheit hatte Strawinsky das Publikum provozieren, aus seiner satten Selbstzufriedenheit in der bequemen Reproduktion überholter Traditionen aufstören wollen, und die Saalschlacht zeigte, dass er sein Ziel erreicht hatte. Aber er wusste auch: Wenn die Wahrnehmung seines Stücks auf diesen Skandaleffekt beschränkt bliebe, würde es schon bald das Schicksal so vieler anderer Werke teilen, die einst grosses Aufsehen erregt hatten und dann schnell in der Versenkung verschwunden waren. Bei aller diebischen Freude am Spiesser-Ärgern – Strawinsky hatte doch mehr und Wichtigeres im Sinn, als er das Pariser Publikum mit seiner Vision eines Frühlingsrituals aus dem heidnischen Russland konfrontierte. Er wollte ein idealisiertes Porträt seines Volkes zeichnen, seiner urtümlichen Kraft, aber auch seiner Zartheit und tiefen Religiosität. Für diese Züge, die so gar nicht zum nach wie vor beliebten Klischee vom «wilden Russen» passen, erfindet Strawinsky die ungewöhnlichsten Klänge. Heute ist der Schockeffekt jener Anfangstakte des zweiten Teils verblasst. Wo die Zeitgenossen nur Kakophonie hörten, bewundern wir heute ein geniales Klanggemälde von betörender Schönheit. Der fremdartige Klang, die kühnen Akkordverbindungen versetzen uns in das mysteriöse Halbdunkel eines Waldes, in dem sich in flirrender Zartheit und betörender Schönheit das Wunder des erwachenden Frühlings vollzieht. Strawinsky schuf dafür eine Musik, die auf ebenso kühne wie suggestive Weise eine innige Naturverbundenheit schildert, die das alte Europa vielleicht tatsächlich von den Völkern am Rand seiner Aufmerksamkeitssphäre lernen könnte.
Text von Werner Hintze
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 57, März 2018
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