Bella Figura
Choreografien von Jiří Kylián
Dauer 2 Std. 20 Min. inkl. Pausen nach dem 1. Teil nach ca. 30 Min. und nach dem 2. Teil nach ca. 1 Std. 25 Min. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.
Gut zu wissen
Gespräch
Jiří, ich weiss, dass Interviews nicht zu deinen Lieblingsbeschäftigungen gehören …
Das stimmt. Ich habe Interviews immer als problematisch empfunden. Man spricht über Werke, die man in einem bestimmten Zeitabschnitt seines Lebens kreiert hat. Die Ansichten, die man damals hatte, haben sich jedoch im Laufe der Zeit verändert. Als ich vor vierzig Jahren Strawinskys Symphony of Psalms choreografiert habe, hätte ich den Tänzern nie erzählen können, was ich ihnen heute erzählen kann. Ich begreife heute viel besser, was ich damals intuitiv gemacht habe. Mit 71 bleibt mir jetzt nicht mehr so viel Zeit, um über diese Dinge zu sprechen. Deshalb bin ich heute eher dazu bereit als früher.
Welche Reaktionen löst die verrinnende Zeit in dir aus?
Ich merke, dass ich mich nur noch mit den Dingen beschäftigen möchte, die wirklich zählen. Dabei besteht allerdings die Gefahr, seine Zeit mit dem Nachdenken darüber zu verplätschern, was denn nun wirklich wichtig ist. Aber ich habe keine Torschlusspanik. Mein Spass am Kreieren ist ungebrochen.
Du stammst aus Prag, dort hast du deine Kindheit und Jugend verbracht. Ist Prag auch der Ort deiner ästhetischen Prägungen?
Wenn du in Prag geboren bist, kannst du dich der Kraft und Magie dieser Stadt kaum entziehen. Es ist eine sehr komplizierte Stadt, die geprägt wurde durch das Nebeneinander von Tschechen und Deutschen, wo aber auch das Judentum sehr prägnant vertreten war. Im Herzen Europas gelegen, atmet Prag die Spannung zwischen Osten und Westen, Slawischem und Germanischem, Norden und Süden. In diesem Spannungsfeld bin ich aufgewachsen, hier habe ich angefangen zu tanzen. Zwei Prager Geister haben mein Leben besonders beeinflusst, das sind der Sonnenkönig und der Fürst der Dunkelheit: Mozart und Kafka. Mozart hat seine grössten Erfolge in Prag gefeiert, Kafka ist hier geboren, und in diesen beiden Namen ist die Spannung der Stadt eigentlich schon dargestellt. Beide spielen auch im neuen Abend des Balletts Zürich eine Rolle, ergänzt durch den für mich ebenfalls sehr wichtigen Anton Webern, der – Zufall? – im gleichen Jahr wie Kafka, 1883, geboren wurde.
1967, ein Jahr vor den Ereignissen des «Prager Frühlings» und der sowjetischen Invasion, bist du nach London gegangen, um an der Royal Ballet School zu studieren. Wäre dein Weg ohne diese Ereignisse anders verlaufen?
Wahrscheinlich nicht. Nach meiner Studienzeit in London habe ich in Stuttgart einen Vertrag bei John Cranko unterschrieben und bin eine Woche nach der Invasion ganz legal aus der Tschechoslowakei ausgereist. Aber natürlich hat die Invasion alles verändert und uns zu unfreiwilligen Emigranten gemacht. An eine Rückkehr war unter den veränderten Bedingungen nicht zu denken.
Wie geht es dir heute, wenn du in Prag bist?
Das sind gemischte Gefühle. Meine Karriere habe ich im Westen aufgebaut und mich dabei meinen tschechischen Freunden entfremdet. Da kannst du machen, was du willst. Es sind die täglichen Kontakte, die einen prägen. Wenn du mich fragst, ob ich in Prag oder in Holland zu Hause bin, sage ich dir: Unterwegs bin ich zu Hause.
Stuttgart ist der Ort, wo aus dem Tänzer Jiří Kylián eines Tages der Choreograf Jiří Kylián wird. Ist dieser Übergang an ein bestimmtes Ereignis geknüpft?
Mein erstes Stück in Stuttgart hiess Paradox. Das war 1970, und ich habe darin selbst mit meiner damaligen Freundin getanzt. Ich habe sehr schnell bemerkt, dass ich mich viel besser durch andere Körper ausdrücken kann als durch meinen eigenen. Wenn du für dich selbst choreografierst, bleibst du dein eigener Gefangener. Erst der Blick von aussen macht dich frei. Stuttgart mag nicht die schönste Stadt der Welt sein, das Charisma John Crankos verlieh dem Ort damals jedoch etwas absolut Einzigartiges. Wie ein Magnet hat Cranko Talente angezogen, ganz gleich, ob das nun Tänzer oder potentielle Choreografen waren. Das Wort «Kreation» wurde mit einem sehr grossen «K» geschrieben. Cranko, Glen Tetley, Kenneth MacMillan – sie alle haben in Stuttgart gearbeitet. Durch Cranko entwickelte sich die Noverre-Gesellschaft zum «Talentschuppen» für choreografierende Tänzer. Die Luft hat vibriert damals, es war grossartig.
Das längste Kapitel deines Lebens ist mit dem Nederlands Dans Theater verbunden, dem du insgesamt 34 Jahre verbunden warst und das du 24 Jahre, von 1975 bis 1999, geleitet hast. Was waren die prägenden Bausteine deiner Arbeit am NDT?
Durch Choreografen wie Hans van Manen und Glen Tetley hatte sich das NDT bereits einen hervorragenden Ruf als moderne Compagnie erarbeitet. Nach ihrem Weggang befand man sich allerdings in einer Art posttraumatischer Phase und suchte nach einer Neuorientierung. Mir war immer wichtig, dass das NDT als eine Compagnie der Choreografen wahrgenommen wird. Deshalb habe ich nicht nur meine eigenen Arbeiten gezeigt, sondern wichtige Namen an das Haus gebunden. Ich habe Hans van Manen und Glen Tetley nach Den Haag zurückgeholt. Im Ausland habe ich ständig nach neuen Talenten gesucht und darüber hinaus auch viele meiner Tänzerinnen und Tänzer ermutigen können, selbst zu choreografieren. William Forsythe hat seine ersten wichtigen Stücke für das NDT kreiert, Mats Ek hat mit seiner Frau Anna Laguna im NDT getanzt und viele besondere Sachen choreografiert. Aus New York habe ich Ohad Naharin nach Europa gebracht, auch seine ersten Stücke sind für das NDT entstanden. Mit der Nachwuchscompagnie NDT 2 haben wir eine Brücke zwischen Schulsystem und professionellem Tänzerdasein gebaut. Und innerhalb von drei Tagen ist dann auch der Plan für das NDT 3 entstanden. Eine eigene Compagnie für ältere Tänzer, die in dieser späten Phase ihrer Karrieren noch so unendlich viel zu sagen haben. Schliesslich haben wir 1987 unser eigenes Theater gebaut, es war das allererste Gebäude des heute weltberühmten Rem Koolhaas. Das alles hat das NDT auf eine neue Qualitätsstufe gehoben.
Wie bist du mit der Doppelbelastung als Choreograf und Direktor klargekommen?
Sicher könnte ich jetzt versuchen, sie schönzureden, aber es war eine konstante Anspannung, 24 Stunden täglich! Doch wenn du eine Compagnie haben möchtest, die dir als Créateur und Choreograf zusagt, ist es wohl am besten, wenn du auch Direktor bist. Nur so kannst du beeinflussen, was in der Compagnie passiert.
Wie gehen deine Nachfolger mit deinem Erbe um?
Warum soll sich ein neuer Direktor des NDT ständig den Kopf zerbrechen, ob er ein Stück von Kylián zurück ins Repertoire holt? Er soll sich nicht dazu verpflichtet fühlen, sondern frei entscheiden, welche Choreografen er in seinem Spielplan präsentieren möchte. Das Schlimmste ist die Präsenz einer grauen Eminenz, die einem ständig über die Schulter schaut und kontrolliert, ob man auch alles richtig macht. Deshalb habe ich 2014 für einen Zeitraum von drei Jahren die Auführungsrechte für meine Werke am NDT zurückgezogen. Im Nachhinein haben mir meine Nachfolger Recht gegeben, weil sie nur so einen wirklich eigenen Weg gegangen sind, der ihnen – wie ich finde – ganz gut gelingt.
Bei der Musikauswahl für deine Stücke hast du eine unglaubliche Bandbreite an Komponisten präsentiert, die von Renaissance-Madrigalen über Folklore bis ins 21. Jahrhundert reicht. Welche Qualität muss Musik haben, damit sie choreografische Assoziationen in dir freisetzt?
Natürlich muss ich mich zunächst in die Musik verlieben, aber noch wichtiger ist, dass ich ihr vertrauen kann, auch wenn ich sie 100 oder 200 Mal höre. Dabei habe ich mich immer davor gehütet, Musik als ein Heiligtum zu betrachten, das wäre völliger Quatsch. In meinen Anfangsjahren als Choreograf waren es vor allem Komponisten, die sich am Beginn des 20. Jahrhunderts der Umklammerung durch die Romantik zu entziehen versuchten: Janáček, Webern, Martinů, Strawinsky, Schönberg... Das war der übliche Weg: Bewegungen zu finden, die sich irgendwie konform zur musikalischen Vorlage verhalten. Von dieser altmodischen Art zu choreografieren und dem damit verbundenen Ausgeliefertsein an die Musik habe ich mich schnell verabschiedet. Ich habe Stücke gemacht, die zum Teil ohne Musik oder mit verschiedenen Sounds auskamen. Ich habe Aufträge an Tōru Takemitsu und Arne Nordheim vergeben, und gelegentlich habe ich auch Themen aus Barock und Klassik in neuen Kombinationen zusammengestellt. Ich wollte immer selbst erzählen und nicht illustrieren, was die Musik mir vorgibt.
Wie kann man sich deine Arbeit mit Komponisten vorstellen? Soll die Musik eine choreografische Vorstellung unterstützen, oder entstehen Musik und Choreografie parallel?
Meistens habe ich eine Ausgangsidee. Um sie zu verwirklichen, brauche ich den Komponisten, der mir dabei hilft und einverstanden sein muss, auf diese Weise mit mir zu arbeiten. Das war bei Dirk Haubrich der Fall, mit dem ich 16 Stücke kreiert habe, darunter auch Gods and Dogs. Meistens war die Choreografie eher fertig als die Musik. Das war insofern besonders, als der Choreograf meist ein sekundärer Schöpfer ist, der immer auf etwas reagiert. In den letzten 20 Choreografien hat sich dieses Verhältnis vertauscht, indem ich die Rolle des Urschöpfers übernommen habe. Es ist nicht einfach, so zu arbeiten. Du gewinnst die Freiheit, selbst etwas zu sagen. Die Verantwortung dabei ist gigantisch.
Bei Tänzerinnen und Tänzern geniesst du eine fast unglaubliche Verehrung. In Kylián-Choreografien aufzutreten, gilt unter ihnen als eine Art Ritterschlag. Woher kommt diese Begeisterung?
Wahrscheinlich hat es mit dem Respekt zu tun, den ich Tänzern entgegenbringe. Ich sehe sie als Menschen und liebe sie in ihrer Verletzbarkeit, ihrer Tapferkeit. Deshalb habe ich es in meinen Jahren als Direktor am NDT immer als Belastung empfunden, Besetzungen festzulegen. Was machst du, wenn du ein Stück für acht Tänzer kreieren möchtest, deine Compagnie aber aus 32 Personen besteht? Diese schwierigen Entscheidungen vermisse ich wirklich nicht.
Welche Qualitäten schätzt du an Tänzern, was inspiriert dich?
Offenheit, positive Mentalität, Wahrhaftigkeit im Ausdruck, Zuverlässigkeit und Musikalität sind Eigenschaften, die mich bei Tänzern begeistern. Ob sie klein oder gross, dick oder dünn sind, interessiert mich im Grunde nicht. Wichtig sind Glaubwürdigkeit und Menschlichkeit.
Als einschneidendes Ereignis in deinem Leben hast du immer wieder deinen Australien-Aufenthalt im Jahr 1980 geschildert. Was hat dir die Begegnung mit den Aborigines gegeben?
Freiheit! Die Kultur der Aborigines ist die einzige, die ich kenne, für die der Tanz das allerwichtigste gesellschaftliche Ereignis ist. Alles wird durch Tanz ausgedrückt. Jeder tanzt, vom Jüngsten bis zum Ältesten. Ich habe damals einen alten Aborigine gefragt, warum sie tanzen. Und er hat mir gesagt: «Weil es mir mein Vater beigebracht hat und ich es meinem Sohn beibringen muss.» Das ist es. Er hat sich nur als das Glied einer Kette gesehen. Mit der einen Hand halte ich meinen Vater, mit der anderen Hand halte ich mein Kind. Und wenn ich loslasse, entsteht eine Lücke, die den Strom von Generation zu Generation unterbricht. In Australien haben sich mir viele Möglichkeiten eröffnet, was man körperlich und spirituell mit Tanz ausdrücken kann. Das war eine einzigartige Erfahrung.
Dein Werk ist von vielen klugen Köpfen analysiert worden. So war in einer Würdigung zu deinem 70. Geburtstag zum Beispiel von der «Gewissheit der Vergänglichkeit allen irdischen Tuns bei gleichzeitiger Gelassenheit im Hier und Jetzt» zu lesen ...
O je, das klingt sehr gelehrt und lässt sich viel einfacher sagen! Man muss akzeptieren, dass alles, was wir machen, ein völliger Unsinn ist. Wenn du das begriffen hast, sagst du: Umso furioser machen wir diesen Unsinn! Dafür sind wir hier. Deshalb sage ich den Tänzern: Du tanzt nicht gestern oder morgen, du tanzt jetzt – in diesem Moment! And make sure that people remember you forever! Meine Lehrerin Zora Šemberová – sie war die erste Julia in der Brünner Urauführung von Prokofjews Romeo und Julia – hat mir einen Wegweiser geschrieben, was zu tun ist, wenn man eine schlechte Choreografie tanzen muss. Sie hat mir klar gemacht, dass man aus allem etwas lernen kann, auch wenn die Choreografie unmusikalisch ist und die Schritte noch so mangelhaft oder unpassend sind. Lehrer sind manchmal zu idealistisch in ihrem Unterricht. Was, wenn es nicht so ist, wie sie es dir beschrieben haben? Ich fand toll, dass meine Lehrerin gesagt hat: Pass auf, es kommen auch dünne Zeiten!
Daraus spricht dein Bemühen, es anders zu machen und den Tänzern mit deinen Choreografien glückliche Zeiten zu bereiten. Welche Ansprüche stellst du dir selbst beim Kreieren, wo empfängst du deine Inspiration?
Ich bin kein verbissener Choreograf. Ich lasse gern ein bisschen Luft. Das Allerschönste ist, wenn du mit Tänzern kreativ zusammenarbeiten kannst. Wenn du ihnen das Gefühl gibst, Teil des kreativen Prozesses zu sein, werden sie dich mit ihrer Qualität überraschen. Sie fühlen sich verantwortlich für das, was da präsentiert wird. Inspiration hat für mich weniger mit äusseren Einflüssen, als vielmehr mit der Empfänglichkeit eines Individuums zu tun. Man muss rezeptiv und offen sein, dann kann alles zu Inspiration werden. Ich sehe, wie der Himmel ausschaut, wie ein bestimmtes Licht fällt, eine Reflexion aufscheint. Daraus kann etwas entstehen, das allgemeingültiger ist. Ich erinnere mich an eine Reise nach Elba. Wir sind vom Hotel ans Meer gelaufen, das wir in der stockfinsteren Nacht nur hören konnten. Daraus ist La Cathédrale engloutie entstanden. Wichtig sind die Empfänglichkeit und die Fähigkeit, Dinge zu absorbieren.
Mit Bella Figura präsentiert das Ballett Zürich einen Abend, der vier deiner Choreografien aus den 80-er und 90-er Jahren vereint. Was verbindet diese Stücke miteinander?
Ihre Unzusammengehörigkeit. Die vier Stücke sind sehr verschiedenartig, in der choreografischen Handschrift besteht ein enormer Kontrast. Aber wie sagt man so schön? Les extrèmes se touchent. Ich liebe Kontraste. Ein Abend, der so kontrastreich ist wie dieser, hat ganz sicher mit mir zu tun.
Der grösste Kontrast besteht wohl zwischen den sehr skulpturhaften Sweet Dreams und den ausgelassenen Sechs Tänzen, die jetzt beide erstmals beim Ballett Zürich zu sehen sind.
Die «Süssen Träume» sind Albträume. Anton Webern hat mit den Sechs Stücken für Orchester op. 6b auf den Tod seiner Mutter reagiert. Du spürst in der Musik diesen absoluten Horror, der manchmal fast ins Lächerliche überschwappt. In der Choreografie gibt es dann diese ganzen Apfelgeschichten, wodurch das Stück einen komischen Knacks bekommt. Wir könnten jetzt stundenlang über die Symbolik des Apfels reden. Das Stück ist ein Rätsel um Sex, Macht und Missbrauch. In seiner Wut des Statements trägt es auch Kafka in sich. Er erzählt dir oft minutiös bis ins letzte Detail, wie sich eine Szene ereignet hat, und am Ende sagt er: Ach, vielleicht war es aber auch ganz anders. Für mich selbst ist es ein rätselhaftes Stück, man muss nicht immer alles erklären. Die Sechs Tänze zur Musik von Mozart sind dann das ganze Gegenteil, ein völliger Quatsch eigentlich. Es mag eigenartig klingen, aber es gibt nicht so viele Choreografen, die es wagen, etwas Humoristisches auf die Bühne zu stellen. Humor hat mit Timing zu tun, mit Geschmack und Dosierung. Wenn du einen Witz erzählst und niemand lacht, stehst du als der Dumme da. Bei einer Komödie ist das Barometer viel lesbarer als bei einer Tragödie. Wenn es schief geht, stehst du am Pranger. Da braucht es keinen Kritiker, sondern du wirst vom Publikum direkt verurteilt. Komik braucht Selbstvertrauen.
In jüngster Zeit scheint der Film eine besondere Faszination für dich zu gewinnen. Woher kommt sie?
Das hat mit dem Älterwerden zu tun. Es scheint paradox, dass nur ältere Menschen wirklich fähig sind zu verstehen, was es bedeutet, jung zu sein. Die Frage des Alterns ist so alt wie die Menschheit. Ein Zuschauer, der eine Vorstellung verlässt, ist sich kaum bewusst, dass er jetzt älter ist als beim Betreten des Theaters. Und genau dieser Prozess ist mein Anliegen. Ich arbeite seit 1971 mit meiner Frau, der Tänzerin Sabine Kupferberg, zusammen. Es begann in Stuttgart, mit der Choreografie Incantations. 1975 sind wir gemeinsam nach Den Haag umgezogen. Sie wurde Mitglied des NDT und ich Direktor. 1991 gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern des NDT III, das entworfen worden war für Tänzer «zwischen vierzig und Tod». Für Sabine habe ich mehr als 40 Choreografien und einige Filme kreiert. Beide sind wir jetzt im fortgeschrittenen Alter, und wie viele gemeinsame Jahre uns bleiben, ist ungewiss. Aber die Zeit, die wir jetzt erleben, ist sehr kondensiert und verändert uns rapide. Es sind diese besonderen Augenblicke, die ich festhalten will. Sabine hat aussergewöhnliche schauspielerische Qualitäten. Ihre Verwandlungsfähigkeiten haben mich seit Jahren fasziniert. Und ja, ich habe noch einen Traum, den ich mit ihr verwirklichen möchte: ein Theaterstück, in dem Sabine sowohl im Film als auch leibhaftig auf der Bühne steht. Zwischen den zwei Frauen entsteht ein Dialog wie zwischen einer lebenden und einer verstorbenen, wobei die Frau im Film in jeder Vorstellung jünger ist als die lebendige, die während der Vorstellung stets älter wird, wie auch alle Zuschauer! So eine Konfrontation interessiert mich zutiefst.
Im März 2019 wirst du in Paris in die Académie des Beaux Arts aufgenommen, mit einer eigens geschaffenen Sektion für Choreografie und Tanz. Welche Hoffnungen knüpfst du an diese Position?
Es ist seltsam, dass der Tanz dort erst jetzt seinen offiziellen Platz in der Kunstfamilie erhält, obwohl man zu Gründungszeiten der Académie Française im 17. Jahrhundert mit Louis XIV. einen passionierten Tänzer unmittelbar vor Augen hatte. Maurice Béjart und Marcel Marceau waren bislang die beiden einzigen aus unserer Branche, die Aufnahme gefunden haben, aber sie waren sogenannte «Freie Mitglieder». Insofern ist die Installation einer Sektion «Choreografie» eine Ehre für mich und sicher eine gute Sache für den Tanz insgesamt. Ich hoffe, dass ich dort etwas bewirken kann. Gerade bin ich sehr mit den Vorbereitungen der Aufnahmezeremonie beschäftigt. Dieses Ritual mit seinen genau definierten Abläufen und Kleidervorschriften unter der ehrwürdigen Kuppel des Institut de France hat, zugegeben, ein bisschen etwas von Karneval. Ich durfte 250 Freunde einladen und freue mich riesig auf das Wiedersehen mit vielen wunderbaren Wegbegleitern, die der Zeremonie hoffentlich etwas sehr Heutiges verleihen werden. Unverzichtbar für die Akademiemitglieder ist ein Schwert. Den Griff meines Schwertes habe ich selbst entworfen. Er basiert auf einer 5 500 Jahre alten ägyptischen Statue aus dem New Yorker Brooklyn Museum. Es ist – eine Tänzerin.
Das Interview führte Michael Küster.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 65, Januar 2019.
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Pressestimmen
«Fare bella figura heisst auf Italienisch so viel wie «einen guten Eindruck machen». Das tut das Zürcher Ballett in Bella Figura, einer abendfüllenden Hommage an den tschechischen Choreografen Jiří Kylian.»
Tagesanzeiger vom 15. Januar 2019
«Fast zweieinhalb Stunden dauert der Ballettabend Bella Figura. Und er zeigt nicht nur, wie vielseitig das Werk von Jiří Kylian ist. Er zeigt vor allem auch, wie unglaublich vielseitig und virtuos die Tänzerinnen und Tänzer des Zürcher Opernhauses sind.»
SRF vom 14. Januar 2019
Poesie in jeder Bewegung
Während meiner Ballettausbildung an der Vaganova-Akademie in Sankt Petersburg wurden wir auch in einem Fach mit dem schönen Titel «Foreign Dance» unterrichtet. Unsere Lehrerin hatte eine Sammlung mit Videos der verschiedensten westlichen Choreografen, die sie wie einen Schatz gehütet hat. Als wäre es gestern gewesen, erinnere ich mich an ihre Vorlesung unter dem Titel «Drei Genies», in der sie uns mit John Neumeier, William Forsythe und Jiří Kylián bekannt gemacht hat. Mit bedeutungsschwangerer Stimme sagte sie, wie sehr sie uns beneide, dass wir nun gleich zum ersten Mal in unserem Leben etwas von Jiří Kylián sehen würden, denn das – sie holte tief Luft – würden wir niemals vergessen. Sie sollte Recht behalten. Wir haben uns Kyliáns Mozart-Choreografie Petite mort angeschaut, und dieses Stück hat mich wirklich umgehauen.
Später konnte ich dann am Mariinsky-Theater ein Gastspiel des Nederlands Dans Theaters mit Bella Figura erleben. Gerade in diesem Theater, das als Hochburg des klassischen Balletts gilt, wirkte dieses Stück auf mich wie eine Revolution. Die Choreografie atmete eine unvergleichliche Schönheit, von der man nicht geglaubt hätte, dass es sie wirklich gibt. Nie hätte ich davon zu träumen gewagt, das einmal selbst tanzen zu dürfen. Beim Semperoper Ballett in Dresden wurde der Traum Wirklichkeit. Ich tanzte in Bella Figura, und natürlich freue ich mich jetzt riesig über die Wiederbegegnung mit dieser Choreografie. In vielen seiner Stücke stellt Kylián Fragen nach dem Verhältnis von Leben und Tod, Schönheit und Hässlichkeit, Heiterkeit und Ernst. In Bella Figura interessiert ihn, wie wir mit unseren Maskierungen umgehen. Endet eine Vorstellung, wenn der Vorhang fällt? Oder befinden wir uns auch über diesen Moment hinaus in einer Rolle? Die Schönheit dieser fragilen Choreografie wagt man kam anzutasten, weil man Angst hat, sie könne sich in Luft auflösen. Mich fasziniert, wie Kylián der Theatralik dieses Stückes eine philosophische Dimension verleiht. Jeder Schritt, jede Bewegung, jede Kopfhaltung, jeder Blick hat einen Grund, einen Sinn. Deshalb hat man als Tänzerin auch weit mehr zu tun, als die rein technischen Anforderungen zu erfüllen.
Gerade erlebe ich das auch in Stepping Stones. Die Choreografie ist äusserst anspruchsvoll. In schnellem Tempo auf Spitze zu tanzen, gehört mit zum Schwierigsten, was man einer Tänzerin abverlangen kann. Die Herausforderung besteht darin, trotzdem geerdet zu bleiben und den Eindruck von Leichtigkeit und Unangestrengtheit zu vermitteln. Kyliáns Musikalität wird man mit Technik allein nicht gerecht. Man muss die Musik verinnerlichen und sie sich selbst zu eigen machen. Kylián zu tanzen, ist ein Mysterium. Seine komplexen Stücke sind Herausforderungen, aber sie bieten einem unschätzbare emotionale Erfahrungen. Ich bedaure, dass ich Jiří Kylián noch nicht persönlich getroffen habe. An dem einzigen Tag, als er in Dresden war, habe ich ihn verpasst, weil ich zu einer Ballettgala unterwegs war. Aber vielleicht gibt es ja jetzt eine neue Chance! Kyliáns Choreografien einzustudieren, ist jedes Mal ein aufregender Prozess, weil einen seine Stücke ständig überraschen und immer wieder in Erstaunen versetzen. Unentwegt ertappe ich mich bei dem Gedanken: Wie ist so etwas möglich? Wie kann er sich so etwas ausdenken? So authentisch, so musikalisch, so logisch, ungewöhnlich und kreativ! Ein unfassbares Vergnügen!
Text von Michael Küster.
Foto von Jos Schmid.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 65, Januar 2019.
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Poesie in jeder Bewegung
Ich muss 15 oder 16 gewesen sein, als ich mein erstes Kylián-Ballett gesehen habe – die Symphony of Psalms zur Musik von Igor Strawinsky. Die Auführung mit Chor und grossem Orchester beim Royal Ballet of Flanders hat mich aus dem Sitz gefegt, und schon damals ist mir aufgefallen, wie bewegt das Publikum war. Das habe ich dann später in jeder Kylián-Aufführung erlebt. Kyliáns Stil empfinde ich als sehr rein. Die Bewegungen sind immer emotional aufgeladen, was sich auf die Zuschauer zu übertragen scheint.
Dass seine Stücke auf der Wunschliste so vieler Tänzerinnen und Tänzer stehen, hat meines Erachtens vor allem damit zu tun, dass Kylián dir in ihnen die Freiheit schenkt, dein eigener Künstler zu sein und deine Persönlichkeit in die choreografierten Schritte und Bewegungen einzubringen. Auch abstrakte Choreografien bekommen dadurch ein unglaubliches Charisma, was sie für viele von uns sehr attraktiv macht. Beim Ballett Zürich habe ich diese Erfahrung in Wings of Wax sowie in Gods and Dogs machen dürfen. In den über vier Jahrzehnten seines Wirkens als Choreograf hat Kylián eine unverwechselbare choreografische Handschrift entwickelt. Obwohl seine Stücke ganz unterschiedlich sind und man eine frühe Choreografie wie Forgotten Land nicht mit einem Spätwerk wie 27’52 vergleichen kann, erkennt man seine Signatur auf Anhieb. Es ist faszinierend zu sehen, wie Kylián sich selbst über die Jahre treu geblieben ist. Seine Choreografien wirken über ihre eigentliche Spieldauer hinaus. Als Tänzer spürst du, wie sehr sie aus dem Herzen des Choreografen kommen, es ist kein Kalkül dabei. Deshalb kann man in einer Kylián-Choreografie nur überzeugen, wenn man sich ihr vollständig ausliefert, wenn man in das jeweilige Werk eintaucht und dabei auch eine eigene Verletzbarkeit zulässt. Belohnt dafür wird man mit jenem einzigartigen Glücksgefühl, dass einen nach einer Kylián-Vorstellung durchströmt.
Was mich immer wieder fasziniert, ist Kyliáns Art und Weise des Partnerings. In Sweet Dreams zum Beispiel ist das Balancieren der Partnerin ganz wichtig. Der Mann muss sich da auf das Gewicht seiner Tänzerkollegin einstellen, und dieses Austarieren schafft man meist nicht auf Anhieb. Aber dann macht es in der Probe irgendwann «Klick», und es funktioniert. In Stepping Stones ist es gerade eine ungewöhnliche und aufregende Erfahrung, dass auf Spitze getanzt wird. Die Pas de deux mit ihren vielen Twists und Turns sind sehr anspruchsvoll und verlangen einem grosses Einfühlungsvermögen im tänzerischen Dialog mit der Partnerin ab. Ich habe Jiří Kylián in der Vergangenheit schon des Öfteren proben sehen. Das war immer ein sehr inspirierendes Erlebnis. Einmal selbst mit ihm zu arbeiten, wäre wahrscheinlich ein grosses Geschenk.
Text von Michael Küster.
Foto von Jos Schmid.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 65, Januar 2019.
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Poesie in jeder Bewegung
Wenn ich Kylián tanze, fühle ich ein inneres Vibrieren. Ein Pulsieren, das im Inneren entsteht und meinen Körper und meinen Geist durchströmt. Dabei handelt es sich nicht etwa um eine physiologische Reaktion auf eine technische Herausforderung, sondern um eine emotionale Vibration. Wenn man Kylián tanzt, kann man die Bewegung nicht vom Gefühl trennen: Die Bewegung ist das Gefühl, das Gefühl ist die Bewegung. Dabei kann der Ort dieses Gefühls bei jedem Tänzer, jeder Tänzerin anders sein – aber es ist da! Wer Kylián tanzen will, muss Gefühle zulassen. Wenn du im Kopf und im Herzen leer bist, kannst du ihn nicht tanzen. Man kann eine Bewegung zwar technisch perfekt ausführen und damit trotzdem nichts aussagen. Bei manchen Choreografen liegt der Schwerpunkt durchaus auf der physischen Seite, die Emotion hat dann nicht die gleiche Priorität. Bei Kylián ist eines so wichtig wie das andere. Bewegung und Emotion sind bei ihm eine untrennbare Einheit. Seine Bewegungssprache wirkt auf mich absolut organisch und fliessend. In jedem Moment spüre ich seine wunderbare Musikalität. Oft scheint es mir, als könne ich die jeweilige Partitur aus seinen Stücken lesen. Als Tänzerin muss ich in jedem Moment völlig klar sein. Man darf nicht denken: «Oh, jetzt kommt gleich eine schwierige Stelle.» Man braucht die innere Ruhe, die es einem erlaubt, um mit dieser Kyliánschen Fluidität zu tanzen und jedem Wechsel der Dynamik zu folgen.
Mein erstes Stück von Kylián war Bella Figura. Ich war 12, als ich es gesehen habe, und erinnere mich deutlich an das Gefühl, weinen zu müssen, auch wenn mir nicht klar war, aus welchem Grund. Ich habe mir immer gewünscht, in dieser Choreografie zu tanzen. Auch jetzt setzt sie ganz unterschiedliche Gefühle in mir frei. Es ist schwer, Schönheit zu erklären. Jede Bewegung in diesem Stück ist poetisch. Mich fasziniert die Gegenüberstellung von Femininität und Maskulinität, von Fragilität und Geradlinigkeit, die sich gegenseitig die ganze Zeit bedingen. Technisch ist es eine sehr anspruchsvolle Choreografie. Doch wenn man sie als «schwieriges» Stück tanzt, wird es augenblicklich ein leeres Stück. Man muss die technischen Schwierigkeiten überwinden und es zum Leben erwecken.
In Sweet Dreams kann ich nur staunen, wie viel Individualität dort auch in den dunkelsten Momenten möglich ist. Jedes Paar hat etwas anderes mitzuteilen. Selten habe ich erlebt, dass ein und derselbe Choreograf über so eine breite Palette an Ausdrucksmöglichkeiten verfügt. Bei den vier Stücken unseres neuen Kylián-Abends hat man an keiner Stelle das Gefühl, sich zu wiederholen. Und jedes Mal ist da dieses unvergleichliche Erlebnis, dass die Musik von dir Besitz ergreift.
Text von Michael Küster.
Foto von Jos Schmid.
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Poesie in jeder Bewegung
Die Choreografien von Jiří Kylián begleiten mich schon eine ganze Weile. Bereits an der Royal Ballet School in London haben wir uns immer wieder die Videoclips seiner Stücke auf Youtube angeschaut. Dann haben die höheren Semester Un ballo aufgeführt, und ich weiss noch, wie sehr es mich fasziniert hat, den Einstudierungsprozess und die Vorstellungen zu verfolgen. Die erste eigene tänzerische Kylián-Erfahrung habe ich dann hier in Zürich gemacht, als wir Wings of Wax ins Repertoire genommen haben. Dieses wunderschöne Stück wollte ich unbedingt tanzen. Bei der Premiere gehörte ich leider noch nicht zum A-Cast, aber bei der Wiederaufnahme im folgenden Jahr war es dann endlich so weit. An meinem 21. Geburtstag habe ich Wings of Wax getanzt – das war ein einmaliges Geschenk! Es ist schwer zu beschreiben, was diese Einmaligkeit ausmacht. Ich spüre eine besondere Spiritualität, die aus einer anderen Welt zu kommen scheint.
Als nächstes Stück hier in Zürich folgte dann Gods and Dogs, und bei dieser Gelegenheit durften wir Kylián persönlich kennenlernen, als er die Endproben begleitete. Wir haben damals einige Improvisationsübungen gemacht. Kylián forderte mich auf, mir vorzustellen, dass ich die Welt in meinen beiden Händen halte und dabei alles sehe, was die Welt ausmacht: Menschen, Orte, Kreaturen. Anschliessend sollte ich in diesen Vorgang in eine Betrachtung des eigenen Ichs überführen und mich fragen, was mich zu dem macht, was ich bin, was in meiner DNA gespeichert ist, was meine Augen grün und meine Haare braun macht. Diese Erkundung meines Inneren, so erklärte Kylián, könne ich für den Einsatz meiner Extremitäten nutzen, um zu spüren, in welchem Rahmen ich mich bewegen kann, wie gross meine Reichweite im Raum ist, was mich in die Ecke zieht. Diese kurze Improvisation von vielleicht 15 Sekunden Dauer erwies sich als eine Quelle neuer Ideen und Kreativität. Solche Augenblicke, in denen ein Choreograf dir wirklich zu einem tieferen Verständnis deiner selbst verhilft, gibt es in einem Tänzerleben nicht so oft.
Wenn man Kyliáns Choreografien anschaut, dann meint man, sein Charisma zu spüren. Da ist kein überflüssiger Schritt! Niemals hat man das Gefühl, einen Schritt oder eine Bewegung allein zum Zwecke des Zeit-Füllens auszuführen! Alles ist an seinem Platz. Kyliáns Musikalität wird immer wieder erwähnt. Für mich erklärt sie einen grossen Teil seines Geheimnisses. Auch wenn man die Musik wegnehmen würde – so erlebe ich es zum Beispiel gerade in Stepping Stones –, könnte man sie in der Choreografie hören. Diese Klarheit macht es so einzigartig, seine Stücke zu tanzen. An allen vier Choreografien unseres neuen Kylián-Abends bin ich gerade in irgendeiner Weise beteiligt. Dabei wird mir bei all ihrer Verschiedenheit immer wieder bewusst, was sie eint: Sie atmen Schönheit und reines Gefühl zu wunderbarer Musik – Poesie in Bewegung.
Text von Michael Küster.
Foto von Jos Schmid.
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