Almost Blue
Angels' Atlas
Choreografie von Marco Goecke
Angels’ Atlas
Angels' Atlas
Choreografie von Crystal Pite
Dauer ca. 2 Std. 20 Min. inkl. Pausen nach dem 1. Teil nach ca. 30 Min. und nach dem 2. Teil nach ca. 1 Std. 30 Min. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.
Partnerin Ballett Zürich
Vergangene Termine
Oktober 2021
01
Okt19.00
Angels' Atlas
Choreografien von Crystal Pite und Marco Goecke, Premiere, Premieren-Abo A
November 2021
März 2022
April 2022
Gut zu wissen
Ab Freitag, 1. April entfällt die Maskenpflicht für das Publikum in allen Vorstellungen und Veranstaltungen im Opernhaus Zürich. Mehr Infos finden Sie hier.
Angels' Atlas
Kurzgefasst
Angels' Atlas
Crystal Pite zählt zu den gefragtesten Choreografinnen unserer Zeit. Im kanadischen Vancouver leitet sie ihre eigene Formation «Kidd Pivot» und ist heute regelmässig bei den renommiertesten Compagnien der Welt zu Gast. Ihr 2020 vom National Ballet of Canada uraufgeführtes Stücks Angels’ Atlas ist in Koproduktion mit dem Ballett Zürich entstanden und erlebt nun seine europäische Erstaufführung. Darin widmet sich Crystal Pite der Verbindung von Licht und Tanz: Wie die Choreografie ist auch die Bewegung des Lichts quecksilbrig und flüchtig, doch – so die Choreografin – «mit dem Tanz können wir der eigenen Vergänglichkeit etwas entgegensetzen». Jay Gower Taylor und Tom Visser haben für Angels’ Atlas in Zürich ein ausgeklügeltes System zur Steuerung reflektierten Lichts entwickelt. Auf einer Projektionsfläche kreiert es komplexe, malerische Bilder und erzeugt eine verblüffende Illusion von Tiefe und Natürlichkeit.
Am Beginn unseres dreiteiligen Abends steht Crystal Pites umjubeltes, in seiner kollektiven Wucht überwältigendes Stück Emergence, das 2018 in Zürich Premiere feierte. Dafür hat sich die Choreografin vom Kollektivverhalten der Bienen inspirieren lassen und deren Schwarmintelligenz als Modell auf die Kreativität einer Ballettcompagnie übertragen. Tatsächlich scheinen sich die Tänzerinnen und Tänzer des Balletts Zürich in ein Volk von Insekten zu verwandeln.
Einen spannenden Kontrast zu Crystal Pite verspricht die schweizerische Erstaufführung eines neuen Stücks von Marco Goecke. Auf der Basis des klassischen Balletts hat der deutsche Choreograf eine unverwechselbare Bewegungssprache entwickelt, die einem – in ihrer Verbindung aus Nervosität und Raserei – immer wieder auch das Albtraumhafte des Tanzes bewusst macht. In Zürich sorgte Marco Goecke zuletzt mit seinem Ballett Nijinski für Furore. Bevor er als Ballettdirektor nach Hannover ging, verabschiedete er sich 2018 als langjähriger Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts mit dem Stück Almost Blue. Zu emotionalen Songs der Blues- und Gospellegende Etta James sowie der US-amerikanischen Band «Antony and the Johnsons» setzt sich Marco Goecke darin mit Veränderung und Vergänglichkeit auseinander.
Pressestimmen
«To call the performance brilliant is nothing short of a major understatement.»
Bachtrack, 3 Okt 2021«In ‹Angels’ Atlas› laufen die Körper zur Höchstform gegen ihre eigene Vergänglichkeit auf, und die Zürcher Ballett-Kompanie zeigt sich von ihrer besten Seite.»
NZZ, 3 Okt 2021«Das Warten hat sich gelohnt. ‹Angels’ Atlas› gleicht einer Sinfonie aus Bewegung und Licht.»
Tages-Anzeiger, 2 Okt 2021
Porträt
Umtost von kosmischen Winden
Das Ballett Zürich eröffnete die Saison 2021/22 mit einer aufsehenerregenden Produktion – der europäischen Erstaufführung von Crystal Pites neuem Stück «Angels’ Atlas», das als Koproduktion mit dem Kanadischen Nationalballett entstanden ist. Die Choreografin wagt darin nicht weniger als eine Vermessung des Himmels und des Menschseins in Tanzform. Dorion Weickmann hat mit der Ausnahmekünstlerin gesprochen und beleuchtet in ihrem Porträt ästhetische, persönliche und politische Aspekte ihrer Arbeit.
Es war einmal ein kleines Mädchen, das oft in den Himmel schaute und sich vom Kosmos und seinen Gestirnen erzählen liess. Manchmal verspürte es dabei einen schwindelerregenden Kitzel. Dann fuhr der Blitz der Erkenntnis in seinen Körper – ein Gefühl, als falle es durch Raum und Zeit. Diese Augenblicke haben das Mädchen beflügelt. Haben es später angespornt, nach den grössten Rätseln zu greifen. Ist nicht jedes Menschenkind klein «im Angesicht der unbeantwortbaren Fragen über Liebe, Tod und die Unendlichkeit»? So steht es in Crystal Pites Notizen zu Angels’ Atlas.
Sacht sinkt ein Nebelrelief hernieder, eine galaktische Wolke, aus der stalaktitenartige Gebilde dem Erdboden entgegenwachsen. So spitz, dass sie die Menschen, die da dicht beieinander kauern, aufzuspiessen drohen. Eine Fata Morgana? Das Himmlische Jerusalem, jenes postapokalyptische Paradies, dessen Kerzenkranz in Kirchenräumen die Zukunft verheisst? Noch liegen die Leiber gefangen im Staub. Als das Licht sie berührt, fährt ferner Atem in sie hinein. Schenkt ihnen Kraft, sich aufzurichten. Auszuschreiten. Fortzugehen. Und doch lösen sich längst nicht alle. Aus dem Dunkel erklingt Engelsgesang. Er hält sie fest. Fest auf der Erde.
Ein Spätsommertag, über Vancouver hängt seit Wochen schon eine Hitzeglocke. Die Wälder brennen. Die Menschen stöhnen und flüchten tief ins Innere ihrer Häuser. Crystal Pite sitzt an ihrem Schreibtisch, die Zoom-Kamera läuft. Über den Atlantik hinweg spricht sie von ihrer Arbeit, der Pandemie, von den Fragen, die uns alle umtreiben: Wie soll, wie kann es weitergehen mit der Welt, mit dem Planeten, den wir sehenden Auges ruinieren? In ihrem Rücken steht eine Tür weit offen, dahinter brütet die Wärme, bohrt sich in Terrassenplatten, Gartenbank und Geländer. In die flimmernde Luft hinein überlegt Pite, was Angels’ Atlas bedeutet: «Engel stehen für das, was wir nicht wissen. Der Atlas für das, was wir wissen. Und das Stück für die Grenze dazwischen.» Das Limit also, das wir gerade permanent überschreiten – in Richtung Abgrund.
Angels’ Atlas, von Crystal Pite vor zwei Jahren fürs Kanadische Nationalballett entworfen und jetzt nach Zürich übernommen, ist ein Wunderwerk an Präzision, gekreuzt mit den Launen des Zufalls. Dramaturgie und Choreografie sind minuziös ausgestaltet. Aber die Lichtarchitektur, die das Geschehen überwölbt, ist ein aleatorisches Spiel. Der Lichtdesigner Tom Visser und Jay Gower Taylor, Pites Bühnenbildner und Lebenspartner, haben die Mechanik über Jahre hinweg ersonnen. Bis sie zum Ausgangspunkt des tänzerischen Grenzgangs wurde, den Pite 2019 unternahm. Und zwar im Zustand totaler Erschöpfung, wie sie freimütig erzählt. Was kein Wunder ist: In zwanzig Jahren hat sie über fünfzig Werke in Szene gesetzt, das Arbeitspensum ist enorm. Seinerzeit kam sie zudem gerade aus einer Mammutproduktion an der Pariser Oper: Body and Soul tastet die Topografie der menschlichen Existenz zwischen Ich und Wir, Körper und Seele ab. Es ist fast eine Art Vorläufer für die Himmelsvermessung, der freilich nichts über die Strapazen verrät, die solche Kreationsprozesse mit sich bringen. Selbst wenn sie Krisen und Konflikte anspricht, fliegt Crystal Pites Stimme hell und klar über den Ozean. Sie ist zugewandt, aufmerksam, offen. Das Aussergewöhnliche ihrer Person spiegelt sich auch im Resonanzraum ihrer Kunst, die nahbar ist, einfühlsam, phantasievoll und kommunikativ. Die Kanadierin ist sichtlich und hörbar verbunden mit dem, was sie tut. Mit den Menschen, die ihr begegnen, den Tänzern, für die sie choreografiert und die stets von ihr schwärmen: «authentisch», «hierarchiefrei», «empathisch», «inspirierend», «hochkreativ und null arrogant». Prädikate wie diese haften ihr an, sind fast schon ein Markenzeichen. Ein Qualitätssiegel, das ihre Werke beglaubigen. Weil sie berühren, vom allerersten Moment. Weil sie beim Zusehen längst verstummte Saiten zum Klingen bringen: Staunen, Mitgefühl, Erkenntnis. Crystal Pites Thema ist die Condition humaine und ihre metaphysische Verankerung. Jenseits aller materiellen, aller dramatischen Aspekte werden ihre szenischen Geflechte von transzendenten Fäden zusammengehalten. Die Choreografie orientiert sich an horizontalen Prinzipien, die geistige Matrix wurzelt in der Vertikale. Kosmische Winde, irdische Fragen – so gesehen ist Angels’ Atlas ein Manifest, das Crystal Pites Ästhetik idealtypisch ausformuliert: Alles ist mit allem verbunden, nichts geschieht ohne Sinn und Hintersinn. Ein Blick auf den musikalischen Anfang genügt. Pjotr Tschaikowski steht für das Ballett, seine Kompositionen sind die Signatur der Klassiker schlechthin. Der Cherubim-Hymnus, den er 1878 schrieb, ist das geistliche Gegenstück: eine Ode auf die Herrlichkeit des Himmels, das Jenseits. Das freilich nur erblickt, wer die sterbliche Hülle verlassen, das Instrument des Tanzes abgelegt hat. Wenn Pite Angels’ Atlas mit Tschaikowskis Sakralchor eröffnet, knüpft sie das tänzerische Traditionsband neu – und anders: Innigkeit statt Spitzenschuhglamour. Gleichzeitig findet ein Akt der Einschreibung statt: Auf den Flügeln der Musik gleitet der vergängliche Körper hinüber in die Ewigkeit. Wer Angels’ Atlas betrachtet und Tschaikowski lauscht, wird im Strom der Gedanken vielleicht noch ein anderes Ufer erreichen, nah gelegen und fern zugleich: Charles Ives’ The Unanswered Question, jene 1908 veröffentlichte Komposition, die wieder und wieder eine einzige Frage in den Klangraum wirft und ohne Antwort bleibt. Kein Geringerer als der choreografische Titan George Balanchine hat Charles Ives’ elegisches Klangmonument 1954 ins Tänzerische verlängert, unter Beibehaltung der Nichtkorrespondenz. Auch Angels’ Atlas stellt die Frage nach dem Schicksal des Menschen, dem Wesen der Menschlichkeit. Aber anders als Balanchine baut Pite sphärische Brücken zwischen Diesseits und Jenseits. Sie denkt Welten zusammen, statt sie auseinanderzudividieren.
Dieses Talent zieht sich durch Crystal Pites Biografie wie durch ihr Schaffen. Seinen Anfang nimmt beides in Terrace, British Columbia. Ein Städtchen mit rund 12’000 Einwohnern, das von der Holzindustrie lebt, aber für Familie Pite – Vater, Mutter, Tochter und Söhne – bald zu klein ist. Nächste Station ist Victoria, wo Crystal Tanzunterricht nimmt und schon bald beginnt, für andere Kinder zu choreografieren. 1988 startet sie in die Profikarriere als Tänzerin am Ballet BC (für British Columbia), zwei Jahre später hebt sie dort ihr erstes Bühnenwerk aus der Taufe. Zudem begegnet sie dem Choreografen, der sie künstlerisch wie kein anderer prägt: Mit der Extremetüde In The Middle, Somewhat Elevated hebt die junge Tänzerin ab in den Orbit von William Forsythe. Mitte der 1990er-Jahre wechselt sie zu seiner Truppe nach Frankfurt am Main. Was handwerkliches Können betrifft, weist ihr der Amerikaner den Weg. Gleichwohl schlägt sie stilistisch eine andere Richtung ein: Wo Forsythe mit lässiger Eleganz das postmoderne Ballettzepter schwingt, emanzipiert sich Pite und arbeitet mit allen Schattierungen der Tanzpalette. Ihre Schöpfungen sind poetisch und politisch. Sie pulsieren organisch, betören mit dichten Tanztexturen und bringen jedes Corps de ballet zurück zu seiner eigentlichen Bestimmung: gemeinsamer Herzschlag, kollektive Atmung.
Noch als Geheimtipp gehandelt, kehrt Pite 2001 nach Kanada zurück und gründet in Vancouver ihre eigene Kompanie «Kidd Pivot» – bis heute Labor ihrer kreativen Ideen. Alljährlich bringt sie eine Neuproduktion heraus, zwei Jahre Vorlauf sind durchaus üblich. Anders verhält es sich im Theaterbetrieb, den sie von Toronto über London bis Zürich inzwischen in- und auswendig kennt – samt Privilegien und Problemen: Die Produktionsbedingungen sind gut, die Probenzeiten kurz, und ein Riesenensemble zu dirigieren, erfordert anderes Geschick und Gespür als für die Handvoll Tänzer, die bei «Kidd Pivot» unter Vertrag sind. Indes hat gerade die überschaubare Grösse des eigenen Teams ein Pionierprojekt begünstigt, das der Choreografin wie ihrem Co-Direktor Eric Beauchesne enorm am Herzen lag: «Kidd Pivot» reist und arbeitet klimaneutral und behauptet sich damit als Vorreiter im internationalen Tourneegeschäft. Was zur Überzeugung einer Künstlerin passt, die Tanz als Universalie begreift – als Stoff, aus dem sich Gesellschaftspanoramen ebenso modellieren lassen wie intime Beziehungsdramen. Als Werkzeug, das Wirtschaftskomplexe erhellen und Weltliteratur übersetzen kann. Exemplarisch für Pites politische Ader steht ihre preisgekrönte, mit dem Royal Ballet London entwickelte Flüchtlingsparabel Flight Pattern (2017) – eine surrealistische und deshalb nur umso wahrhaftigere Reflexion über globale Migration und Menschen, die schutzsuchend über Meere und Kontinente treiben. Auch Betroffenheit (2015) verhandelt eine Tragödie von antiken Ausmassen: den Tod der Tochter, den Co-Autor Jonathon Young erlitten hat. Nie kippt das Trauma ins Pathetische, die Erinnerung in Verklärung. Stattdessen agiert Young inmitten der Tänzerschar von «Kidd Pivot», den grotesken Platzhaltern seiner widerstreitenden Traueraffekte. 2016 entwarf der Schauspieler auch die Sprachpartitur für The Statement, das am Nederlands Dans Theater herauskam. Der Text steuert ein Tänzer-Quartett im Krisenmodus, das die Ursache eines kapitalen Betriebsfehlers aufzudecken sucht – Inquisitionstribunal im Konzernvorstand. Ebenfalls im Tandem haben Young und Pite zuletzt Gogols Revisor (2019) in ein schillerndes Tanzspektakel verwandelt. Dann schlug Corona zu, und die gerade in Amsterdam gastierende Compagnie musste heimreisen, statt Europa zu beglücken. Das war im März 2020. Seitdem hat die Choreografin kein Studio betreten, keine Proben abgehalten, keine Reise angetreten. Bis in den Spätsommer 2021 sass sie in Vancouver fest, mit Mann und zehnjährigem Sohn, der immerhin noch zur Schule gehen und Freunde treffen konnte. War es Vorsehung, war es Zufall – für 2020 hatte Crystal Pite ohnehin ein Sabbatical geplant: Durchatmen, Tempo rausnehmen und den jahrelangen Dauerlauf von Termin zu Termin, von Ort zu Ort, Theater zu Theater unterbrechen. Sie wollte Zeit haben für das Kind, und für neue Projekte. Stattdessen rollte die Pandemie heran: sämtliche Aktivitäten eingefroren, alle physischen Kontakte ausgehebelt. Ein Umstieg auf Digitalformate kam nicht infrage: Ausgeschlossen, so mit Tänzern zu arbeiten! Zumindest für eine wie sie. Pites Kunst lebt von Achtsamkeit, Wahrnehmung, Austausch, von Anwesenheit mit allen Sinnen und ohne Kamerafilter dazwischen. Die Auszeit hat viele Fragen aufgeworfen, hat sie mit dem eigenen Selbst- und Weltverständnis konfrontiert: «What can I bring to the conversation?»: Was ist ihre Rolle als Künstlerin? Jedenfalls nicht, in Aktivismus zu verfallen. Den katastrophischen Zeitläuften setzt sie die Macht der Bilder, der Schönheit wie des Schreckens entgegen: «Die beste Möglichkeit, Menschen zu erreichen, ist, gute Kunst zu machen.»
Unmerklich schiebt sich der Nebelschleier himmelwärts. Eine Theaterewigkeit lang hat er die Menschen begleitet – Liebende, Sterbende, Trauernde, Tröstende, Zweifelnde. Das Leben, es bleibt ein Geheimnis. Magnum Mysterium, das über der Szene schwebt und die Reprisen des Anfangs begleitet: weltumarmende Ports de bras, gedrehte Arabesques. Die letzten Sekunden gehören Mann und Frau. Da ist nichts Trennendes mehr. Nur tiefe Ruhe. Überirdische Vollkommenheit. Das kleine Mädchen, das so gern in die Sterne schaute, pflückt sie heute vom Tanzhimmel. Von der Bühne funkeln und strahlen sie dann in die Herzen der Menschen hinein, die ihren Glanz nicht wieder vergessen. Kein Märchen, sondern die reine Wahrheit über Crystal Pite und ihre Werke. Worte reichen nicht hin, um den Zauber einzufangen.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 85, Oktober 2021.
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Wie machen Sie das, Herr Bogatu?
Im ersten Teil des Abends, Emergence, geht es technisch noch ganz harmlos zu: Die Bühne wird mit Hilfe eines bemalten Hintergrundes und eines Tunnels in einen Bienenstock verwandelt. Hier beeindruckt mich nicht die Technik, sondern die unglaubliche Bewegungskunst unserer Tänzerinnen und Tänzer, die in der Choreografie von Crystal Pite zu einem Organismus aus Insekten werden. Bitter ist, dass wir nach diesem Teil nicht nur das Bühnenbild abbauen, sondern auch den Tanzboden wechseln müssen. Wenn Künstler*innen mit der Idee kommen, die Bühne in Schutt und Staub zu legen, dann ist das schon eine Herausforderung. In Almost Blue möchte der Bühnenbildner Thomas Mika genau das und bekommt auch genau das: Aus dem Schnürboden lassen wir grosse Mengen von Schutt und Staub auf die Tänzer*innen fallen. Der Staub ist gesundheitlich unbedenklicher «Theaterstaub» und der Schutt ein spannendes Material aus dem Baumarkt: Es handelt sich um ökologisch und gesundheitlich unbedenkliche «Ausgleichsschüttung» – mit Zement überzogene Holzspäne. Sieht wie Beton aus, ist aber überraschend leicht und wird niemanden verletzen. Aber bitter: Danach werden wir in Windeseile mit einem extra angeschafften Hochleistungssauger die ganze Bühne putzen müssen. Nach dem Umbau, bei dem natürlich auch wieder der Boden gewechselt werden muss, geht es weiter mit einem unglaublichen Lichteffektfeuerwerk. Die Idee: Ein ultraheller, stark gebündelter Lichtstrahl wird auf die Kante eines mit Spiegelfolie überzogenen Objekts ausgerichtet. Dadurch, dass sich die Spiegelfolie nie ganz gerade, sondern mit kleinen Falten, Rundungen und Erhebungen kleben lässt, wird der Strahl nicht wie in einem Spiegel einfach nur 1:1 umgelenkt, sondern er wird ganz zufällig gebrochen, reflektiert, gebündelt und gefächert auf eine grosse Projektionsfolie reflektiert. Wenn man nun den Strahl ganz langsam entlang der Kante wandern und gleichzeitig das Objekt rotieren lässt, entstehen fantastische Lichteffekte auf der Projektionsfolie. Darauf muss man erst einmal kommen! Der Lichtdesigner Tom Visser und der Bühnenbildner Jay Gower Taylor haben ihre Idee in ausgeklügelten Experimenten immer weiter verfeinert und treiben sie in der Aufführung Angels’ Atlas auf die Spitze. Sie benutzen drei rotierende Objekte, eine am Boden liegende Spiegelfolienfläche und unzählige Scheinwerfer, mit denen Strahlen mit unfassbar schönen Farben und Formen auf die Folie geworfen werden. Jede Vorstellung wird ein optischer Genuss – und ein Unikat: Obwohl wir hochpräzise Scheinwerfer einsetzen und die Spiegel auf hundertstel Grad (!!!) genau steuern können, ist es nicht möglich, das Ganze völlig identisch zu reproduzieren. Aber das macht es für uns noch spannender. Die Spiegel und Scheinwerfer sehen Sie übrigens nicht: Diese stehen vom Publikum aus gesehen hinter der Projektionsfolie. Das Publikum kann so das Zusammenspiel der Choreografie von Crystal Pite mit dem bewegten Licht von Tom Visser voll geniessen.
Sebastian Bogatu ist Technischer Direktor am Opernhaus Zürich.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 85, Oktober 2021.
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Biografien
Crystal Pite, Choreografie
Crystal Pite
Crystal Pite ist eine der gefragtesten Choreografinnen der Gegenwart. Die gebürtige Kanadierin tanzte im Ballet British Columbia und in William Forsythes Ballett Frankfurt. Seit ihrem professionellen Debüt als Choreografin 1990 beim Ballet British Columbia entstanden über 50 Stücke für renommierte Compagnien, u.a. für das Nederlands Dans Theater, das Ballett Frankfurt, das Ballett der Opéra de Paris, das Ballet British Columbia, das National Ballet of Canada und das Royal Ballet, London. Sie ist Assoziierte Choreografin beim Nederlands Dans Theater, am Sadler’s Wells, London, und am Canada’s National Arts Centre. Sie ist Ehrendoktorin der Simon Fraser University und Mitglied des Order of Canada. 2002 gründete Crystal Pite in Vancouver ihre eigene Compagnie Kidd Pivot, die zu einem unverwechselbaren Stil gefunden hat. Klassische Tanzelemente verbinden sich mit einer komplexen improvisatorischen Freiheit und einer starken theatralischen Sensibilität voller Humor und Fantasie. Kidd Pivot ist auf internationalen Tourneen zu erleben, u.a. mit den Stücken Betroffenheit und Revisor (beide in Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Jonathon Young), The Tempest Replica, Dark Matters, Lost Action und The You Show. Für das Ballett der Opéra de Paris entstanden die Stücke The Seasons’ Canon und Body and Soul. Zu Crystal Pites zahlreichen Auszeichnungen zählen der Benois de la Danse für The Seasons’ Canon (2016) beim Ballett der Opéra deParis, der Governor General of Canada’s Performing Arts Award: Mentorship Program (2008) und der Grand Prix de la danse de Montréal (2018). Für Stücke mit Kidd Pivot und dem Royal Ballet wurde sie dreimal mit dem Sir Laurence Olivier Award ausgezeichnet. Das in Koproduktion mit dem Ballett Zürich entstandene Ballett Angels’ Atlas wurde 2020 beim National Ballet of Canada in Toronto uraufgeführt.
Owen Belton, Musik
Owen Belton
Der kanadische Komponist Owen Belton lebt in Vancouver. Er studierte Fine and Performing Arts an der Simon Fraser University sowie Akustik und Computer Music Composition bei Owen Underhill und Barry Truax. Seit 1994 komponiert er Ballettmusik. Damals schrieb er Shapes of A Passing für Crystal Pite und das Ballet Jorgen in Toronto. Es folgten zahlreiche Werke für internationale Ballettcompagnien wie Kidd Pivot, das Kanadische Nationalballett, das Nederlands Dans Theater, das Ballett der Opéra de Paris, das Cullberg Ballet, das Ballett Nürnberg, das Oregon Ballet Theatre und die Compagnie «420 People» in Prag. Darüber hinaus entstanden Sounddesigns und Kompositionen für Theater. Ausserdem schrieb er die Musik zu diversen Fernseh- und Kurzfilmproduktionen. Für seine Musik zu Emergence wurde Owen Belton 2009 mit dem kanadischen Dora Mavor Moore Award für die beste Ballettpartitur ausgezeichnet.
Jay Gower Taylor, Bühnenbild
Jay Gower Taylor
Jay Gower Taylor blickt auf eine über zwanzigjährige internationale Tänzerkarriere zurück. Seit zehn Jahren ist er als Bühnenbildner für die Choreografin Crystal Pite tätig. Es entstanden Plot Point, Frontier, Solo Echo, Parade, In the Event und The Statement für das Nederlands Dans Theater, Emergence für das National Ballet of Canada, Polaris für Sadler’s Wells, London, sowie Dark Matters, The Tempest Replica und Betroffenheit für Kidd Pivot. Jüngste Arbeiten waren The Seasons’s Canon und Body and Soul für das Ballett der Opéra de Paris sowie Flight Pattern für das Royal Ballet, London.
Linda Chow, Kostüme
Linda Chow
Linda Chow absolvierte das Ryerson Theatre Program in Toronto und war als Schneiderin für Theater, Tanz, Oper und Film tätig. Vor allem im Ballett kreiert sie heute Kostümbilder für die verschiedensten Choreografen, u.a. für Aszure Barton (Vitulare beim Ballett BC, awaa für Aszure & Artists) und José Navas (Giselle beim Ballett BC). Für Crystal Pite und Kidd Pivot entstanden die Kostüme zu 10 Duets on the Theme of Rescue, Lost Action, Dark Matters und The You Show sowie Emergence für das National Ballet of Canada.
Nancy Bryant, Kostüme
Nancy Bryant
Die Kostümbildnerin Nancy Bryant ist als Designerin in den Bereichen Tanz, Theater, Oper und Film tätig. Sie lebt in Vancouver. Eine enge Zusammenarbeit verbindet sie mit der kanadischen Choreografin Crystal Pite. Bereits 1996 arbeiteten sie bei dem Ballett Moving Day (Ballet BC) erstmals zusammen. Nancy Briant gestaltete die Kostüme für Crystal Pites Body and Soul und The Seasons‘ Canon beim Ballett der Opéra de Paris, Flight Pattern beim Royal Ballet, Partita, Parade und Plot Point für das Nederlands Dans Theater, Revisor und The Tempest Replica für Kidd Pivot und Betroffenheit für Kidd Pivot/Electric Co. Ihre Kostümentwürfe für Theater und Oper umfassen Arbeiten für die Künstler Jonathon Young, Stan Douglas, Morris Panych und Kim Collier an der Vancouver Opera und Pacific Opera Victoria, beim Shaw Festival, Canadian Stage, Vancouver Playhouse und auf weiteren internationalen Bühnen. Zu ihren Kostümarbeiten für das Fernsehen gehören Legend of Earthsea, A Wrinkle in Time, The Snow Queen und Snow White.
Alan Brodie, Lichtgestaltung
Alan Brodie
Alan Brodie stammt aus Kanada. Als Lichtdesigner arbeitet er für Ballett, Sprech- und Musiktheater. Seit 1989 war er für viele kanadische und internationale Compagnien und Theater tätig, so für das National Ballet of Canada, die Canadian Opera Company, die Canadian Stage Company, das Stratford Shakespeare Festival (Kanada), das Shaw Festival, das Pacific Northwest Ballet, das American Conservatory Theatre in San Francisco, die Centre Theatre Group in Los Angeles, das Nederlands Dans Theater und das Scottish Ballet. Die kanadische Produktion The Overcoat war nicht nur in Kanada, sondern auch in Adelaide, Wellington, Bergen und London zu sehen. Eine enge Zusammenarbeit verbindet Alan Brodie mit Crystal Pite, deren Choreografien er auf Tourneen mit Kidd Pivot als Lighting Director betreut.
Tom Visser, Lichtgestaltung
Tom Visser
Der Lichtdesigner Tom Visser stammt aus Irland. Als Kind einer Theaterfamilie verbrachte er viel Zeit in Theatern auf der ganzen Welt. Im Alter von 18 Jahren begann er, im Musiktheater zu arbeiten. 2003 wurde er ans Nederlands Dans Theater engagiert, was ihn mit namhaften Persönlichkeiten der Tanzwelt in Kontakt brachte. Seit einigen Jahren arbeitet er als freiberuflicher Lichtdesigner, u.a. für das Nederlands Dans Theater, Royal Swedish Ballet, Compañía Nacional de Danza, Norwegian National Ballet, Ballet Vlaanderen, Sydney Dance Company, Göteborg Ballet, Hubbard Street Dance Chicago, Les Ballets de Monte-Carlo und Balé da Cidade de São Paulo. Zu seinen jüngsten Arbeiten mit Crystal Pite gehören The Seasons’ Canon und Body and Soul (Paris Opera Ballet), Solo Echo, Frontier and Parade (Nederlands Dans Theater), Polaris (Sadler’s Wells) und Betroffenheit (Kidd Pivot). Ausserdem arbeitete er für die Choreografen Alexander Ekman, Johan Inger und Joeri Dubbe.
Marco Goecke, Choreografie
Marco Goecke
Marco Goecke stammt aus Wuppertal. Seine Ballettausbildung absolvierte er an der Ballettakademie der Heinz-Bosl-Stiftung München sowie am Königlichen Konservatorium Den Haag. Darauf folgten Engagements an der Staatsoper Berlin und am Theater Hagen. An diesem Theater schuf Goecke im Jahr 2000 seine erste Choreografie mit dem Titel Loch. Es folgten mehrere Choreografien für die Noverre-Gesellschaft mit Tänzern des Stuttgarter Balletts und eine Einladung an das New York Choreographic Institute. Mit der Spielzeit 2005/06 wurde Marco Goecke zum Hauschoreografen des Stuttgarter Balletts ernannt und kreierte dort 2006 sein erstes Handlungsballett Nussknacker, das später auch für den ZDF-Theaterkanal verfilmt wurde. Von 2006 bis 2012 hatte Goecke den Titel des Hauschoreografen auch beim Scapino Ballet Rotterdam inne. Ab der Spielzeit 2013/14 wurde er Associate Choreographer beim Nederlands Dans Theater. 2019 bis 2023 war er Gauthier Dance als «Artist in Residence» verbunden, von 2019 bis 2023 war er Ballettdirektor des Staatsballetts Hannover. Von den über neunzig Werken, die Goecke innerhalb von wenigen Jahren geschaffen hat, gehören viele zum Repertoire namhafter Ballettcompagnien, u. a. Grands Ballets Canadiens de Montréal, Canadian National Ballet, Ballett-Theater München, Finnish National Ballet, Ballett Zürich, Ballett am Rhein Düsseldorf, Ballett der Opéra de Paris und Ballett der Wiener Staatsoper. Marco Goecke wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Nijinsky Award Monte Carlo, der Niederländische Tanzpreis «Zwaan» sowie der italienische «Danzadanza Award» für Nijinski als «Beste Choreografie des Jahres». In der Kritikerumfrage der Zeitschrift tanz wurde er 2015 als «Choreograf des Jahres» ausgezeichnet. Das vom NDT uraufgeführte Stück Wir sagen uns Dunkles wurde für den Prix Benois nominiert. 2022 wurde Marco Goecke mit dem Jiří-Kylián-Ring sowie dem Deutschen Tanzpreis ausgezeichnet. Zu seinen jüngsten Arbeiten gehören das abendfüllende Stück A Wilde Story über den Schriftsteller Oscar Wilde für das Staatsballett Hannover sowie das 2023 entstandene Stück In The Dutch Mountains für das Nederlands Dans Theater. Mit der
Spielzeit 2025/26 wird Marco Goecke Direktor des Balletts am Theater Basel.
Thomas Mika, Bühnenbild und Kostüme
Thomas Mika
Der Bühnen- und Kostümbildner Thomas Mika studierte Opernregie an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. 2006 kreierte er sein erstes Design für das Staatsballett Berlin. Im gleichen Jahr stellte er mit Bizets Carmen seine erste Operninszenierung mit dem Ensemble Escritura Hamburg vor. 2020 folgte seine Inszenierung von Lehárs Der Graf von Luxemburg an der Estnischen Nationaloper. Der Schwerpunkt von Thomas Mikas Schaffen liegt im Tanzbereich, wo er mit zeitgenössischen Choreografen wie Alejandro Cerrudo, Edward Clug, Marco Goecke, Leo Mujic, Riccardo De Nigris, Kevin O’Day, Tim Plegge, Sergej Vanaev und Jeroen Verbruggen zusammenarbeitet. Im klassischen Repertoire kreierte er neue Designs für Onegin und Romeo und Julia von John Cranko, Die Kameliendame von Derek Deane, Don Quichotte in den Versionen von Alexey Fadeechev und Nina Ananishvili, Romeo und Julia von Ben Van Cauwenbergh sowie Schwanensee in Produktionen von Thomas Edur sowie Eno Peci und Sabrina Sadowska. Seine Entwürfe entstanden für viele renommierte Ballettcompagnien weltweit, darunter das Ballet de l’Opéra de Paris, das Bolschoi Ballett Moskau, das Stuttgarter Ballett, das Staatsballett Berlin, das Chinesische Nationalballett, das Hong Kong Ballett, das San Francisco Ballet, Hubbard Street Dance Chicago und das Königliche Ballett von Flandern.
Udo Haberland, Lichtgestaltung
Udo Haberland
Udo Haberland war zunächst Fotograf in Berlin. 1988 begann er, für Film und Fernsehen sowie für die Staatsoper Stuttgart zu arbeiten. Als freier Lichtgestalter und Beleuchtungsmeister für Ballett, Tanz, Oper und Schauspiel arbeitete er in Europa, den USA und Australien, u.a. für die Salzburger Festspiele, die Wiener Festwochen und die Ludwigsburger Festspiele. Im kommerziellen Bereich war er u.a. für Arte, MTV & VIVA, ARD, ZDF, Deutsche Telekom, Daimler-Crysler, Toyota, Kodak tätig. Seit 2003 verbindet ihn eine enge Zusammenarbeit mit dem Choreografen Marco Goecke. Udo Haberland war Lichtdesigner bei sämtlichen Goecke-Kreationen für das Stuttgarter Ballett. Daneben entstanden gemeinsame Produktionen für das Scapino Ballett Rotterdam, das Nederlands Dans Theater, Les Ballets de Monte-Carlo, die São Paulo Companhia de Dança, das Staatsballett Berlin, das Norwegische Nationalballett, das Ballett am Rhein, das Ballett des Theaters am Gärtnerplatz und das Ballett der Opéra de Paris. Ausserdem arbeitet Udo Haberland mit den Choreografen Cayetano Soto, Örjan Andersson, Bridget Breiner, Jérôme Delbey und Giovanni Di Palma zusammen.