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Ronja Räubertochter

Familienoper von Jörn Arnecke (*1973)
Libretto von Holger Potocki nach dem gleichnamigen Buch von Astrid Lindgren
Schweizer Erstaufführung

In deutscher Sprache. Dauer 2 Std. 10 Min. inkl. Pause nach dem 1. Teil nach ca. 55 Min.

Gut zu wissen

Kurzgefasst

Ronja Räubertochter

Kurzgefasst

Ronja Räubertochter


Gespräch


Ohne Dunkelheit kein Licht

Am 18. November hat die Familienoper «Ronja Räubertochter» nach dem berühmten Kinderbuch von Astrid Lindgren am Opernhaus Premiere. Ein Gespräch mit Regisseurin Marie-Eve Signeyrole über ihre Sicht auf eine starke Freundschaft und ihren Glauben an Veränderung.

Marie-Eve, du hast bereits einige Erfahrungen als Regisseurin für Kindermusiktheater machen können. Welche waren das?

Meine erste Erfahrung mit Oper für ein junges Publikum war das Schlaue Füchslein von Leoš Janáček, das ich mit jungen Sängern in Montpellier auf die Bühne gebracht habe. Als nächstes konnte ich ein Projekt realisieren, bei dem ich das Stück selbst geschrieben hatte. Bei dieser Inszenierung wirkten 100 Kinder auf der Bühne mit! Die Situation, die ich jetzt habe, in der junge Erwachsene auf der Bühne Jugendliche darstellen, ist neu für mich, aber eine schöne Herausforderung; sie gibt sowohl den erwachsenen Darstellern als auch den Erwachsenen im Publikum die Chance, noch einmal in ihre eigene Jugend einzutauchen.

Arbeitest du anders, wenn du für ein junges Publikum inszenierst? Oder anders gefragt: Worauf kommt es deiner Meinung nach an, wenn man Theater für Kinder macht?

Meine Arbeit an einer Inszenierung für Kinder unterscheidet sich nicht grundsätzlich davon, wie ich sonst arbeite. Ich denke, eine Familienoper sollte für Kinder funktionieren, aber auch für Erwachsene. Am besten ist ein Familienstück, wenn es mehrere Ebenen hat. Und in der Oper hoffen wir natürlich auch darauf, dass die Eltern, die mit ihren Kindern in die Kinderoper gehen, vielleicht auch wiederkommen, um eine andere Aufführung aus dem Repertoire zu sehen. Kinder haben eine grössere Imaginationskraft als Erwachsene. Und es kann für die Erwachsenen grossartig sein, sich in die Vorstellungswelt von Kindern zu begeben, also eine  Aufführung mit den Augen der Kinder zu sehen. Mein Ziel ist es, die Kinder im Publikum so sehr für die Aufführung, für das Theater ganz allgemein zu begeistern, dass sie am liebsten das Theater gar nicht mehr verlassen würden – dass sie so sehr fasziniert sind von den Bühneneffekten, dass sie hinter die Bühne schauen möchten, um herauszufinden, wie das hergestellt wurde. Meine erste Begegnung mit dem Theater fand zu einer Zeit statt, als ich noch Filmemacherin war und eine Dokumentation über ein Stück an der Pariser Oper drehte. Damals hat mich die Bühnenmaschinerie sehr gefesselt; es kam mir vor, als sei ich im Kino, nur mit live-Musik! In diesem Moment ist mir klar geworden, dass es das ist, was ich in Zukunft machen wollte. Ich fühlte mich selbst wie ein staunendes Kind. Das Schönste wäre für mich, wenn die Kinder im Publikum so neugierig wären auf die Welt, die wir auf der Bühne kreiert haben, dass sie Teil sein möchten von dieser Welt.

Unsere Kinderoper Ronja Räubertochter nach dem Roman von Astrid Lindgren erzählt von einem starken Mädchen und einer Freundschaft, die viele Hindernisse überwindet und schliesslich sogar die verfeindeten Erwachsenen wieder zusammenbringt. Welcher Aspekt interessiert dich an dieser Geschichte am meisten?

Ich weiss, dass dieser Stoff in Deutschland und der Schweiz sehr bekannt ist. In Frankreich ist das anders, dort wird Astrid Lindgren kaum gelesen. Auch ich kannte die Geschichte vorher nicht und habe mich der Oper zuerst über die Musik genähert. Und für mich klang der Anfang des Stückes nicht unbedingt nach Gewitter, sondern nach Krieg. Ausserdem liegt es mir nicht so sehr, mich in fantastische Welten hineinzudenken. Mich interessiert die Realität mehr. Und zu dieser Realität gehört eben auch der Krieg. In unserer Inszenierung spielt das Stück nach dem Krieg, in einer Welt voller Ruinen. Mich interessiert die Frage, wie Kinder mit einer zerstörten Welt umgehen und in dieser Welt neues Leben entstehen lassen. Die Zerstörung muss nicht durch Krieg passiert sein, es könnte auch ein Erdbeben oder eine Klimakatastrophe gewesen sein, die die Zerstörung hervorgerufen hat. Die Frage ist: Wie lebt man danach weiter? Wie kann aus Elementen der zerstörten Welt eine neue Welt entstehen? Was könnte an die Stelle des Waldes treten, in den die Kinder sich immer zurückgezogen haben, wenn kein Wald mehr da ist?

Lässt sich denn die Räuberwelt und die Mattisburg, in der Ronja mit den Räubern lebt, in eine vom Krieg zerstörte Stadt übersetzen?

Ich bin immer wieder überrascht davon, dass ein Krieg, der ja an sich schlimm genug ist, viele weitere kleine Kriege auf anderen Ebenen hervorbringt – Menschen zum Beispiel, die vom Krieg profitieren und deshalb ein Interesse daran haben, dass der Krieg weitergeht. Das hatte ich im Hinterkopf, als ich darüber nachdachte, was die Entsprechung für die beiden Räuberbanden in unserer Inszenierung sein könnte. Für mich sind es zwei verfeindete Diebesbanden, Plünderer, die vom Krieg profitieren und sich gegenseitig das Revier streitig machen. Ihre Lebenssituation ist nicht einfach, aber ihr Überlebenswille ist stark. Ein wichtiger Gedanke in unserer Inszenierung ist es, dass aus zerstörten Dingen Neues entstehen kann, durch Recycling und viel Fantasie. Das ist eine Antwort auf die Frage, wie das Leben nach Zerstörung weitergehen kann: Man nimmt eine Hälfte eines kaputten Stuhls, ein Stück Tisch und einen Teil einer Wand und baut sich daraus etwas Neues.

Ein ganz wichtiges Element in der Geschichte ist der Wald; er steht unter anderem für die Freiheit, die Ronja zuerst allein, später zusammen mit Birk erfährt, aber auch für die Gefahren, die das Leben ohne den Schutz der Erwachsenen mit sich bringt. Wenn es in dieser zerstörten Welt keinen Wald mehr gibt – was tritt an seine Stelle?

Mich faszinieren die Filme Emir Kusturicas und die Art und Weise, wie er vom Krieg erzählt. Für Ronja Räubertochter habe ich mich von seinem Film Underground inspirieren lassen. Die Teenager gehen in unserer Inszenierung nicht in den Wald, sondern in den Untergrund. In vom Krieg zerstörten Städten wie zum Beispiel Aleppo gibt es ganze Spielplätze unter der Erde, damit die Kinder und Jugendlichen einen geschützten Ort haben, wo sie spielen und trotz Krieg ein bisschen Kind sein können. In unserer Inszenierung haben sich die Jugendlichen ihre eigene unterirdische Welt geschaffen, wo sie in Sicherheit sind und eben auch frei und für sich sein können. Interessanter weise verhalten sie sich dann aber auch nicht so vielanders als die Erwachsenen, vor denen sie ja ein Stück weit geflohen sind: Sie  wollen sich anziehen wie die Erwachsenen, sie wollen heiraten wie die Erwachsenen, sie haben eine Hierarchie aufgebaut wie die Erwachsenen. Oft wehren wir uns als junge Menschen gegen Dinge, die wir später, wenn wir erwachsen geworden sind, wieder ganz genau so machen. In dieser Untergrundwelt gibt es natürlich keine Fantasiewesen wie Gnome oder Hexen; das sind bei uns auch Teenager, die ohne Eltern in dieser von ihnen selbst kreierten Unterwelt leben. Und wie oft nennen Kinder eine alte Frau, die sie unheimlich finden, eine Hexe! Die Teenager können in dieser Welt ihrer Imagination freien Lauf lassen, es gibt hier keine Erwachsenen, die ihre Fantasie zensieren.

Ronja Räubertochter ist ja auch eine Geschichte über das Erwachsenwerden, darüber, wie es ist, sich zum ersten Mal den Eltern entgegenzustellen, eine Freundschaft gegen den Willen der Eltern zu verteidigen.

Ja, absolut, es ist eine Teenager-Geschichte mit vielen verschiedenen Ebenen. Gerade gestern habe ich mich auf der Probe gefragt, warum Birk, Ronjas Freund, in der Oper eigentlich von einem hohen Sopran gesungen wird und Ronja von einer Mezzosopranistin. Traditionell sind es in der Oper ja eher die tiefen Frauenstimmen, die Hosenrollen übernehmen. Und generell denke ich, dass es besonders für Kinder nicht sehr glaubwürdig ist, wenn eine erwachsene Sängerin einen Jungen spielt. Ist es also vielleicht auch in der Geschichte ein Mädchen, das vorgibt, ein Junge zu sein, weil Jungs in dieser Welt einfach mehr gelten? Und ahnt Ronja das vielleicht schon gleich zu Beginn, wartet aber darauf, bis Birk ihr genug vertraut, um es zuzugeben? Oder ist Ronja auch ein bisschen verliebt in Birk und ahnt zwar, dass es eigentlich ein Mädchen ist, das sich als Junge verkleidet hat, will es aber nicht wahrhaben? Die Grenzen zwischen Freundschaft und Liebe sind in diesem Alter  absolut fliessend! Und das Wichtigste für Ronja und Birk ist es, in dieser zerstörten Welt gemeinsam etwas Intensives zu erleben, gemeinsam zu überleben.

Inwiefern ist Ronja in deinen Augen eine moderne Figur, eine moderne junge Frau? Immerhin setzt sie sich gegen die Erwachsenen durch, und nicht zuletzt dank ihrer Freundschaft zu Birk schliessen die verfeindeten Gangs Frieden.

Wenn ich Ronja sehe, denke ich nicht daran, ob sie eine Frau oder ein Mann ist – sie ist vor allem eine sehr starke Figur. Sie trifft immer die richtige Entscheidung – sei es, ihre Familie zu verlassen und mit Birk im Untergrund zu leben, sei es, zurück nach Hause zu gehen, als sie erfahren muss, dass auch ihre Freiheit Grenzen hat. Jede dieser Entscheidungen hat Konsequenzen, und Ronja ist bereit, diese Konsequenzen zu tragen.

Sehr speziell an deiner Inszenierung ist auch, dass du dich entschieden hast, zusätzlich zu Solistinnen, Solisten und Chor auch acht Akrobaten zu engagieren. Was reizt dich an der Arbeit mit den Akrobaten?

Grundsätzlich interessiert mich Bewegung im Theater, ich habe auch oft schon mit Tänzern gearbeitet. Die Akrobaten können helfen, einen Fokus zu erzeugen, die Aufmerksamkeit des Publikums an einen bestimmten Ort auf der Bühne zu lenken. Ausserdem glaube ich, dass für Kinder und Jugendliche Bewegung extrem wichtig ist; in Bewegung zu sein, bedeutet für sie, lebendig zu sein. Unsere Akrobaten reflektieren die Energie von Kindern und Jugendlichen auf der Bühne. Ein Wald zeichnet sich ja unter anderem dadurch aus, dass dort Tiere leben, dass also alles dort in Bewegung ist. Ich habe ein Äquivalent für dieses Leben in unserer Inszenierung gesucht, und bei uns sind es eben die Akrobaten, die die Unterwelt lebendig werden lassen. Es hat mich, wie gesagt, nicht so sehr interessiert, mich  mit fantastischen Wesen auseinanderzusetzen, sondern ich habe mir vielmehr die Frage gestellt, wie ein menschliches Wesen mit seinem menschlichen Körper etwas Poetisches kreieren kann. Ich vertraue hier ganz der kindlichen Imagination.

Du hast einmal gesagt, in dieser Geschichte führe der Weg aus der Dunkelheit hin zur Schönheit. Kannst du das genauer beschreiben?

Schönheit bedeutet für mich, dass aus dem Nichts etwas entstehen kann – so wie aus Dunkelheit Licht entsteht oder aus dem Dreck etwas Lebendiges. Es gibt kein Licht ohne Schatten, keine Komödie ohne Tragödie. In meiner Inszenierung möchte ich mit Dunkelheit beginnen, mit Ruinen und Zerstörung, um zu zeigen, dass es auch dort Leben geben kann, dass aus den Ruinen Menschen kommen, Gesichter, Lachen. Menschen haben die Kraft, Dinge zu verändern. Davon bin ich überzeugt, und das ist auch der Grund, warum ich Theater mache. Und genau das möchte ich auch in dieser Inszenierung zeigen: Dass auch in einer auf den ersten Blick düsteren, zerstörten Welt Freundschaft und Frieden möglich sind.

Das Gespräch führte Beate Breidenbach, Dramaturgin am Opernhaus Zürich
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 53, November 2017
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Fotogalerie

 

Szenenbilder «Ronja Räubertochter»


Essay


Ein starkes Mädchen

Deniz Uzun über ihre Rolle: Ronja ist eine Figur, mit der ich mich von Anfang an sehr gut identifizieren konnte; ohne es zu merken, habe ich mich sogar privat so angezogen, wie Ronja auf der Bühne aussieht!

Da ist zunächst Ronjas Ungeduld, dieser unbändige Freiheitsdrang, den ich so gut von mir selbst kenne. Sie wächst in einer sehr liebevollen Umgebung auf, sie hat eine tolle Kindheit – und trotzdem muss sie aus dieser behüteten Welt eines Tages ausbrechen und ihren eigenen Weg gehen. Interessant in dieser Geschichte ist ja, dass ihr Vater Mattis Räuber ist und nicht unbedingt das vertritt, was die meisten Eltern unter einer moralisch einwandfreien Lebensweise verstehen würden. Insofern ist es auch eine ungewöhnliche Kindheit, die Ronja erlebt, und entsprechend sind auch ihre ersten Worte im Stück eher ungewöhnlich: «Wir rülpsen, wir springen, wir sind Räuber!» Und dennoch wünscht sie sich eine Welt nur für sich, ohne die Erwachsenen. Sie ist ein unglaublich starker und selbständiger Charakter, aber sie kann auch sehr wütend werden, wenn sie etwas nicht verändern kann, das ihr gegen den Strich geht – oder wenn sie sich nicht ernst genommen fühlt. Dann ist sie bereit, bis zum Äussersten zu gehen.

Ihre Freundschaft mit Birk ist von ihren Eltern überhaupt nicht gern gesehen, immerhin ist Birk das Kind von Borka, Mattis’ ärgstem Feind. Aber Ronja verteidigt diese Freundschaft gegen alle Widerstände. Birk wird ja von den Mattis-Räubern gefangen genommen, und Ronjas Vater will ihn erst dann wieder freilassen, wenn Borka und seine Bande Mattis’ Haus verlassen, in dem sie sich eingenistet haben. Als die bei den Gangs sich am Höllenschlund gegenüber stehen, tut Ronja das Unglaubliche und springt auf die andere Seite, begibt sich also freiwillig in die Gewalt der Borka-Räuber. Das wiederum macht ihren Vater schrecklich wütend. Ronja und Birk fliehen daraufhin von zuhause; erst verbringen sie eine wunderbare Zeit miteinander, aber dann kommt der Winter, das Leben weit weg von zuhause wird schwieriger, und Ronja und Birk haben auch zum ersten Mal richtig Streit. Ronja ist plötzlich sehr einsam und fühlt sich schrecklich verlassen. Aber so ist das eben mit dem Erwachsenwerden und der Suche nach sich selbst – das ist ein schwieriger Prozess, denn es hat sehr viel mit Abschiednehmen zu tun. Aber auch das überwindet Ronja. Am Schluss versöhnt sie sich mit Mattis – und die beiden verfeindeten Familien versöhnen sich auch.

Die Rolle ist nicht einfach zu singen, rhythmisch ist diese Musik sehr anspruchsvoll, und es gibt viele grosse Intervallsprünge. Das tut aber dieser extrovertierten Figur sehr gut, denn so kommt sie auch musikalisch wirklich stark rüber. Die musikalische Herausforderung besteht für mich darin, die Partie so zu gestalten, dass ich trotz der Sprünge die musikalischen Linien nicht aus den Augen verliere.

Ob ich auf der Bühne für Kinder anders spiele? Nein, ich bin höchstens noch ehrlicher! Ich liebe es, Kinder im Theater zu bezaubern und mitzureissen. Auf der Bühne ein Kind oder einen Teenager darzustellen, fällt mir nicht schwer, denn ich habe mir meine kindliche Seite bewahrt. Wenn ich nicht Sängerin geworden wäre, dann wäre ich Kindergärtnerin geworden, und ich will unbedingt später selbst viele Kinder haben.

Deniz Uzun:

Die Mezzosopranistin Deniz Uzun singt die Titelrolle in unserer Familienoper «Ronja Räubertochter». Sie ist seit der vergangenen Spielzeit Mitglied im Ensemble des Opernhauses Zürich und war hier bisher u.a. als Jacob in der Kinderoper «Gold!» sowie als  Son yetka in «Lady Macbeth von Mzensk» und als Alisa in «Lucia di Lammer moor» zu  erleben.


Dieser Artikel ist erschienen in MAG 53, November 2017
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Drei Fragen an...


Ronja im Heute

Intendant Andreas Homoki über Stückauswahl, szenische Umsetzung von Prosatexten und die richtige Regisseurin für Ronja Räubertochter

Andreas Homoki, mit der Kinderoper Ronja Räubertochter findet am Opernhaus Zürich nach dem Zauberer von Oz ein weiterer Kinderbuchklassiker den Weg auf die Opernbühne. Was gefällt Ihnen an diesem Stoff?

Grundsätzlich das, was sich bei Astrid Lindgren wie ein roter Faden durch ihr gesamtes Werk zieht: dass die Welt der Kinder von den Erwachsenen ernstgenommen werden soll. Dass die Kinder in vielen Dingen recht haben und etwas besitzen, das wir Erwachsenen uns hätten bewahren sollen und stattdessen leider oft verloren haben. Schön finde ich ausserdem, dass Ronja nicht das weibliche Rollenklischee verkörpert, sondern ein Mädchen ist, das wie die Jungen seinen Anspruch auf Abenteuer und Lebendigkeit haben darf. Es ist eine emanzipatorische Geschichte, die zudem die Utopie auffächert, dass überkommene und verhärtete Fronten überbrückt werden können.

Die Lektüre von Ronja Räubertochter hinterlässt bei Kindern und Erwachsenen naturgemäss starke Bilder. Das schafft eine gewisse Erwartungshaltung gegenüber einer szenischen Version. Inwiefern darf  sich eine szenische Umsetzung von der Vorlage lösen?

Eines ist ganz klar: Was in der individuellen Fantasie eines Lesers aufscheint, kann eine Bühnenversion nie erfüllen. Das liegt daran, dass ein Prosatext und ein dramatischer Text bereits ein völlig verschiedenes Paar Schuhe sind. Das Musiktheater ist wiederum ein eigenes Medium mit ganz eigenen Gesetzen. Arbeitet man einen literarischen Stoff in eine Oper um, bedeutet das automatisch, dass man sich noch weiter vom Original entfernt. Es gilt zu entscheiden: welche Schwerpunkte möchte ich setzen? Welche Situationen sind besonders geeignet für eine spannende oder berührende Szene? Die Geschichte sollte so erzählt werden, dass sie für die Bühne überzeugend und künstlerisch eigenständig ist. Ein Regisseur wiederum ist dann dazu aufgefordert, Bilder für die Bühne zu finden, die möglichst schlüssig sind und eine eigene Kraft besitzen.

Mit Marie­Eve Signeyrole haben Sie eine Regisseurin engagiert, die zum ersten Mal am Zürcher Opernhaus inszeniert. Warum ist sie die Richtige für Ronja?

Marie­Eve Signeyrole hat in Frankreich bereits mit grossem Erfolg einige Kinderopern inszeniert und auch uns damit überzeugt. Sie erzählt lustvoll und nimmt die Kinder – genau wie Astrid Lindgren – sehr ernst. Ihre Ästhetik ist dabei nie anbiedernd, und ihre Inszenierungen laden immer zum Mitdenken ein. Es wird den einen oder anderen vielleicht irritieren, dass sie sich beim Spielort der Ronja Räubertochter gegen einen Märchenwald entschieden hat. Aber sie hat dafür eine andere, und wie ich finde, sehr überzeugende Chiffre gewählt: Ihre Inszenierung spielt in einer unsicheren Welt, wie wir sie ausserhalb Europas wie beispielsweise im Nahen Osten leider allzu oft vorfinden. Dieser Schauplatz birgt in sich ähnliche Gefahren und Abenteuer wie ein Wald und ist ebenso weit entfernt von unserer behüteten Welt wie ein Wald im Märchen, der ja auch immer etwas Bedrohliches hat. Hier ist nichts fertig konsumierbar, die Kinder bauen sich ihre Spielwelt aus zufällig gefundenen Dingen selber zusammen. Bedrohlich ist hier nicht die Natur des Waldes, sondern merkwürdig unheimliche Unterwelten oder Ruinen. Ich selbst habe als Kind in den 60er­Jahren in Deutschland noch überwucherte Trümmergrundstücke und Bunker erlebt, die für uns Kinder sehr abenteuerlich waren, trotz des schrecklichen historischen Hintergrunds.


Dieser Artikel ist erschienen in MAG 53, November 2017
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