Auf dem Pult
Lucia di Lammermoor
Der Solo-Flötist Maurice Heugen über die Kadenz in Gaetano Donizettis Oper
Seit 30 Jahren bin ich nun am Opernhaus Zürich und habe die berühmte Kadenz in Lucia di Lammermoor bestimmt in 50 bis 60 Vorstellungen gespielt. Und doch ist dieser äusserst heikle, virtuos geführte Dialog zwischen der wahnsinnig gewordenen Lucia und der Solo-Flöte im Graben jedes Mal ein Abenteuer. Normalerweise gehe ich in der Pause in die Garderobe der Sängerin, und wir spielen die Stelle dreimal hintereinander komplett durch. Manchmal finden wir erst nach zwei Vorstellungen so richtig zusammen. Jede Sängerin ist anders, man muss einfühlsam sein und das Timing in kurzer Zeit erfassen können. Elena Moşuc zum Beispiel, die die Rolle viele Male in Zürich verkörpert hat, war sehr verlässlich in ihren Rubati. Edita Gruberova hingegen hat mit einem gespielt. Mit ihr fühlte ich mich jeweils wie auf einer Achterbahnfahrt! Für die Flöte ist die Stelle genauso herausfordernd wie für den Sopran, vor allem in den hohen leisen Tönen. Um perfekt mit der Stimme zu verschmelzen, darf ich nie zu früh spielen. Bei aller Aufregung ist das Schöne daran, dass alles im Moment entsteht, ja erfunden wird. Die Kadenz, die traditionellerweise gespielt wird, stammt übrigens nicht von Donizetti. Er schrieb eine Version für Glasharmonika, was ich persönlich sehr aufregend finde, doch die Kadenz mit der Flöte mag für das Publikum spektakulärer sein. Die Idee mit Flötenbegleitung geht auf die 1880er-Jahre und die Sängerin Mathilde Marchesi zurück. Mit ihren Schülerinnen hielt sie Soiréen in Paris ab, und dort muss auch der Flötenvirtuose Taffanel anwesend gewesen sein. Die Kadenz entstand speziell für ihre Schülerin Nellie Melba, die für ihre Auftritte jeweils den Flötisten Philippe Gaubert engagieren liess. Eine eigene Version hatte ihre Konkurrentin Luisa Tetrazzini, mit der die Melba um die Jahrhundertwende legendäre Fehden an Covent Garden ausfocht. Von beiden Kadenzen gibt es Aufnahmen. Sehr gerne möchte ich einmal eine solche Fassung spielen...
Maurice Heugen
Gaetano Donizetti
Lucia di Lammermoor
Edita Gruberova (Lucia)
London Symphony Orchestra
Richard Bonynge
Ariadne auf Naxos
Die Pianistin Ann-Katrin Stöcker über einen besonderen Takt in Richard Strauss’ Oper
Strauss ordnet in seiner Ariadne-Partitur seinen Figuren spezifische Instrumente zu. So ist das Harmonium Ariadne vorbehalten oder die Celesta Bacchus. Das Klavier wiederum – mein Part – ist eng mit der Figur der Zerbinetta und ihrer Commedia-dell’arte-Truppe verwoben. Zerbi- netta ist impulsiv, sprunghaft und trotzdem immer liebenswert, einfühlsam und anpassungsfähig wie ein Chamäleon. Sie hat tausend Ideen pro Minute, und so muss man im Zusammenspiel mit ihr waghalsige Manöver absolvieren, für die man Nerven wie Drahtseile braucht. Zerbinettas Koloraturarie im zweiten Teil, der eigentlichen «Oper», wird dann zu grossen Teilen vom Klavier begleitet. Es gibt hier extreme harmonische und stilistische Wechsel, Walzer, ein scherzhaftes Wiegenlied, Marsch, Rondo und Rezitativteile, bei denen sich die Gesangspartie in schwindelerregende Höhen schraubt. Einen Takt, der in der Komödiantenszene kurz nach dieser Arie im Klavier erklingt, liebe ich besonders. Zerbinetta erzählt hier von ihren zahlreichen Liebhabern und meint, zuweilen seien es sogar gleichzeitig zwei gewesen… Im Klavier erklingt dabei eine Stelle, die mich beim Spielen immer wieder komplett verblüfft zurücklässt, weil man sich danach fragt: Wie bin ich denn hier gelandet? Strauss springt im selben Takt mit einer quirligen «Geistesblitz-Figur» von H 7 nach Es-Dur, also acht Stufen des Quintenzirkels! Oder um es mit dem Musiklehrer in dieser Oper zu sagen: «Ich weiss nicht, wo mir der Kopf steht.» In einem Brief an seinen Librettisten Hugo von Hofmannsthal schrieb Strauss während der Entstehung der Oper einmal, Zerbinetta könne gerne ein Verhältnis mit dem Ariadne-Komponisten haben, sofern der Komponist «nicht zu porträtähnlich» mit Strauss selbst werde… Daran erkennt man wohl, wie sehr Strauss diese Figur mochte – genau wie ich!
Ann-Katrin Stöcker
Richard Strauss
Ariadne auf Naxos
Sylvia Geszty (Zerbinetta)
Staatskapelle Dresden
Rudolf Kempe
Turandot
Der Schlagzeuger Hans-Peter Achberger über den letzten Tamtam-Schlag in Giacomo Puccinis Oper
Letzte Worte berühmter Menschen – Sammlungen dieser Art gibt es zuhauf. Aber letzte Töne? Letzte Musik? So ein Buch müsste wohl erst noch geschrieben werden. Was ging einem Komponisten in den letzten 30 Takten seines musikalischen Lebens durch den Kopf? Atmen diese Klänge womöglich bereits den nahen Tod, den Glanz der Ewigkeit? In Giacomo Puccinis Turandot – seiner an Schlagzeug reichsten Oper – spielt das Tamtam so einen letzten Ton. Es ist die Stelle, nachdem sich Liù aus Liebe zu Calàf erstochen und das Volk ihren Tod beklagt hat. Puccini hörte danach auf zu komponieren und hinterliess die Oper als Fragment. Das Tamtam hat einen Durchmesser von 1.10 Meter. Es ist aus einer Bronzelegierung, und man schlägt es mit einem weichen Schlegel. Der Klang dieses Instruments ist sehr diffus und mehr eine Schwingung als ein definierter Ton, eine Mixtur aus verschiedenen Frequenzen. In der Musikliteratur wird das Tamtam oft mit dem Tod in Verbindung gebracht, denn sein dunkler, tiefer und schimmernder Klang hat etwas Unheimliches, etwas Fremdes, ja sogar etwas Transzendentes. Für mich ist dieser letzte Tamtam-Schlag wie das Hinüberschimmern in die Ewigkeit, wie eine feine Abschiedszärtlichkeit, oder wie ein dunkler See bei Mondschein, wie der schimmernde Styx, auf dem der Fährmann Charon den bereits schwerkranken Puccini hinübergeleitet. Der Schlag steht in einem fünffachen Pianissimo – wann je gibt es so etwas! –, er ist quasi inaudibile, kaum mehr hörbar. Ein extrovertierter Gegenentwurf zu dieser Stelle ist für mich ein Moment in György Ligetis Le Grand Macabre, bei dem ich mit einem Hammer auf eine Holzkiste schlagen muss, zunächst in einem neunfachen, dann in einem siebenfachen Fortissimo – als ob man sich mit dem Tod nochmals anlegen wollte und ihm mit dem Hammer auf die Füsse schlägt. Doch bei Ligeti ging es noch nicht um den eigenen Tod. Er konnte sich diese zynische Haltung erlauben!
Hans-Peter Achberger
Giacomo Puccini
Turandot
John Alldies Choir
London Philharmonic Orchestra
Zubin Mehta
A Midsummer Night's Dream
Der Dirigent Duncan Ward über den Beginn von Benjamin Brittens Shakespeare-Vertonung
Benjamin Britten versteht es in dieser Oper meisterhaft, einen Mischmasch von musikalischen Stilen zu einem geschlossenen Ganzen zu verbinden. Analog zu den verschiedenen Handlungsebenen in Shakespeares Stück hat er sehr verschiedene Klangwelten komponiert. Die Elfenwelt ist mit dem Countertenor Oberon und dem Cembalo von Henry Purcell inspiriert. Zugleich hört man hier, dass Britten sich für Gamelan-Musik begeisterte, die er auf einer Reise nach Bali gehört hatte. Ganz anders klingt die Welt der sechs Handwerker: Ihre humorvollen Szenen gestaltet Britten durch Anleihen bei der Folk- und der sogenannten Barber-shop-Musik, also der acapella-Vokalmusik in harmonisch enger Lage, die in den USA sehr in Mode war, wo Britten während des Zweiten Weltkriegs im Exil lebte. Die Szene, in der die Handwerker das Stück «Pyramus und Thisbe» aufführen, hat Britten wiederum als Parodie auf die italienische Oper des 19. Jahrhunderts geschrieben. Auch die vier Liebenden oder Puck haben ganz eigene Klangwelten. Absolut magisch und unvergesslich finde ich aber den Beginn der Oper: Britten schreibt dort eine Reihe von Streicherakkorden, die durch Glissandi miteinander verbunden sind, das heisst, die Streicher gleiten von Akkord zu Akkord. Britten verbindet dort nur Dur-Akkorde, die aber weit voneinander entfernt sind, ganz zu Beginn etwa G-Dur und Fis-Dur. Britten war Zeit seines Lebens von solchen Tonarten, die sich «beissen», fasziniert. Dieser zarte Beginn der Oper, der die mysteriöse Stimmung im mittsommerlichen Wald beschreibt, führt durch fast alle zwölf Töne der chromatischen Skala. Hier zeigt sich, dass Britten auch Schönbergs Zwölftonmusik studiert hat. Er macht daraus aber etwas ganz Eigenes und bleibt dem tonalen System immer verbunden.
Carmen
Clément Noël, Oboist und Solo-Englischhornist, über das Schicksalsmotiv in Georges Bizets Oper
Das Englischhorn, dessen Timbre stark an die Farbe des Violoncellos erinnert, wird in der Musik des 19. Jahrhunderts sehr oft als Schwanengesang oder in besonders dramatischen Momenten eingesetzt: Man denke nur an das grosse Englischhornsolo im dritten Akt von Richard Wagners Tristan und Isolde. Das ist auch die Welt, aus der das markante Schicksalsmotiv in Bizets Oper Carmen entstammt. Das Leitmotiv, das in der Ouvertüre zum ersten Mal erklingt, ist zunächst sehr frei, bis zwei unerbittliche, perkussive Schläge – manchmal im Schlagzeug, manchmal in den Streichern als Pizzicato – den melodischen Fluss unterbrechen. Wenn ich das Motiv auf dem Englischhorn spiele, leitet das Solo ausgerechnet Don Josés sogenannte Blumenarie im zweiten Akt ein («La fleur que tu m’avais jetée»), die eine sehr ambivalente, nostalgische Liebeserklärung an Carmen ist. Don José vergegenwärtigt sich hier rückblickend einen Moment im Gefängnis: Die Blume, die ihm Carmen zuvor geschenkt hat und die er auch im Gefängnis bei sich trägt, ist bereits verwelkt. Don José versucht sich an ihren Duft zu erinnern und damit an Carmen, die ihm zwar wie ein böser Dämon vorkommt, die er aber trotzdem wiedersehen und sich ihrer bemächtigen möchte, wie er sagt. Dass Carmen und Don José nie wirklich zueinanderfinden werden, ist für mich in dieser Arie jedenfalls bereits angelegt. Carmen zu spielen bedeutet für mich sehr viel. Ich lernte die Oper als Kind kennen und war damals besonders von ihrem «spanischen» Kolorit fasziniert. Heute interessieren mich ganz andere Aspekte an Carmen: etwa die Frage, wer denn nun Opfer und wer Täter am Ende ist (heute würde man von einem Femizid sprechen), oder der Freiheitsgedanke von Carmen, die sich, koste es, was wolle, ihre eigenen Gesetze verleiht.
Amerika
Die Pianistin und Korrepetitorin Anna Hauner über ihre Lieblingsstelle in «Amerika» von Roman Haubenstock-Ramati.
In dieser Partitur mag ich die Seiten 232 und 233 ganz besonders. Es ist eine optische Lieblingsstelle und keine klangliche – obwohl das Optische und das Klangliche in diesem Stück ja eng aneinander gekoppelt sind. Die übliche musikalische Grammatik ist Haubenstock-Ramatis Amerika aufgehoben, es sind mehr Klangwelten als Harmonien oder Melodien. Meine Lieblingsstelle ist eine Szene, die am Ende des Stücks spielt, im grossen Naturtheater von Oklahoma. Man hört hier ein reines Streichorchester, das live spielt, sowie zwei parallel dazu erklingende Aufnahmen, die ebenfalls mit Streichorchester sind. Als Korrepetitorin sitze ich in den szenischen Proben am Klavier und ersetze in diesen Proben für die Sängerinnen und Sänger das Orchester. Das ist dieses Mal fast unmöglich, denn die jeweiligen Klangwelten funktionieren nur für die vorgesehenen Instrumente. Daher muss ich am Klavier die Grafik der Partitur mit meiner Fantasie so umsetzen, dass die Sängerinnen und Sänger diese Stelle später wiedererkennen, wenn das Orchester dazukommt. Zu diesem Zweck habe ich mir zwei kleine Bongos und ein kleines Becken organisiert und habe Stifte, mit denen man in die Klaviersaiten fahren oder auf das Holz des Klaviers klopfen kann. Mit Klavierspiel im klassischen Sinne hat das natürlich wenig zu tun. An Haubenstock-Ramatis Partitur fasziniert mich, dass jede Nummer eine andere grafische Gestaltung hat: Rechtecke, Pfeile, Bäuche oder geschwungene Linien – ich finde, dass man sich grundsätzlich sehr gut vorstellen kann, wie das klingen soll. Wir hatten bereits zwei Proben mit dem Orchester, und ich war überrascht, dass sich die Klänge durchaus mit meiner Vorstellung deckten... Kafkas Roman hat bekanntlich kein richtiges Ende, doch das lässt mich nicht mit einer Enttäuschung zurück, sondern macht mich geradezu zufrieden. Diese offene Form widerspiegelt sich auf geniale Weise in Haubenstock-Ramatis Musik.
Messa da Requiem
Die Solo-Paukerin Renata Walczyna und der Solo-Schlagzeuger Dominic Herrmann über ihre Stelle im «Dies irae» von Giuseppe Verdis «Requiem»
Es gibt Stellen, von denen träumt man als Paukerin oder Schlagzeuger, sie eines Tages spielen zu dürfen. So stehen wir besonders bei Bruckner-Sinfonien, in Schostakowitschs 10. und 11. Sinfonie oder in Strawinskys Le Sacre du printemps im Vordergrund, aber eben auch im «Dies irae» in Verdis Requiem: Dreimal erklingt eine sehr prägnante Stelle zwischen Pauke und grosser Trommel. Wir spielen hier Seite an Seite, was eine Art Vertrauen und Zugehörigkeit erzeugt – ein Aufgehobensein in der Gruppe, ähnlich dem Teamsport. Auch wenn wir die Kolleginnen und Kollegen im Orchester nicht zum Ohrenarzt schicken wollen: Um diese Stelle zu spielen, braucht man Kraft. Hart und mit Akzent, durchaus auch brachial und gleichzeitig ausgewogen soll sie klingen. Es ist ein extrem körperlicher Moment. Man muss ausholen und platzieren und eine riesige Energie entladen. Unsere Instrumente stehen auf dem Boden des Orchestergrabens. Wir spüren die Schwingungen, die unsere Instrumente auf den Boden abgeben, direkt wieder in unseren Körpern. Wenn es funktioniert, ist man vollkommen beflügelt, voller Adrenalin, Dopamin, Oxytocin und Serotonin. Gleichzeitig geht es einem an die Substanz. Denn diese Musik vermittelt die Unbarmherzigkeit und Brutalität des Todes: «Der Tag des Zorns, jener Tag / der die Welt in Asche legt, / wie bezeugt von David und Sibylla», singt der Chor. Dieser Abschnitt ist der einzig wirklich laute Moment im Requiem. Das Werk erhebt sich aus der Stille und endet in der Stille. Am Schluss werden in unserer Inszenierung alle eins – Chor, Orchester, Tänzerinnen und Tänzer und das Publikum. Das ist pure Magie.
Renata Walczyna (Pauke) und Dominic
Herrmann (Grosse Trommel)
Giuseppe Verdi
Messa da Requiem
Coro dell’Accademia nazionale die Santa Cecilia
Orchestra dell’Accademia nazionale di Santa Cecilia
Antonio Pappano
Heldenleben
Der Konzertmeister Bartlomiej Niziol über das grosse Violinsolo in Richard Strauss’ Sinfonischer Dichtung
Ich freue mich riesig, dass ich zu meinem 20-jährigen Jubiläum am Opernhaus Zürich dieses Solo spielen darf. Es ist das Stück für die Konzertmeister und Konzertmeisterinnen, vergleichbar mit einem grossen Soloauftritt. Eine in technischer wie auch musikalischer Hinsicht grosse Herausforderung. Innerhalb kürzester Zeit muss man einen Cocktail an Emotionen vermitteln, schnelle Läufe und Passagen absolvieren, komplizierte Doppelgriffe spielen, und das alles in einer extremen Dynamik, die vom Pianississimo bis zum dreifachen Fortissimo reicht. Bevor das Solo kommt, spiele ich den Tutti-Part in den vorigen Sätzen mit. Man hat also keine Zeit, die Geige zu stimmen, sondern bleibt auf einmal ganz alleine übrig – alleine, gegenüber diesem riesigen dunkel gefärbten Orchester. Dennoch ist die Solostimme so komponiert, dass sie immer noch sehr reich, polyphon und harmonisch interessant wirkt. Als Spieler merkt man, wie gut Richard Strauss die Geige verstanden hat. Solche Soli gibt es im Rosenkavalier, in der Frau ohne Schatten oder in Ariadne auf Naxos. Und immer steht die Geige bei Strauss für eine weibliche Figur. Im dritten Satz des Heldenlebens, der mit «Des Helden Gefährtin» überschrieben ist, porträtiert Strauss seine eigene Ehefrau, die Sängerin Pauline Strauss-de Ahna, die er vier Jahre vor der Komposition des Heldenlebens heiratete. Eine Stelle ist mit «heuchlerisch schmachtend» überschrieben, dann wiederum soll es «liebenswürdig», «lustig» oder «zart» klingen, auch einmal «sehr scharf», doch nie aggressiv. Später setzte Strauss seiner Frau in der Figur der Christine in der autobiografischen Oper Intermezzo noch einmal ein liebevolles Denkmal.
Bartlomiej Niziol
Richard Strauss
Ein Heldenleben
City of Birmingham Symphony Orchestra
(Laurence Jackson, Solovioline)
Andris Nelsons
Don Giovanni
Ada Pesch, Konzertmeisterin der Philharmonia Zürich, über ihre Lieblingsstelle in Mozarts Oper
Manche behaupten, der Filmkomponist Ennio Morricone habe diese zwei Takte als Inspiration für seine berühmte Mundharmonika-Melodie im Westernstreifen Spiel mir das Lied vom Tod verwendet. Ich weiss nicht, ob das zutrifft, aber klar ist: Dieses Motiv am Anfang der Ouvertüre zu Mozarts Don Giovanni entstammt einer unheimlichen, todesnahen Sphäre. Es ist die steinerne, fahle Welt des toten Komturs, der am Schluss der Oper den Wüstling Don Giovanni zur Rechenschaft ziehen und ihm den Todesstoss versetzen wird – erneut zu der Musik, die in den ersten dreissig Takten der Ouvertüre erklungen ist. Mozart schrieb seine Ouvertüren jeweils zuletzt. Die Don-Giovanni-Ouvertüre ist dabei in höchstem Masse programmatisch für das hochkomplexe Drama, das in den nächsten Stunden vor unseren Augen ausgerollt wird. Ich kenne keine andere Ouvertüre, in der man so viele unterschiedliche Emotionen in kürzester Zeit vermitteln müsste! Als Konzertmeisterin bin ich in den ersten Takten der Ouvertüre ganz besonders gefordert, denn das Orchester hat sich zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch nicht ganz zusammengefunden – wir spielen in wechselnden Besetzungen –, und ich kann noch nicht wissen, wie das Orchester auf mich und den Dirigenten reagieren wird. Möglicherweise haben wir am Morgen für ein ganz anderes Stück geprobt! Alles hängt jetzt von der jeweiligen Zusammensetzung der Gruppe ab. Ich unterstütze als Konzertmeisterin die Zeichen des Dirigenten und gebe seine Impulse ans Orchester weiter, darf dabei aber selbst nicht zu früh spielen. Hier muss ich meine ganze Erfahrung einfliessen lassen. Für eine eigene Gänsehaut bleibt keine Zeit; ich darf mich in der Musik nicht verlieren, sondern muss hellwach sein.
Ada Pesch
W. A. Mozart
Don Giovanni
The English Baroque Soloists
John Eliot Gardiner
Der Freischütz
Urs Dengler, Solo-Fagottist in der Philharmonia Zürich, über seine Lieblingsstelle in Webers Oper
Dieses traurige kleine Motiv im Fagott erklingt ganz zum Schluss von Webers Oper. Es ist der Moment der Wahrheit. Um beim Probeschuss um die Hand Agathes nicht zu versagen, ging Max, der Titelheld, einen unheilvollen Pakt mit dem Teufel ein und liess sich in der Wolfsschlucht Freikugeln giessen. Als Agathe beim Schuss niedersinkt («Schiess nicht! Ich bin die Taube»), sich dann aber zum Glück wieder erholt, verlangt Fürst Ottokar bei Max nach einer Erklärung. Dieses Fagott-Motiv nun leitet Max’ Geständnis ein, dass er mit Samiel, dem Teufel, paktierte. Dreimal erklingt das Motiv. Zunächst zu den Worten «Herr, unwert bin ich Eurer Gnaden», dann zu «Ich kann nicht wagen, mich zu beklagen» und schliesslich bei «Zu schwach war ich». Ottokar will Max gänzlich aus der Dorfgemeinschaft ausstossen, doch dann erscheint der Eremit. Überzeugt vom Unsinn des Brauches des Probeschusses bittet er für Max um Vergebung und erreicht, dass Max ein Probejahr erhält. Ich persönlich verbinde mit dieser Stelle ebenfalls einen Moment der Wahrheit: Der Freischütz war die erste wichtige Oper in meinem eigenen Probejahr und bewirkte wohl, dass ich schliesslich ins Orchester aufgenommen wurde. An dieser Stelle begriff ich, dass man dieses Solo mit grossem Ton und viel Zeit spielen sollte. Weber schreibt dolce darunter. Das bedeutete in der damaligen Zeit vor allem espressivo und ist daher mit besonderem Ausdruck zu spielen. Es war natürlich besonders schön, dass damals Nikolaus Harnoncourt am Pult stand, der mir dafür auch den nötigen Raum gab.
Urs Dengler
Carl Maria von Weber
Der Freischütz
Bernd Weikl (Ottokar)
Peter Schreier (Max)
Staatskapelle Dresden
Carlos Kleiber
Don Pasquale
Laurent Tinguely, Solotrompeter in der Philharmonia Zürich, über eine berühmte Stelle in Donizettis Oper
Der Arie von Ernesto im zweiten Akt geht ein grosses Trompetensolo voraus, das auch eine berühmte Probespielstelle ist. Sie ist technisch nicht schwierig, aber man muss sie mit Ausdruck spielen, die Phrasen richtig miteinander verbinden und eine Stimmung für die Szene erzeugen. Zu den Noten überlege ich mir die genaue Artikulation und sorgfältige Dynamik, um die musikalische Erzählung zu unterstützen. Es ist eine sehr melancholische Stelle, die umso überraschender erscheint, als Don Pasquale ja eigentlich eine Komödie ist. Donizetti hat diesen Effekt aber sicher bewusst provoziert, um die Vielschichtigkeit seiner Buffa zu betonen, die mehr sein soll als eine blosse Verwechslungskomödie. Die Situation, in der sich Ernesto befindet, ist durchaus ernst: Gerade eben wurde er von seinem Onkel Don Pasquale vor die Tür gesetzt und in die weite Welt geschickt. Ernesto, völlig niedergeschmettert, nimmt innerlich von seiner angebeteten Norina Abschied. Normalerweise verbindet der Hörer, die Hörerin gerade die Trompete nicht mit diesen Gefühlen. Zur Zeit von Donizetti wurde aber die chromatische Trompete erfunden, die es den Komponisten ermöglichte, sie auch als Melodieinstrument einzusetzen. Die noch bis Rossini verwendeten Naturtrompeten wurden vor allem im Tutti zusammen mit der Pauke verwendet und hatten meistens nur eine rhythmische oder harmonische Funktion mit einer militärischen Färbung. Jetzt aber geht die Trompete mitten ins Herz! Bestimmt hat sich auch Nino Rota für seine Filmmusik für Fellini davon inspirieren lassen. Ich spiele die Arie auf einer sogenannten Perinet-Trompete französischer Bauart, die hell, schlank und leicht klingen soll. Ich gehe davon aus, dass sich Donizetti, dessen Don Pasquale ja in Paris uraufgeführt wurde, diese Farbe vorgestellt hat.
Laurent Tinguely
Gaetano Donizetti
Don Pasquale
Philharmonia Orchestra
Riccardo Muti
Orphée et Euridice
Seohyeon Kim, Soloflötistin in der Philharmonia Zürich, über das berühmte Flöten-Solo in Glucks Operer
Gluck schreibt in dieser Oper innovative Ballettmusik. Dazu gehören der Tanz der Furien und der unmittelbar darauf folgende Tanz der seligen Geister. Der atmosphärische Wechsel vom Hades ins Elysium (das Paradies für die Toten, die am Ende aller Leiden die ewige Ruhe gefunden haben), ist gut zu hören. Gluck komponierte den Geistertanz für Soloflöte mit Streicherbegleitung, und es kommt nicht von ungefähr, dass gerade diese Passage zu einem Klassiker geworden ist. Rein technisch gesehen ist es kein schwieriges Solo. Die Kunst besteht vielmehr darin, musikalische Subtilitäten zum Klingen zu bringen. Die gesamte Solo-Stelle hat eine einfache dreiteilige Form. Der erste Teil, das Menuett, besteht aus einer eleganten, grosszügigen Melodie, die für mich Bilder von pastoraler Ruhe unter blauem Himmel hervorrufen. Der zweite Teil ist in kontrastreichem Moll geschrieben und stört die Ruhe des A-Teils. Für mich kommt hier einerseits ein Gefühl der Angst zum Ausdruck, das ein direktes Echo auf die Tänze der Furien ist, und andererseits widerspiegelt es Orpheus’ tiefe Traurigkeit über den Verlust von Euridice. Danach taucht die idyllische Landschaft des A-Teils wieder auf. Es ist bei dieser Stelle wichtig, gut mit der zweiten Flöte zu kommunizieren. Damit die Stimmen ineinander verschmelzen, müssen wir uns bezüglich Vibrato, Lautstärke und Klangfarbe absprechen, wir müssen die Atemzüge für die langen Phrasen genau einteilen und abwechselnd atmen, wo es uns Gluck erlaubt. Grundsätzlich versuche ich immer, mit meiner Flöte zu singen und Gefühle zu vermitteln. Bei der Arbeit an dieser Passage in meinen Studienzeiten und der Vorbereitung auf Orchesterwettbewerbe habe ich immer davon geträumt, diese Stelle einmal bei einer richtigen Orphée-Aufführung spielen zu können. Jetzt ist dieser Traum wahrgeworden. Das bedeutet mir sehr viel.
Seohyeon Kim
C.W. Gluck
Orphée et Euridice
Orchestre de l’Opéra de Lyon
John Eliot Gardiner
Die Zauberflöte
Cornelia Brandis, Geigerin in der Philharmonia Zürich, über ihre Lieblingsstelle in Mozarts Operer
Die Zauberflöte habe ich mit acht Jahren kennengelernt, als mir mein Vater zu Weihnachten eine Schallplatte schenkte. Ich erinnere mich noch gut: Ich hörte die Platte, während meine Eltern in die Kirche gingen, und war so in die Musik vertieft, dass ich nicht merkte, als sie wieder zurückkehrten. Eine Stelle hat mich schon damals tief berührt: die Fuge am Ende der Oper. Es ist eine sehr archaische Stelle, die in ihrer Strenge an eine Bach-Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier erinnert: Pamina und Tamino werden gleich ihre letzte Prüfung bestehen müssen. Obwohl die Fuge in c-Moll steht, hat sie etwas Tröstliches. Nach den vielen Turbulenzen in dieser Oper, der Rachearie der Königin der Nacht zum Beispiel, kommt plötzlich diese Beruhigung, die fast heilig klingt. «Der, welcher wandert diese Strasse voll Beschwerden / Wird rein durch Feuer, Wasser, Luft und Erden», singen die beiden Geharnischten in Anlehnung an einen Lutherchoral. Es ist auch ein Appell an uns, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen, sie beherzt anzugehen und daraus als neuer, gereifter Mensch hervorzugehen. Genial finde ich, wie Mozart hier aus den Staccato-Achteln, die das mutige Wandern beschreiben, und mit den Seufzermotiven, die erst langgezogen, dann verdichtet die ängstliche Erwartung untermalen, eine Fuge komponiert hat, die so bildhaft ist, dass es kaum ein Bühnenbild bräuchte. Mozart löst die düstere Fuge und den Choral dann bald in helles Dur auf. Tamino hört die Stimme von Pamina, es folgt ein fröhliches Allegretto, bei dem sich sogar die beiden Geharnischten in mitfühlende Menschen verwandeln. Bei Mozart ist immer alles gleichzeitig da, Helles, Dunkles, Tiefes und Kindliches. Und nie ist etwas zuviel. Die Zauberflöte gehört zu den Opern, die ich mit Abstand am häufigsten gespielt habe. Ich entdecke aber jedes Mal Neues, und ich freue mich immer wieder darauf, diese Oper zu spielen, nicht zuletzt wegen dieser Fuge.
Cornelia Brandis