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L’Heure espagnole

L'Heure espagnole / L'Enfant et les sortilèges

L’Heure espagnole: Musikalische Komödie in einem Akt (Fassung für Kammerorchester) von Maurice Ravel (1875-1937)
L’Enfant et les sortilèges: Fantasie lyrique in zwei Teilen (Fassung für Kammerorchester) von Maurice Ravel (1875-1937)

L’Enfant et les sortilèges

L'Heure espagnole / L'Enfant et les sortilèges

L’Heure espagnole: Musikalische Komödie in einem Akt (Fassung für Kammerorchester) von Maurice Ravel (1875-1937)
L’Enfant et les sortilèges: Fantasie lyrique in zwei Teilen (Fassung für Kammerorchester) von Maurice Ravel (1875-1937)

In französischer Sprache. Dauer 2 Std. 20 Min. inkl. Pause nach ca. 55 Min. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.

Gut zu wissen


Gespräch


Ausbruch aus der Ordnung

Regisseur Jan Eßinger im Gespräch über seine Inszenierung von Ravels originellen Kurzopern «L’Heure espagnole» und «L’Enfant et les sortilèges»

Jan Eßinger, der Abend beginnt mit Ravels Oper L’Heure espagnole, was man mit «Spanische Stunde» oder «Eine Stunde Spanien» übersetzen kann. Was geschieht?
Die spanische Stunde ist die Stunde der Uhrmachersgattin Conception. Einmal pro Woche geht ihr Mann aus dem Uhrmacherladen, um in der Stadt die öffentlichen Uhren zu richten. Es ist ihr freier Moment, an dem sie ihrem trostlosen Eheleben durch ein Rendezvous entfliehen kann. Neben dem erwarteten Gonzalve taucht noch ein weiterer Anwärter auf, Don Inigo. Besonders in Bedrängnis gerät Conception jedoch durch den Maultiertreiber Ramiro, der seine Uhr reparieren lassen möchte. Es ist eine Klipp-Klapp-Komödie, bei der die katalanischen Wanduhren stellvertretend für die Wandschränke im Schlafzimmer oder das Versteck unter dem Bett stehen. Ramiro, der störende Dritte, wird kurzerhand zum Wanduhrenträger abkommandiert und dadurch zu einem Teil des Spiels. Dass er am Ende buchstäblich das Rennen macht, ist natürlich eine witzige Pointe.

Also die Geschichte einer typischen französischen Boulevardkomödie. Ravels Kurzoper basiert ja auch auf einem zeitgenössischen Schauspielstück.
Das merkt man auch der Oper noch immer an! Es ist ein Konversationsstück, bei dem unentwegt geplappert wird. Fast hat man das Gefühl, dass es wichtiger ist, sich in Sprache zu ergiessen, als inhaltlich tatsächlich etwas auszusagen. Darauf muss man in der Regie Bezug nehmen, denn die Sprache besitzt in ihren Feinheiten und ihrem Charme eine hohe Qualität und Präzision. Es wird mit der Sprache bewusst gespielt, mit Reimen und Wortwitz.

Das hat auch Konsequenzen für die Figuren...
Ja, denn dadurch bekommt alles eine gewisse Künstlichkeit und Zweidimensionalität. Die Figuren sind nicht aus Fleisch und Blut, sondern Archetypen, überzeichnete Abziehbilder, die wir in fast comichafte Charaktere übersetzt haben, was sich etwa in unseren Papierkostümen niederschlägt. Es gibt keinen realistischen Dialog und geht wenig um psychologische Hintergründe. Selbst die Musik arbeitet mit diesem Zitathaften. Man hört sogar explizite Zitate aus Tosca, Salome oder – bei Conception natürlich aus Carmen...

...das dann so klingt, als ob Conception zum Souvenirshop gehen würde und sich einen spanischen Fächer kaufen würde.
Genau, man spürt immer den Blick von aussen, die Distanz, das Ausgestellte. Und natürlich die Ironie! Das fängt schon beim Namen Conception an, der für die unbefleckte Empfängnis der Muttergottes steht und geht so weit, dass die Schäferstunde, die Stunde Spanien, wirklich fast 60 Minuten dauert. Die gespielte Zeit ist also die tatsächliche Zeit.

Damit wendet sich Ravel in seiner ersten Oper auch trotzig gegen die Musikdramen Wagners, gegen die grosse lyrische Oper Massenets oder den Symbolismus eines Debussy.
Es gibt keine gedehnte Zeit, alles ist Aktion und surrt wie der komplexe Mechanismus einer Uhr ab. Da ist kein ungebrochenes Pathos, nie wird etwas sentimental oder metaphysisch überhöht – und wenn, dann wird daraus sofort eine Parodie. Es muss Ravel Spass gemacht haben, mit diesen Schablonen zu spielen und dadurch gleichzeitig aufzuzeigen, dass Gefühle in den Werken seiner Kollegen letztlich auch nur künstlich erzeugt sind; was natürlich die Frage nach Authentizität auf der Bühne aufwirft. Das mag etwas theoretisch sein, ist aber auch ein hochspannendes Experiment. Und als Zuschauer kann ich durch meine eigene, subjektive Sicht auf das Geschehen durchaus zum Nachdenken über Gefühle und deren Mechanismen angeregt werden.

Ravel hat rund 15 Jahre später diese Spielwiese verlassen und in L’Enfant et les sortilèges empfindsamere Töne gesucht. Worum geht es für dich in L’Enfant?
Um das Erwachsenwerden und alles, was dazugehört. Um das Erlernen von Empathie, um das «Mitfühlen» im wahrsten Sinne des Wortes und das daraus resultierende, verantwortungsvolle Handeln. Erwachsenwerden bedeutet in diesem Kontext aber auch, dass das Verlassen der Kindheit gleichzeitig ein schmerzhafter Verlust ist. Dafür steht für mich der bewegende, traurige Schlusschoral der Tiere, der etwas Demaskierendes und dadurch Echtes hat. Er ist sehr weit von dem entfernt, was wir zuvor in L’Heure espagnole gehört haben.

Die Geschehnisse werden durch das Auftauchen einer Mutterfigur ausgelöst. Das Kind hat seine Hausaufgaben nicht gemacht. Was passiert anschliessend?
Die Mutter steht stellvertretend für Repressalien, für Strenge, Druck und Ordnung, der sich das Kind unterzuordnen hat. Das Kind hat sich nicht so verhalten, wie es sollte und wird bestraft. Dagegen begehrt das Kind auf. In einem beinahe schon pubertären Akt bricht das Kind die Ordnung und richtet ein Zerstörungswerk in seinem Zimmer an. Dadurch wird es zwar «böse», wie es selbst sagt, erkennt aber auch, dass es eine neue Freiheit gewinnt. Es geht um eine lustvolle Grenz Überschreitung, die den Erfahrungshorizont des Kindes erweitert.

Nach diesem Zerstörungswerk tauchen die sogenannten Sortilèges auf, animierte Objekte und sprechende Tiere. Welche Bedeutung haben sie?
Diese Wesen sind wie verzerrte Traumfiguren. Sie können sprechen – manchmal in unverständlichem Chinesisch, in englischen Wortfetzen oder in zungenbrecherischem Schnellsprechtempo. Sie sind mal lustig, mal bedrohlich. Wir kennen das doch aus unseren eigenen Träumen, wenn uns Menschen begegnen, die uns nahe sind, die aber gleichzeitig seltsam verändert erscheinen. Diese Traumwesen sagen etwas darüber aus, was uns unterbewusst beschäftigt. Das Kind hat Objekte zerstört und die Ordnung verletzt, aber das schlechte Gewissen sorgt dafür, dass es sich weiter damit auseinandersetzt. Wäre das Kind unempfindsam, würde es die Dinge wohl gar nicht erst zum Leben erwecken.

Die Struktur der Oper ist eine Art Bilderbuchreigen. Ravel hat für jeden einzelnen Auftritt der Sortilèges, der Teetassen oder Tapetenfiguren, eine spezifische musikalische Form gewählt, die nicht aus der Welt des Kindes stammt. Damit ist das Kind in erster Linie Zuschauer.
Ja, und diese Position macht es zum Aussenseiter. Sehr auffällig ist, dass das Kind meistens Paaren gegenübersteht und immer darauf zurückgeworfen wird, dass es selbst alleine ist. Diese Einsamkeit kommt besonders in der Szene mit der Prinzessin zum Tragen. Das Kind hat zuvor das Märchenbuch zerrissen und damit den erfolgreichen Ausgang der Geschichte zerstört. Jetzt, wo die Prinzessin auftaucht, hat man das Gefühl, dass das Kind zum ersten Mal das Verliebtsein empfinden kann und gleichzeitig erkennen muss, was es bedeutet, wenn man etwas zerstört, das einem wichtig ist. Diese Liebe ist unerreichbar geworden. In der Ariette nach dem Auftritt der Prinzessin, Toi, le cœur de la rose, tritt dann ein, was es bei L’Heure nie gibt: ein reflexiver Moment, den Ravel in empfindsame, berührende Musik gefasst hat.

Im zweiten Teil, im Garten, tauchen dann Tiere auf, die auf der Suche nach ihrem Partner sind und dem Kind diesen Verlust zum Vorwurf machen.
Hier tritt die Heilung des Kindes, die reinigende Selbstreflexion, endgültig ein. Das Kind erkennt, dass es schreckliche Dinge gemacht hat – bewusst oder unbewusst –, und es fängt an, mit den Tieren Mitleid zu empfinden. Als sich das Eichhörnchen während eines Kampfes unter den Tieren verletzt, ist das Kind das einzige Lebewesen, das das Unglück bemerkt und sich um die Wunde kümmert. Es wird zum ersten Mal aktiv, begreift sich als ein handelndes, verantwortungsvolles Subjekt und verlässt seine Beobachterposition. Das Erkennen der Wunde – ganz im Parsifalschen Sinne – erlaubt gewissermassen die eigene Heilung. Was dann mit dem Kind passiert, ist vielleicht noch zu gross für das Kind, um es gänzlich zu verarbeiten.

Das letzte Wort des Kindes lautet «Maman», in Form einer fallenden Quarte. Was bedeutet der Ruf nach «Maman» am Ende der Oper für dich?
Für mich ist das ein sehr ambivalenter Moment. Darin steckt etwas Sehnsuchtsvolles, es hat mit Abschied zu tun, und obwohl die melodische Bewegung nach unten geht, beinhaltet es für mich auch ein kleines Fragezeichen. Ist das Kind tatsächlich ein anderes geworden? Ist es erwachsen geworden? Diese Fragezeichen wollen wir auch ans Ende der Inszenierung setzen.

Du hast für deine Inszenierung von L’Enfant einen ganz konkreten Raum gewählt. Wie bist du darauf gekommen?
Ausgangspunkt unserer Überlegungen war die Figur der Mutter, die ja weniger durch ihre Mütterlichkeit auffällt, als vielmehr eine Personifizierung der Strenge und Ordnung ist. Auch in der Art, wie sie mit ihrem Kind spricht, ist eine grosse Distanz spürbar. Wir suchten daher nach einem Ort, an dem die grösstmögliche Strenge an Regeln vorherrscht und sind auf eine katholische Klosterschule gekommen. Maman als Autoritätsperson ist in diesem Kontext eine Nonne. Auch die Dualität von Gut und Böse, Heiligem und Despotischem, was ja in diesem Stück immer wieder thematisiert wird, ist in diesem semi-sakralen Raum beheimatet. Das ungute Gefühl, dass das Kind je länger je mehr empfindet, projiziert es auf die Figuren aus seinem täglichen Umfeld, die mal traumhaft, mal albtraumhaft sind.

Das Gespräch führte Kathrin Brunner


Fotogalerie

 

Szenenbilder «L’Heure espagnole»


Essay


Die Kunst als Kinderspiel?

Maurice Ravel war der detailversessene Perfektionist unter den französischen Komponisten. Inspiration holte sich der Sohn eines Genfer Ingenieurs unter anderem bei mechanischem Spielzeug, Kreiseln und Nippes. Ein Ausflug in die skurril-kindliche Welt, mit der er sich umgab, und von der auch seine Oper «L’Enfant et les sortilèges» erzählt

Es ist ein Bijou, genau wie Ravels Kompositionen: Maurice Ravels ehemaliges Wohnhaus im winzigen Städtchen Montfort-L’Aumury, 40 Kilometer westlich von Paris gelegen. Wer dem verführerischen Zauber seiner Musik erlegen ist, aber dennoch den neugierigen Blick hinter die Kulissen wagen möchte, entdeckt hier manch Erhellendes über den französischen Komponisten. Ravel konnte sich das Haus dank einer Erbschaft eines Schweizer Onkels kaufen und lebte dort von 1921 bis zu seinem Tod im Jahr 1937. In sicherem Abstand – und inspirierender Nähe – zur Grossstadt Paris komponierte er hier Werke wie den populären Boléro, die beiden Klavierkonzerte oder die Fantaisie lyrique L’Enfant et les sortilèges.

Schon zur Strasse hin haftet der Villa «Belvédère» etwas Märchenhaftes an. Mit ihrem Türmchen in der Mitte, den an Zuckerguss gemahnenden weissen Balken und dem langgezogenen Grundriss ist sie eine architektonische Mischung aus Hausboot, Spielzeugschachtel und Puppenstube. Eine Veranda auf der Hausinnenseite gibt den Blick frei auf einen abschüssigen, mit Bonsais und Zwergen Gewächsen bestückten, dreieckigen Garten. Innen ist das Haus so verwinkelt und eng, dass man klein und schlank sein muss, um sich darin bequem zu bewegen – Ravel war mit knapp 160 Zentimetern tatsächlich eher klein gewachsen. Sämtliche Räume hat Ravel selbst ausgestattet und bemalt: In dunklem Violett ist das Komponistenzimmer gehalten, in sattem Gelb das Schlafzimmer. Auf Stühlen und Wänden finden sich fein gezeichnete schwarze Muster und Figürchen. Ausserdem beherbergt das Innere des Hauses eine Welt voller Künstlichkeit, die jedes Kind erfreuen würde: Nippes Figuren, gefälschte japanische Vasen, Glaskugeln, mechanische Uhren, Tintenfässer im Stil von Kathedralen, allerlei mechanisches Spielzeug wie eine Nachtigall, die singend mit ihren Flügeln flattern kann, oder ein Segelboot, das auf Wellen aus Karton tanzt. Ein Reich, das unweigerlich an die Welt der Romanfigur Gulliver von Jonathan Swift erinnert. Seinen Freunden soll Ravel die neu erstandenen Objekte jeweils voller Stolz und kindlicher Freude gezeigt haben. Das Haus war aber auch mit allem modernen Komfort der damaligen Zeit ausgestattet, mit Staubsauger und Phonograph, mit Telefon, Grammophon und Radio.

Die Faszination für das Mechanische liegt bereits in Ravels Biografie begründet. Ravels Vater, der am Genfersee aufwuchs, entstammt einer alten Uhrmacherfamilie. Joseph Ravel war ein Ingenieur, genialer Erfinder eines Mineralöl-Dampfmotors und Pionier des Automobilbaus. Ebenso dürfte Maurice Ravels Hang zum Perfektionismus auf seinen Vater zurückzuführen sein. Igor Strawinsky nannte Ravel einmal wegen dessen Detailversessenheit und Genauigkeit den «Schweizer Uhrmacher» unter den Komponisten, was durchaus anerkennend gemeint war.

Ravels musikalische Fantasie entzündete sich immer wieder am komplexen Zusammenspiel von Maschinen. Dabei war es stets das mechanische Innengehäuse, der Mechanismus an sich, der ihn besonders interessierte. Und dennoch ist seine Musik nie eine blosse Abbildung des Maschinellen: Wer genau hinhört, bemerkt, dass Ravel sein Räderwerk mit Taktwechseln oder überraschenden Akzentuierungen raffiniert modifiziert, so dass ein lebendiger musikalischer Organismus von grosser Poesie entsteht. Maschinen, die lebendig werden – das erinnert unweigerlich an die tanzende Puppe Olimpia aus E.T.A Hoffmanns Novelle Der Sandmann. Tatsächlich versuchte sich Ravel in seiner ersten Oper Olympia an genau diesem Stoff. Allerdings vernichtete er bereits die ersten Skizzen wieder, behielt aber ein reines Instrumentalstück, das er später zu einer Symphonie horlogère ausweiten wollte. Dazu sollte es nicht kommen, aber das Stück fand später Eingang in die 1911 uraufgeführte Kurzoper L’Heure espagnole und bildet dort das Vorspiel: ein musikalisches Kabinettstück, das den übervollen Laden eines Uhrmachers zum Klingen bringt. Neben dem Ticktack von in unterschiedlichen Geschwindigkeiten laufenden Uhren – Ravel verlangt hier drei verschiedene Metronom zahlen – und übereinander gelagerten Glockenschlägen, erklingen mechanische Vogelrufe, kräht ein kleiner Hahn und surrt eine Spielzeugdosen-Melodie in der Celesta ab. L’Heure espagnole ist unverkennbar eine Reverenz an Ravels Vater, der während der Entstehung der Oper verstorben war.

Um Spielzeug geht es auch im Klavierlied Noël des jouets (Spielzeugweihnacht) aus dem Jahr 1905. Die Tatsache, dass Ravel den Liedtext gleich selbst verfasste, zeigt, wie wichtig ihm dieser Stoff war. Das Gedicht ist ein kleines Kunstwerk für sich. Wer sich die erste Strophe einmal laut vorliest, bemerkt bereits auf Textebene den klappernden Mechanismus des Spielzeugs: «Le troupeau verni des moutons / Roule en tumulte vers la crêche. / Les lapins tambours, brefs et rêches, / Couvrent leurs aigres mirlitons…» Die weihnächtliche Szenerie, die hier beschrieben wird, ist äusserst bizarr. Da «rollen» blecherne Spielzeugschafe zur Krippe hin und blöken einander am Ende des Liedes frohe Weihnachten zu, während eine Jungfrau mit weit geöffneten Augen aus Emaille entsetzt mit ansehen muss, wie sich der Spielzeughund Beelzebub daran macht, das aus farbigem Zucker gemachte Jesuskind aufzufressen. Die Engel, die an Drähten aufgehängt sind, scheinen dabei so starr zu sein, dass sie das Unglück wohl nie werden verhindern können... Ravel illustriert die Kinetik seines musikalischen Gebildes, das Drehen und Kreisen der Spielzeugminiaturen, durch Ton- und Melodierepetitionen, während klirrende Sekundintervalle das Klick-Klack des Mechanismus darstellen. Und auch in diesem frühen Lied ist enthalten, was auf so viele Stücke Ravels zutrifft: Figuren wirken einerseits lebendig und animiert, sind aber andererseits seltsam eingefroren in ihrer Bewegung und Emotion. Ravel hat sich in seinen Werken auffällig oft mit der Welt der Kindheit und der Kinder auseinandergesetzt. Mit dieser Vorliebe war er aber durchaus nicht der Einzige in der Musik des beginnenden 20. Jahrhunderts – Claude Debussys Children’s Corner ist dafür nur ein Beispiel unter vielen. Dass man die Kindheit überhaupt als eigenständige Lebensphase auffasste, war im Übrigen noch ein recht junges Phänomen, das um die Jahrhundert wende durch die epochalen Erkenntnisse der Psychoanalyse zusehends an Faszination gewann. Begriffsfelder wie das «Fremde» und «Unbewusste» stiessen Tür und Tor zu Fantasiewelten und frühkindlichen Erfahrungen auf. Maler wie Pablo Picasso oder Paul Klee nutzten die Kindheit als Inspirationsquelle für neue Innenräume, ebenso wie Charles Baudelaire oder Marcel Proust, dessen Hauptwerk À la recherche du temps perdu sich an bewusst abgerufenen Kindheitserinnerungen entzündet.

Wie schon Sigmund Freud feststellte, ist der Blick eines Erwachsenen in die Kindheit aber nie das ursprünglich Erlebte. Er bemerkte hierzu einmal: «In den meisten bedeutsamen Kinderszenen sieht man in der Erinnerung die eigene Person als Kind, von dem man weiss, dass man selbst dieses Kind ist; man sieht dieses Kind aber, wie es ein Beobachter ausserhalb der Szene sehen würde.» Mit anderen Worten: den Weg zurück in die frühkindliche Erfahrung geht man immer als Erwachsener. In diesem Sinne ist auch Ravels «Kinder-Musik», so kindlich-rein sie mit ihren leeren Quarten, Quintenund Oktaven zuweilen scheinen mag, nie ausschliesslich der Kinderwelt zuzuordnen; Ravel hat stets musikalische Störfaktoren eingeflochten, die dem erwachsenen Erfahrungsschatz entspringen.

Nicht selten liegt über Ravels «Kinder-Musik» ein Schleier der Melancholie, als ob darin die traurige Gewissheit zum Ausdruck käme, dass die vollständige Wiedergewinnung der Kindheit unmöglich ist. Solch einen melancholischen Ton schlägt Ravel in der Pavane de la Belle au bois dormant an, dem Eröffnungsstück von Ma mère l’Oye (1908/10). Die traurige, sentimentale Farbe lässt hier umso mehr aufhorchen, als Ravel dieses Klavierwerk zu vier Händen explizit Kindern gewidmet hat; ja Ravel vereinfachte seinen Kompositionsstil sogar, damit die Stücke von Kindern gespielt werden konnten. Im Zentrum der einzelnen Stücke stehen verschiedene Märchenfiguren, die in eine unendlich weite Ferne gerückt zu sein scheinen. Wie in Noël des jouets verharren sie in einer einzigen Pose, als wäre man beim Umblättern des Märchenbuchs auf einer Seite eingeschlafen.

In der 1925 vollendeten Oper L’Enfant et les sortilèges (Das Kind und der Zauberspuk) bricht die Erwachsenenwelt dann für einmal ganz konkret in die Welt des Kindes ein: eine Mutter, von der man allerdings nur den Unterkörper sieht, tadelt zu Beginn der Oper ihr Kind; es hat seine Hausaufgaben nicht gemacht. Das Kind, eingesperrt in seinem Zimmer, rebelliert und zerstört in seiner Wut das gesamte Intérieur. Die Oper wird aus der subjektiven Perspektive des Kindes erzählt. Gleich einer Trickfilmanimation avant la lettre wachsen die zerstörten Gegenstände nun ins Unermessliche, fangen an zu sprechen und erheben sich gegen das Kind: eine hysterische Pendeluhr, eine zerbrochene Teetasse, feierlich schreitende Tapetenfiguren oder eine unerreichbare Prinzessin. Anders als in Noël des jouets, wo Gut und Böse noch klar voneinander getrennt sind, empfindet das Kind nun beide Aspekte in sich – es ist sowohl «méchant» als auch «bon et sage». Das Kind, das von einer Mezzosopranistin dargestellt wird, erlebt im Laufe der Geschichte die grossen Gefühle, die auch einem erwachsenen Menschentief eingeschrieben sind: Einsamkeit, Angst, Trauer, der Wunsch nach Zärtlichkeit, Empathie oder Geborgenheit.

Das Werk ist eng mit Ravels eigener Biografie verknüpft. Hinter dem 50-jährigen Komponisten lagen zum Zeitpunkt der Fertigstellung seiner Oper einige schmerzhafte Erfahrungen. Neben schwer zu bewältigenden Kriegserlebnissen, hatte ihm besonders der Tod seiner Mutter zu schaffen gemacht, zu der er ein enges Verhältnis hatte. Mit Sicherheit erzählt der explizite Ruf nach «Maman» am Ende von L’Enfant von diesem qualvollen Verlust. Präsent war Ravels Mutter aber nach wie vor in seinem Leben: Im Komponier Zimmer hing links neben dem Erard-Flügel ein grosses Porträt von ihr. An der Wand daneben und deutlich unterhalb des Bildes seiner Mutter dann ein Porträt von ihm selbst, als 12-jähriger Junge. Während des Komponierens hatte Ravel seine Kindheit also stets im Blick, und sicher bildete die Nabelschnur zur Kindheit für den Künstler eine zuverlässige schöpferische Quelle. Wie ein Kind, das die Welt mit grenzenloser Fantasie und Spiellust erkundet, ergründete vielleicht auch Ravel, der in seinem Garten stundenlang Diabolo spielen konnte, sein musikalisches Universum. Dass zu diesem kreativem Prozess genauso harte Arbeit, selbstkritisches Verwerfen und Aussortieren von Ideen gehörte, muss hier kein Widerspruch sein – nur sieht man seinen Kunstwerken diese Mühen nicht mehr an; Ravel gefiel sich in der Rolle des Zauberers, der sich nicht gerne in die Karten schauen liess. So passt denn auch ins Bild, dass er seine Handbücher über Zaubertricks im «Belvédère» in einer winzig kleinen, hinter einer Tapetentür verborgenen Bibliothek versteckt hielt.


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Programmbuch

L'Heure espagnole / L'Enfant et les sortilèges

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Synopsis

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