0/0

La bohème

Oper in vier Bildern von Giacomo Puccini (1858-1924)
Libretto von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica nach dem Roman «Scènes de la vie de Bohème»

In italienischer Sprache mit deutscher und englischer Übertitelung. Dauer 2 Std. 30 Min. inkl. Pause nach dem 1. Teil nach ca. 1 Std. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.

Gut zu wissen

Trailer «La bohème»

Gespräch


Ein Traum vom Künstlerleben

Der Norweger Ole Anders Tandberg inszeniert «La bohème» von Giacomo Puccini. Vor der Premiere 2015 führte Fabio Dietsche mit ihm ein Gespräch über nordische Paris-Fantasien, Trugbilder von kreativen Karrieren und freier Liebe und die Muse als Lieblings-Illusion aller Künstler.

Ole Anders Tandberg, La bohème ist Ihre erste Inszenierung am Opernhaus Zürich. Worum geht es in diesem Stück und was fasziniert Sie daran?
Als Atheist und Existenzialist berührt es mich, wie in diesem Stück die Fragilität des Lebens dargestellt wird. Es geht um eine junge Liebe, die mit dem tragischen Tod von Mimì abrupt endet. Mimì stirbt, bevor sie wirklich gelebt hat. Innerhalb einer sehr kurzen und intensiven Zeitspanne erfahren Rodolfo und Mimì das höchste Liebesglück. Und in dieser Liebe zueinander finden sie den Sinn des Lebens. Aber es zeichnet sich schon ab, dass Mimì sterben wird. Wenn sie am Ende der Oper, nach der Trennung von Rodolfo, zu ihm zurückkommt, um zu sterben, finden wir die gegenteilige Situation vor: das Leben hat jeden Sinn verloren. Für einen Moment flackert er noch einmal auf – aber der Tod naht unausweichlich.

Liegt es an dieser Spannung zwischen höchstem Liebesglück und dem Wissen um dessen Endlichkeit, dass Puccinis Oper uns immer wieder so stark berührt?
Ich denke ja – und zwar weil uns gezeigt wird, wie das Leben nun einmal ist. Universal betrachtet, ist dem Einzelnen eine ungeheuer kurze Lebenszeit beschieden. Innerhalb dieser kurzen Zeit leben, lieben und sterben wir. Puccinis Oper lässt uns zwar nicht direkt über diese grossen Fragen nachdenken, aber sie lässt sie uns fühlen. Und diese Gefühle gehen jeden Interpreten und jeden Zuschauer  unmittelbar etwas an. Deshalb ist das Werk so beliebt.

Weil die Oper so beliebt ist, hat sich in den Köpfen der Zuschauer eine genaue Vorstellung festgesetzt, wie La bohème zu sein habe. Im 20. Jahrhundert hat insbesondere die Inszenierung von Franco Zeffirelli die Rezeption geprägt. Was bedeutet es für einen Regisseur, sich einem solch bekannten Stück zu stellen?
Ich glaube, dass diese Vorstellung, wie eine Bohème-Inszenierung sein soll, vor allem damit zusammenhängt, dass die Handlung in Paris spielt, einem Ort mit grosser mythischer Ausstrahlung. Gerade kulturinteressierte Menschen haben eine genaue Vorstellung von Paris – und zwar von dem Paris, das sie aus der Kunst, dem Film, der Literatur und den Anekdoten kennen. Viele haben eine romantische Vorstellung vom Mythos Paris – und wenn eine Inszenierung von La bohème dieser Vorstellung gerecht wird, fühlt es sich richtig an. Dazu kommt, dass Puccini es wie kaum ein anderer verstand, für das Theater zu schreiben. Seine Partitur, die er mit höchster Präzision bis ins Detail ausgearbeitet hat, impliziert oft schon die szenischen Vorgänge,  und das Libretto ist voll von realistischen Details. Zu diesem Realismus muss man sich als Regisseur verhalten. Es hat für mich keinen Sinn, sich diametral dagegenzustellen. Um zu einer eigenen Interpretation von Puccinis Werk zu kommen, habe ich mich deshalb gefragt, inwiefern das Stück etwas mit meinem eigenen Leben zu tun hat.

Und haben Sie Parallelen gefunden?
Zum Glück habe ich die Situation von Rodolfo nie erlebt, der dabei zusehen muss, wie seine grosse Liebe vor seinen Augen stirbt! Aber für mich ist wichtig, dass La bohème ein Stück über die Zeit der Jugend ist, in der noch alles im Leben möglich zu sein scheint. Die Gruppe von Bohemiens, um die es in diesem Stück geht, setzt sich aus sehr jungen Menschen zusammen, die ihre ersten Liebeserfahrungen machen und die noch voller Optimismus davon träumen, die Welt verändern und beherrschen zu können. Und das erinnert mich stark daran, wie ich selbst als Jugendlicher war. Ich habe in Norwegen gelebt und verzweifelt davon geträumt, nach Paris zu gehen und ein berühmter Künstler zu werden! Und Erlend, meinem Bühnenbildner, ging es damals genauso. Er wollte ein berühmter Maler werden...

Sie haben also die Situation, in der sich die vier Künstlerfreunde zu Beginn von Puccinis Oper befinden, in Ihrer Jugend selbst erlebt?
...wie wahrscheinlich viele andere junge Menschen auch, die davon träumen, grosse Künstler zu werden! Puccinis Oper beginnt mit dem Thema des Scheiterns. Rodolfo versucht an einem Drama zu schreiben, und Marcello malt an einem Bild; aber ihre Wohnung ist eiskalt, weil sie mit ihrer Arbeit kein Geld verdienen und weder Brennholz noch Essen kaufen, geschweige denn ihre Miete bezahlen können. Von einem grossen Künstlerdasein sind sie also weit entfernt. Aufgrund der Parallelen zu meiner eigenen Jugend beginnt das Stück bei uns in einem kleinen norwegischen Volkshaus, auf dessen Bühne die vier Künstlerfreunde ihr eigenes Theater zur Aufführung bringen wollen. Rodolfo schreibt das Stück, Marcello entwirft das Bühnenbild, Schaunard ist für die Musik und Colline, der Philosoph, für die Dramaturgie zuständig.

Das zweite Bild der Oper spielt im Quartier Latin, wo die Bohemiens den Weihnachtsabend feiern. Wie finden Sie in Ihrer Inszenierung den Weg aus dem norwegischen Volkshaus nach Paris?
Mit dem zweiten Bild komponierte Puccini eine grandiose Grossstadt-Szene, die in einer Stadt spielt, in der er bis dahin nie gewesen war. Seine eigenen Erfahrungen mit der Grossstadt machte er in Mailand – damals selber noch ein erfolg loser Musikstudent. Was Puccini in Musik umsetzt, ist also nicht seine reale Paris-Erfahrung, sondern seine Paris-Fantasie! Und genau so geht es in unserer Inszenierung Rodolfo. Aus der Trunkenheit der ersten Begegnung mit Mimì träumt er den Traum vom Künstlerleben in Paris. Dieser Traum, als Künstler in Paris zu leben, ist ja auch zu einem Mythos geworden, den wir in unserer Inszenierung thematisieren. Die fast absurd vielschichtige Musik, die Puccini für dieses zweite Bild schrieb, bestätigt uns in unserem Vorhaben, dieses Bild, das aus lauter gleichzeitigen,  sich überlagernden Handlungen besteht, als grosse Traumsequenz zu entwerfen.

Befinden wir uns im dritten Bild wieder auf dem Boden der Tatsachen?
Zu Beginn des dritten Bilds etabliert Puccini eine neue Atmosphäre, die schon darauf hindeutet, dass sich die Stimmung zwischen Mimì und Rodolfo verändert hat. Der Ort der Handlung, ein Zollhäuschen am Pariser Stadtrand, mag etwas seltsam gewählt erscheinen, aber für die Atmosphäre ist er genau richtig; es herrscht eine eisige, unangenehme Kälte. Nach dem grossen Künstlertraum im zweiten Bild herrscht hier wieder das Thema des Scheiterns vor. Musetta und Marcello streiten, Rodolfo ist eifersüchtig und realisiert gleichzeitig, dass Mimì sehr krank ist – und dass er dieser Situation nicht gewachsen ist. Die beiden entscheiden, sich zu trennen. In unserer Inszenierung ist der ganze Beginn des Bilds mit den Zöllnern, Milchfrauen und Marktfahrern, Teil des Theaterstücks, das Rodolfo und Marcello auf die Bühne des Volkshauses zu bringen versuchen. Aber Rodolfo ist unzufrieden mit dem Ergebnis. Auch seine künstlerischen Ambitionen drohen zu scheitern...

Als Bohemien ist Rodolfo von seinen künstlerischen Ambitionen besessen. Opfert er ihnen seine grosse Liebe Mimì?
Es gibt eine Anekdote über Edvard Munch, der zum Kreis der Osloer Boheme gehörte. Als er nach einem romantischen Rendezvous mit einer Frau ins Bett gehen wollte und sie gerade dabei war, ihre Strümpfe auszuziehen, bat er sie, in dieser Position zu bleiben. Er begann, sie zu zeichnen – und als er damit fertig war, bedankte er sich und schickte sie weg. Er hatte komplett vergessen, wozu sie eigentlich da war! Auch Rodolfo sieht Mimì immer im Kontext seines künstlerischen Schaffens. Wenn er sie im zweiten Bild seinen Freunden vorstellt, sagt er: «Ich bin der Poet, und sie ist die Poesie»...

Das heisst also, Mimì ist in Puccinis Oper eine konstruierte Idealfigur. Puccini und seine Librettisten verschmolzen in ihr die Charaktere von zwei verschiedenen Frauen aus Henri Murgers Vorlage. Wie gehen Sie in Ihrer Inszenierung mit dieser Frauengestalt um, in der Rodolfo «den Traum, den er immer träumen wollte» erkennt?
Ich habe zunächst tatsächlich darüber nachgedacht, ob Mimì nur in den Träumen des Dichters existiert, oder ob sie eine Frau aus dem Drama sein könnte, das er gerade schreibt. Ich habe dann aber gemerkt, dass der tragische Schluss der Oper seine Wirkung verlieren würde, wenn Mimì keine real existierende Figur wäre. Das Problem liegt darin, dass Rodolfo Mimì idealisiert. Er stilisiert sie zu einem Teil seines perfekten Lebenstraums – und verliebt sich in diese idealisierte Frau. Im dritten Bild stellt sich jedoch heraus, dass Mimì krank ist und wirkliche Liebe, Zuwendung und Fürsorge benötigt. Um diese Realität zu begreifen und sich ihr zu stellen, ist Rodolfo zu jung. Weil er mit der Realität überfordert ist, reagiert er mit Eifersucht und völlig unerwachsen. Er sieht zu diesem Zeitpunkt keine andere Möglichkeit, als sich von ihr zu trennen.

Und wenn er schliesslich realisiert, was passiert, ist es zu spät...
Das ist die grosse Tragik dieses Stücks. Und der eigentliche Konflikt des Bohemiens: Einerseits will er erwachsen werden und etwas erreichen – und auf der anderen Seite will er völlige Freiheit haben, und tun und lassen können, was er will.

Im vierten Bild leben die vier Bohemiens noch einmal ausgelassen ihre Freiheit aus, geben sich ganz dem Spiel hin...
...und dann kommt plötzlich der volle Ernst des Lebens zur Tür herein. Um dem Traum zu entfliehen und sich der Realität zu stellen ist es dann zu spät. Es bleiben nur wenige Stunden bis zu Mimìs Tod. Das Paradoxe dieser Schlusssituation ist, dass erst die Gewissheit, dass Mimì sterben wird, der vergangenen Zeit der Liebe ihre volle Bedeutung gibt!

Neben der zentralen Liebesgeschichte zwischen Mimì und Rodolfo gibt es in La bohème aber mit Marcello und Musetta ein zweites Paar, das eine ganz andere Vorstellung von Liebe zu haben scheint...
Wenn Musetta im zweiten Bild mit ihrem alten reichen Liebhaber Alcindoro auftritt und alle Blicke auf sich zieht, gibt sie sich eigentlich als Exhibitionistin preis. Man kann das so interpretieren, als würde sie das nur tun, um Marcello eifersüchtig zu machen. Ich glaube aber, dass sie das wirklich geniesst! Die freie Vorstellung von Liebe, die Musetta und Marcello haben, hängt für mich wieder mit meiner eigenen Jugend zusammen: ich bin während der 70er-Jahre aufgewachsen. Viele von uns hatten damals das Gefühl, dass wir durch unsere Vorstellungen von freier Liebe die Welt revolutionieren würden! Aber im Grunde waren wir genau so eifersüchtig wie alle anderen auch. Ich glaube, wenn Musetta und Marcello vor das gleiche existenzielle Problem gestellt würden wie Rodolfo und Mimì, würde ihnen ihre freie Einstellung in der Liebe – die vordergründig besser zu funktionieren scheint – nicht viel bringen.

Henri Murger beschreibt im Vorwort zu seinen Scènes de la vie de bohème das Leben der falschen Boheme, das in der Bedeutungslosigkeit endet, und das Leben der wahren Boheme, das nur ein Übergangsstadium zum Erfolg ist. Im letzten Kapitel von Murgers Buch sind Rodolfo und Marcello etablierte Künstler geworden. Zeichnet sich diese Entwicklung auch in der Oper ab?
Was Rodolfo angeht, glaube ich, dass er nach dem Tod von Mimì endlich sein Drama schreiben kann. Die Muse inspiriert nur dann, wenn sie abwesend ist und wenn man von ihr träumen kann. Wenn sie krank im Zimmer steht und einen mit den realen Problemen des Lebens konfrontiert, ist das nicht möglich... Aber Mimì ist doch keine Muse, sie ist eine reale Frau! Die Muse ist eine grosse Einbildung des westlichen Künstlers, die ihm im besten Fall zum Erfolg verhilft; und sie ist eine Lieblingsgestalt des westlichen Publikums, weil die Geschichten, die von einer Muse inspiriert sind, die schönsten sind!


Das Gespräch führte Fabio Dietsche.
Foto von Danielle Liniger.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 33, Oktober 2015.
Das MAG können Sie hier abonnieren.


Fotogalerie

 

Szenenbilder «La bohème»

Pressestimmen

«Tandberg siedelt das Geschehen in einer phantastischen Welt zwischen Realität und Traum an»
Neue Zürcher Zeitung vom 02. November 2015

«Was er jetzt in Zürich mit Giacomo Puccinis La Bohème anstellte, ist bemerkenswert.»Badische Zeitung vom 03. November 2015


Die geniale Stelle


Keine grosse Sache

Ein Akkord in Giacomo Puccinis «La bohème».

Was für ein Akkord! Eigentlich nichts weiter als ein h-Moll-Dreiklang. Aber die sorgfältige und äusserst sensibel abschattierte Instrumentation lässt den simplen Klang zu etwas Besonderem werden: Die Holzbläser spielen pianissimo in tiefer Lage, drei Hörner treten zunächst ganz zart mit einem kleinen Akzent hervor und gehen dann ebenfalls zum Pianissimo über, während der Klang der Holzbläser erstirbt. Dieser sanft changierende Klang erhält durch einen kaum hörbaren Beckenschlag im vierfachen Piano eine fast unirdische, jenseitige Zartheit.

Und wirklich ist es der Moment des Todes, den dieser Akkord bezeichnet. Die todkranke Mimì ist an den Ort zurückgekehrt, wo sie einmal glücklich war, um dort zu sterben. In den Armen ihres geliebten Rodolfo schläft sie sanft ein und niemand von den fieberhaft um sie bemühten Freunden bemerkt, dass sie in den Schlaf versunken ist, aus dem niemand erwacht. Nur dieser eine Akkord im Orchester lässt ahnen, was gerade geschehen ist. Der Tod, so scheint er zu sagen, ist keine grosse Sache, vielmehr ein alltägliches Ereignis und eins, das jedem von uns bevorsteht. Ein Leben erlischt, das Leben geht weiter.

Und doch – bei aller Zartheit markiert dieser Akkord einen starken Bruch der harmonischen Kontinuität. Die unmittelbar vorhergehende Passage, die Mimìs friedliches Einschlafen schildert, verliert sich in einem dissonanten Akkord, der nach Des-Dur aufgelöst werden müsste. Wenn nach einer langen Stille der h-Moll-Akkord eintritt, der auch den folgenden Dialog der Freunde grundiert, wird hörbar, dass etwas Unwiderrufliches geschehen ist. Denn wie alltäglich der Tod immer sein mag, die Welt ist danach nicht mehr, wie sie war. Ein Mensch fehlt für immer, und das reisst eine Lücke, die nichts schliessen kann.

Mimì geht so unauffällig, still und freundlich aus der Welt, wie sie in ihr gelebt hat. Es war ein kleines, unbedeutendes Leben, in dem wenig Glück war. Ein Leben grosser Not und kleiner Freuden: am Aufblühen des Frühlings, an einem billigen rosa Häubchen, das Rodolfo ihr zu Weihnachten schenkte, an der zärtlichen Zuwendung der Freunde, die sich um die Todkranke bemühen und zuletzt an dem schönen weichen Muff, in den geschmiegt sie aus dem Leben scheidet.

Puccini komponiert den Tod, wie es diesem Leben angemessen ist. Nur einen Akkord schenkt er Mimì, aber dieser eine Klang ist ergreifender als so manches bombastische Requiem, weil Puccini seine ganze eminente Instrumentationskunst auf ihn verwendete, weil er seine ganze Liebe für dieses zarte Wesen in ihn fliessen liess. Puccini, der so oft die kleinen Leute zu Helden seiner Werke machte und immer wieder seine Vorliebe für die kleinen Dinge bekundete, war auch kompositorisch ein «Meister des ganz Kleinen», der präzisen Ausarbeitung winziger und dennoch bedeutender Details, und darin vielleicht Richard Wagner am nächsten. Wie ein bescheidener Grabstein, so bescheiden, dass man ihn fast übersehen könnte, steht dieser eine Akkord in der Partitur, als ein zärtliches Denkmal für die kleine tapfere Frau, deren Leben sich vollendet hat.

Text von Werner Hintze.
Dieser Artikel ist erschienen im MAG 76, Februar 2020.
Das MAG können Sie hier abonnieren.

Audio-Einführung zu «La bohème»

Programmbuch

La bohème

La bohème

Synopsis

La bohème

Synopsis

La bohème