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Die Entführung aus dem Serail

Singspiel in drei Akten von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)
Libretto von Johann Gottlieb Stephanie d. J.

In deutscher Sprache mit deutscher und englischer Übertitelung. Dauer 2 Std. 35 Min. inkl. Pause nach ca. 1 Std. 15 Min. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.

Gut zu wissen

Trailer «Die Entführung aus dem Serail»

Gespräch


Gefangen in den eigenen Ängsten

Am 6. November 2016 feierte «Die Entführung aus dem Serail» Premiere. Zu Lebzeiten Mozarts fügte sich dieses deutsche Singspiel bruchlos in die beliebte Tradition der Türkenoper und wurde der grösste Erfolg des Komponisten. Heute schauen wir mit ganz anderen Augen auf dieses Stück. Ein Gespräch mit Regisseur David Hermann und Bühnenbildnerin Bettina Meyer über ihre Lesart der «Entführung».

In Mozarts Entführung aus dem Serail prallen zwei Kulturen aufeinander, die europäisch­-christliche, verkörpert von Belmonte, Konstanze, Blonde und Pedrillo, und die türkisch­islamische, repräsentiert durch Bassa Selim und Osmin. Ist die Entführung also ein brandaktuelles Stück? Oder anders gefragt: Was geht einem als Regisseur, als Bühnenbildnerin durch den Kopf, wenn man eine Inszenierung dieses Stückes vorbereitet?
David Hermann: Man wird sich bewusst, wie aufgeladen und komplex dieses Thema ist, und man fragt sich, ob Oper das richtige Vehikel ist, um dieses Thema differenziert zu betrachten. Obwohl das Stück durchaus einen aufklärerischen Habitus hat, gerade, was Islam und Christentum betrifft, sehe ich Schwierigkeiten, das auf unsere Zeit zu übertragen. Ich habe Sorge, dass man da keine befriedigende Antwort bekommt; heute ist alles so viel komplexer geworden. Allerdings gibt es in diesem Stück eine Figur, nämlich Osmin, die eine Radikalisierung aus Wut und Hass durchmacht. Diese Radikalisierung ist in ihrer Energie sehr theatral, aber für uns heute auch sehr erschreckend. Das haben wir versucht, so zu zeigen, dass es dabei viel mehr um unsere Angst geht, um das, was wir sofort befürchten, wenn jemand laut schreit und brutale Dinge fordert. So ist dieser Aspekt der Radikalisierung auch in unserer Lesart durchaus ein Thema.
Bettina Meyer: Vielleicht ist die Oper nicht das richtige Medium, um den aktuellen Kulturkonflikt aufzugreifen. Dennoch leben wir heute, machen heute Kunst und tragen die aktuellen Konflikte mit uns. Den Begriff «politisches Theater» finde ich schwierig – was das sein soll, davon hat jeder eine andere Vorstellung. Trotzdem stehen wir mit dem, was wir machen, in der Öffentlichkeit und haben auch eine Haltung. Wir haben uns dafür entschieden, die Geschichte der Entführung aus dem Serail aus dem Kopf, aus der Perspektive eines heutigen Westeuropäers – nämlich Belmonte – zu erzählen, der Ängste hat. Und diese Ängste betreffen nicht nur die Frage, ob Konstanze ihm treu war, sondern auch andere Bereiche, nämlich die Furcht vor dem radikalen Islam und vor dem Fremden ganz allgemein. Um das zu zeigen, verwenden wir Symbole oder Zeichen wie etwa einen arabischen Schriftzug.
David Hermann: Wir wollen zeigen, wie solche Ängste entstehen und auch wieder verschwinden...
Bettina Meyer: ...oder wie sie zum Teil auch paranoid sind. Das Auftauchen des arabischen Schriftzugs löst sofort Beunruhigung aus, weil wir momentan mit dieser Schrift nicht in erster Linie gelehrte Bibliotheken oder einen Hinweis auf die Wiege unserer gemeinsamen Kultur verbinden, sondern beängstigende Parolen – dabei bedeuten die Schriftzeichen in unserem Bühnenbild nichts anderes als «Das ist Bassa Selims Haus».

Wie entlarvt man solche Ängste als eigentlich unbegründet?
David Hermann: Der Held dieses Abends ist Belmonte, wir erleben seine Sicht der Dinge. Wir erzählen zudem keine lineare Geschichte, in der es von A nach B und dann weiter nach C geht, sondern unsere Geschichte geht von A nach B, springt dann vielleicht wieder zurück nach A, geht dann weiter nach C und anschliessend wieder zurück nach A. Durch diese Erzählweise wird, so hoffen wir, klar, dass es um Angstvorstellungen geht, die immer wieder kommen, die einen nicht loslassen, aber auch um bestimmte, vielleicht destruktive Muster in Beziehungen, in die man immer wieder zurückfällt, aus denen es kein Entrinnen gibt.
Bettina Meyer: Ich denke, jeder von uns kennt das Gefühl, nicht mehr zu wissen, was man eigentlich glauben soll. Auch unsere Ängste sind sehr diffus, sehr undifferenziert. Ich würde mir wünschen, dass in dieser Aufführung auch klar wird, wie reale, durchaus begründete Sorgen immer mehr zu etwas Albtraumhaftem, nicht mehr Kontrollierbarem werden können, sich so verselbständigen, dass sie aus der Realität herauskippen.

Neben der Angst vor dem Fremden und terroristischer Bedrohung steht die Angst Belmontes im Zentrum, Konstanze könnte ihm untreu geworden sein.
David Hermann: Ja, das Eifersuchtsproblem ist in Mozarts Originallibretto ganz zentral. Die Geschichte erinnert an eine Laborsituation, in der zwei Paare – Belmonte und Konstanze einerseits, Pedrillo und Blonde andererseits – in die Fremde geraten und die Aufgabe haben, dem Serail zu entkommen, in dem sie gefangen sind. Dabei durchleben sie verschiedene Stadien der Sorge, der Angst und vor allem der Eifersucht, weil es in dieser Fremde zwei Männer gibt, die jeweils eins der beiden Paare bedrohen. In unserer Lesart konzentrieren wir uns auf Konstanze und Belmonte und fragen uns, welchen Störungen dieses Paar ausgesetzt ist: Wie stark ist die latente Eifersucht von Belmonte? Gibt es von Konstanze ein unbewusstes Begehren, eine Sehnsucht nach einem anderen Mann? Sowohl Konstanze als auch Belmonte haben in unserer Version Doppelgänger, nämlich Blonde und Pedrillo, was uns die Möglichkeit gibt, weitere Spielarten dieser Paarbeziehung zu zeigen.
Bettina Meyer: Wir kennen das aus unseren Träumen, dass wir uns selbst zuschauen, aber nicht eingreifen können. In Belmontes Kopf laufen verschiedene albtraumartige Filme ab, die ihn bedrohen. Belmonte arbeitet gegen sich selbst. Das lässt sich mit dem Alter Ego, das wir eingeführt haben, sehr gut zeigen.
David Hermann: Für Belmonte gibt es aus diesem Albtraum kein Entkommen. Falls sich eine der verschlossenen Türen überhaupt öffnet, wartet dahinter nicht die Befreiung, sondern es beginnt der nächste Albtraum. Bettinas Räume haben zwei Pole, nämlich das Öffentliche des Restaurants und das Private des Schlafzimmers. Zwischen diesen beiden Polen spielt sich der Abend ab, und wir fragen uns, welchen Zwängen wir einerseits in einem öffentlichen Raum unterliegen und welche Rituale wir andererseits im privatesten Raum befolgen.
Bettina Meyer: Und dann gibt es ja auch noch den weissen, leeren «Zwischen­Raum» – hier ist Belmonte mit sich allein, gefangen in seinen Ängsten und Gedanken. Dieser Raum steht ganz allgemein für Belmontes Situation.

Die Räume, die ihr jetzt beschrieben habt, sind auf einer Drehbühne an geordnet, deren Bewegung eine Reise, aber zugleich auch das unentrinnbare Kreisen um sich selbst, das ausweglose Gefangensein in den eigenen Ängsten erfahrbar macht.
David Hermann: Ja, und ich denke, wir sind da ganz nah bei Mozart – es geht in der Entführung darum, einer Situation, in der man gefangen ist, zu entkommen. Belmonte möchte verstehen, worin er gefangen ist, und dieser Situation entfliehen.

Die Reise ins Serail seht ihr also eher als Reise ins Innere, in die seelischen Abgründe Belmontes...
David Hermann: Dabei gehen wir von einer ganz konkreten Situation aus: Nach einem Streit mit Belmonte verlässt Konstanze den Raum und kommt einfach nicht zurück. Belmonte begibt sich auf die Reise, um diese Frau wiederzufinden, und gerät in einen Strudel von immer schwieriger werdenden Situationen.

Der Bassa ist eine Projektionsfigur, die nicht spricht; und nicht nur er spricht nicht, sondern ihr erzählt das Stück komplett ohne gesprochene Dialoge.
David Hermann: Zum einen zweifle ich an der Form des Singspiels, weil es mich meistens nicht überzeugt, wenn Sänger Dialoge sprechen. Zum anderen war es für mich auch ein Experiment zu schauen, was passiert, wenn man dieses Stück ohne Dialoge spielt: Welche Arien und Ensembles treffen direkt aufeinander, wo entstehen neue Bedeutungsstränge, was heisst das für die Dynamik, die Spannungskurve?

Dass es überhaupt möglich ist, die Entführung fast ganz ohne gesprochenen Text zu erzählen, hat auch damit zu tun, dass Mozart im Gegensatz zu anderen Komponisten seiner Zeit in diesem Singspiel die Handlung keineswegs nur in den Dialogen stattfinden lässt, sondern dass sich die Handlung auch in der Musik abspielt...
David Hermann: Ja, das ist so, ganz besonders zum Beispiel in dem Quartett, in dem das Motiv der Eifersucht, des Zweifels der Männer an Konstanzes und Blondes Treue, zum ersten Mal auftaucht.

Die Entführung gilt als aufklärerische Oper; sie endet im Original damit, dass der Bassa den Europäern verzeiht und sie in die Freiheit entlässt – obwohl sich herausstellt, dass Belmonte, der ins Serail eingedrungen war, um Konstanze, die der Bassa liebt, zu entführen, der Sohn von Bassas ärgstem Feind ist. Wie steht ihr zu dieser Versöhnung am Schluss dieses Stückes?
Bettina Meyer: Ich habe diesen Schluss nie wirklich glauben können. Ebenso wie am Schluss der Zauberflöte finde ich, dass auch der jubelnde Schlusschor in der Entführung merkwürdig klingt, als wäre die Freude, die hier zum Ausdruck kommen soll, nicht ganz echt.

Zudem scheint ja eine Versöhnung der Kulturen, der Religionen heute schwieriger denn je; kein Wunder also, dass uns dieser originale Schluss fast naiv erscheint.
David Hermann: Wenn man die Geschichte von vornherein anders erzählt, so wie wir das tun, dann evoziert das auch einen anderen Schluss. In unserer Lesart müssen wir am Ende noch einmal ganz deutlich zeigen, aus wessen Perspektive die Geschichte erzählt wurde. Zu Beginn unserer Aufführung sagt Belmonte zu Konstanze: «Ich glaube, du bist die Geliebte des Bassa». Und wenn dann der Chor am Ende singt: «Bassa Selim lebe lange», dann zeigt das in unserer Version, dass Belmonte auch am Schluss des Stückes immer noch in seiner Eifersuchtsschlaufe drin ist, er hat es nicht geschafft, dieses Problem für sich zu lösen, er durchlebt in den allerletzten Takten noch einmal wie in einer Zentrifuge dynamisiert seine Ängste – dieser Mensch wird nicht erlöst, er bleibt vor dem Angstgebäude seiner Persönlichkeit stehen und muss damit fertig werden. So wie wir alle.


Das Gespräch führte Beate Breidenbach.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 43, Oktober 2016
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Szenenbilder «Die Entführung aus dem Serail»


Gespräch


Wo beginnt Untreue? Und wann ist Eifersucht Wahn?

In Mozarts «Entführung aus dem Serail» ist eine der zentralen Fragen, ob Konstanze ihrem Geliebten Belmonte in der Fremde treu war; durch Belmontes Zweifel an Konstanzes Treue, durch seine Eifersucht ist die Beziehung der beiden einer existentiellen Bedrohung ausgesetzt. Ein Gespräch mit dem Paartherapeuten Guy Bodenmann über Treue, Eifersucht und Paranoia vor der Premiere 2016.

Guy Bodenmann, was sind Ihrer Erfahrung nach heute die häufigsten Probleme von Paaren zwischen 30 und 40?
Eines der drei häufigsten Streitthemen von Paaren ist die Eifersucht. Daneben bieten Kinder, finanzielle Aspekte und die faire Verteilung und die Art der Erledigung der Hausarbeit weiteren Konfliktstoff.

Um welche Art von Eifersucht geht es häufig?
Die Bandbreite ist gross. Während der eine schon Eifersucht empfindet, weil der Partner jemand anderem nachschaut, liegt die Grenze bei anderen Paaren beim Flirten des Partners  oder einer möglichen Gefährdung der sexuellen Exklusivität.

Haben Sie erlebt, dass Eifersucht zur Obsession werden und die Beziehung zerstören kann?
Ja, krankhafte Eifersucht bis hin zur Paranoia kommt vor und äussert sich häufig sehr bizarr, wie das Beispiel eines Mannes zeigt, der davon überzeugt war, dass seine Frau einen Geliebten hätte. Das Paar ging zusammen auf eine einsame, entlegene Insel mitten im Pazifik in die Ferien; dort war weit und breit niemand. Dennoch war der Mann von der Idee besessen, dass der Geliebte sich auch auf dieser Insel aufhalten und sich heimlich mit seiner  Frau treffen würde. Das sind paranoide Vorstellungen mit damit einhergehenden konfrontativen Verhaltensweisen, die eine Beziehung arg strapazieren.

Wie weit kann so ein Wahn gehen?
In seltenen Fällen bis hin zu Tötungsdelikten, die durch krankhafte Eifersucht motiviert sind.

Wie kann man aus einem solchen Wahn herausfinden?
Dazu braucht es eine Psychotherapie. Das Kontinuum ist jedoch fliessend; es stellt sich daher im Einzelfall immer die Frage, ab wann ist Eifersucht obsessiv oder krankhaft? Diese Grenzziehung ist sogar für den Psycho­therapeuten nicht immer einfach. Und oft wird von einem Partner dem anderen krankhafte Eifersucht unterstellt, obwohl die Eifersucht durchaus begründet sein mag. Ich erinnere an den Fall eines Piloten, der mit seinen Stewardessen grenzwertigen E­Mail­Kontakt vor den gemeinsamen Flügen hatte, aber beteuerte, dies sei einfach der Jargon in ihren Kreisen und habe nichts zu bedeuten. Seine Partnerin sah das anders und war eifersüchtig und besorgt. Eifersucht ist, ausser bei pathologischen Fällen, meist ein partnerschaftliches Phänomen: Wie stark gibt ein Partner Anlass zur Eifersucht, wie behutsam und feinfühlig geht er auf den Partner ein, der Mühe mit seinem Verhalten hat, oder wie stark pocht er auf seine Freiheiten? Ist eine Frau zu Unrecht eifersüchtig, wenn sie mit ihrem Mann und einem befreundeten Paar essen geht und dabei ihren Mann belauscht, wie er dem anderen Lokale empfiehlt, in denen es besonders «heisse Kapseln» gebe? Häufig wird in Beziehungen diesbezüglich mit dem Feuer gespielt, die Eifersucht unnötigerweise geschürt. Vielfach versucht man den Partner auch eifersüchtig zu machen, um ihm etwas heimzuzahlen oder sich interessanter zu machen. Solche Verletzungen sollten vermieden werden.

Haben Sie Fälle erlebt, bei denen auch eine Therapie nicht geholfen hat?
Ja. Die Frage ist dann oft, ob die Problematik paardynamisch oder persönlichkeitsbezogen ist. Es gibt Menschen, die neigen zu einer misstrauischen Art, haben konstant das Gefühl, getäuscht zu werden, und wittern grundlos die Untreue des Partners, unterstellen anderen Menschen Boshaftigkeit oder mangelnde Loyalität, denken, sie würden bewusst benachteiligt oder schikaniert und sind lange nachtragend. Solche Menschen weisen paranoide Persönlichkeitszüge auf, die nicht paartherapeutisch, sondern individualtherapeutisch behandelt werden müssen. Es ist nicht aussichtslos, dass eine Therapie anschlägt; oft sind es allerdings langwieri ge Prozesse, bis dieses Muster verändert werden kann, und oft zerbricht die Partnerschaft bereits vorher.

Stehen hinter der Angst des Mannes, die Frau könnte fremdgehen und umgekehrt, auch manchmal Versagensängste bzw. die Angst, nicht zu genügen, nicht gut genug zu sein für den Partner, für die Beziehung?
Häufiger ist es Bindungsunsicherheit. Unsere ersten Bindungserfahrungen machen wir in der Frühkindheit. Dort wird im günstigen Fall ein Grundvertrauen gelegt, die eigene Wirksamkeit und die Verlässlichkeit emotionaler Bindung erfahren. Bindungssicherheit wird dann erworben, wenn der Säugling verlässlich die Erfahrung macht, dass die Bezugsperson angemessen auf seine Bedürfnisse eingeht und sein Missbehagen (z.B. die Erfahrung von Kälte, Wärme, nassen Windeln, Angst) zu regulieren imstande ist. Diese Erfahrungen schaffen Urvertrauen, und das Kind lernt, dass es etwas bewirken kann, indem es schreit, dass jemand kommt und es beruhigt. Dies bildet die Grundlage für die Entwicklung eines gesunden und stabilen Selbstwerts. Man erfährt, dass man geliebt wird, etwas bewirken kann, für andere wichtig ist. Wenn diese Erfahrungen nicht angemessen gemacht werden können, indem die zentralen Bezugspersonen zu häufig abwesend sind oder zu wenig sensitiv auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen, entsteht eine unsichere Bindung. Das Kind wird entweder ängstlich­ambivalent oder vermeidend gebunden. Der Bindungsstil zeigt sich bereits bei Kindern im Alter von einem Jahr in der Art und Weise, wie sie auf Trennungen und Wiedervereinigungen reagieren. In einem Bindungstest weinen die sicher gebundenen Kinder, wenn die Mutter den Raum verlässt; wenn sie zurückkommt, lassen sie sich jedoch rasch wieder beruhigen. Bei ängstlich­ambivalenten Kindern beobachtet man dagegen, dass sie exzessiv schreien, der Mutter nach kriechen, sie versuchen festzuhalten, wenn sie hinausgeht; wenn die Mutter zurückkommt, sind sie ambivalent, sie stossen die Mutter zurück, sind schwierig zu beruhigen. Die vermeidenden Kinder ignorieren die Mutter bereits, wenn  sie den Raum verlässt, schauen ihr kaum nach, und wenn sie zurückkommt, spielen sie weiter, als wäre nichts gewesen. Diese Kinder – die auf den ersten Blick als die pflegeleichtesten wirken könnten – sind bindungsmässig gestört. Diese frühen Bindungserfahrungen sind auch für die spätere Eifersucht prädiktiv. Ein Mensch, der ängstlich gebunden ist, wird auch in der Partnerschaft bezüglich der Verlässlichkeit des Partners unsicher sein und vermehrt Angst haben, nicht ausreichend geliebt oder sogar verlassen zu werden. Diese Befürchtungen gehen zwangsläufig mit erhöhter Eifersucht einher. Somit sind die frühkindlichen Bindungserfahrungen häufig stärker für Eifersucht verantwortlich als Versagensängste. Diese können allerdings ebenfalls eine Rolle spielen. Beim Gefühl, dem Partner nicht zu genügen und ihn an einen vermeintlich besseren Konkurrenten zu verlieren, spielen häufig beide Aspekte eine Rolle: eine unsichere Bindung und ein niedriges Selbstwertgefühl. Eine Person mit gutem Selbst­bewusstsein wird durch andere weniger stark gestresst und hat mehr Vertrauen in den Partner und in die Überzeugung, dass dieser bei ihr bleiben und ihr treu sein wird, auch wenn sie ihm nicht in allen Belangen genügen kann.

Für wie wichtig halten Sie Treue in einer Beziehung?
Vor 15 Jahren haben wir bei 17­-jährigen Gymnasiasten eine Fragebogenstudie durchgeführt und diese letztes Jahr wiederholt. Es ging um die Sicht von Liebe und Partnerschaft. Eine Frage war, für wie wichtig Jugendliche Treue in der Partnerschaft halten. Im Jahr 2015 gaben 98 Prozent der Mädchen und 90 Prozent der Jungen an, dass Treue für sie zentral sei. Vor 15 Jahren waren es 83 Prozent der Mädchen und 80 Prozent der Jungen. Die Idee,  dass Treue unerlässlich sei für das Gelingen der Partnerschaft, ist also heute noch stärker als vor 15 Jahren, was ich bemerkenswert finde. Evolutionsbiologisch spielt Treue für beide Geschlechter eine wichtige Rolle. Die Frau möchte, dass sich der Mann für ihren Nachwuchs verantwortlich fühlt, sich um ihn sorgt und beiden eine gute Lebensgrundlage bietet; der Mann wiederum möchte Treue, damit er keine Kuckuckskinder aufzieht und seine Ressourcen nicht mit fremdem Nachwuchs verschwendet. Treue ist aber erneut vor allem bindungstheoretisch relevant, weil man sich eine verlässliche und stabile Partnerschaft wünscht. Interessant ist nun die Frage, wie Treue im Alltag gelebt wird. Studien zeigen, dass rund 50 Prozent der Paare im Verlauf der Beziehung Untreue erfahren. Die Einstellung zu Treue und das tatsächliche Verhalten unterscheiden sich also stark. Viele wünschen sich Treue vom andern, definieren für sich selbst Treue aber grosszügiger. Noch interessanter wird es, wenn nicht nur die sexuelle Treue, sondern auch die emotionale Treue berücksichtigt wird. In den USA hatte ein konservativer, verheirateter Senator Nacktbilder von sich an verschiedene Frauen verschickt, was einen Skandal ausgelöst hatte, obwohl er objektiv seiner Frau sexuell treu war, da er (soweit man informiert ist) keine sexuellen Affären mit anderen Frauen hatte. Die Definition von Untreue als Verletzung der sexuellen Exklusivität (auch als Seitensprung oder Ehebruch bezeichnet) griff in diesem Fall zu kurz. In einer kürzlich in Deutschland und der Schweiz durchgeführten Studie, bei der man sich zuerst selbst bezüglich seiner Treue einschätzen musste, ergab, dass rund 80 Prozent sich als treu bezeichneten, gleichwohl aber emotional intime Chats mit einer fremden Person ausserhalb der Partnerschaft führten oder teils sogar explizite sexuelle Chats verfassten.

Sind wir denn Ihrer Erfahrung nach überhaupt dafür geschaffen, über Jahrzehnte monogam und treu zu leben?
Diese Frage ist komplex. Bei den Primaten gibt es nur drei Affenarten (Gibbon, Klammeraffe, Nachtaffe), die monogam sind. Bei den Schimpansen, unseren nächsten Verwandten, ist es sogar so, dass alle Männchen sexuellen Kontakt mit allen Weibchen der Gruppe haben; entsprechend kümmern sich auch alle Männchen um den Nachwuchs. Interessanterweise lassen die Weibchen zwar alle Männchen an sich heran – ausser zum Zeitpunkt der Ovulation; da gewähren sie nur  ihrem Favoriten sexuelle Kontakte. Das heisst, die Weibchen steuern ohne das Wissen der Männchen, mit wem sie Nachwuchs haben. Aber grundsätzlich ist Treue bei Primaten selten. Damit wäre es evolutionsbiologisch gesehen kein Konzept, das uns mitgegeben wurde.
Weiter spielen in der modernen westlichen Welt gesellschaftliche Werte wie Selbstverwirklichung, Autonomie und Freiheit – man soll tun und lassen können, was für einen selber am besten ist – eine Rolle. Die Einstellung, dass die Sexualität jedem selbst gehöre und der andere keinen Anspruch darauf habe, erzeugt ein weiteres Spannungsfeld, innerhalb dessen es immer schwie­riger wird, Treue einzufordern. Diese Liberalisierung spiegelt sich auch in den Medien, wo Untreue namhafter Persönlichkeiten immer stärker als Privatsache verstanden wird und nicht mehr zu wochenlanger Ächtung und Empörung führt. Auch begrifflich werden negativ besetzte Ausdrücke wie Ehebruch seltener verwendet, stattdessen findet man Begriffe wie Seitensprung, One­night­Stand oder Affäre. All dies verändert die Konnotationen von Treue und Untreue. Auch juristische Barrieren sind heute entfallen. Bis ins 20. Jahrhundert wurde Ehebruch sanktioniert und in der Schweiz erst 1989 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Damit ist es heute auch rechtlich unbedenklich geworden fremd zugehen. Einzig aus bindungstheoretischer Sicht ist und bleibt die Treue zentral. Wenn jemand sexuell untreu wird, strapaziert er auch die emotionale Bindung. Unser Bindungsbedürfnis fordert Treue ein; alle anderen Faktoren wirken eher gegen die Treue oder fördern diese zumindest nicht. Das wird es der Treue in Zukunft nicht leichter machen.

Wie sehr sind Paare Ihrer Erfahrung nach in Beziehungsmustern gefangen, aus denen sie nicht herausfinden?
Je länger Paare zusammen sind, desto stärker werden diese Muster. Man bringt jedoch immer eine Grundkonstante mit, wie zum Beispiel den eigenen Bindungsstil – das heisst, auch wenn man eine neue Partnerschaft eingeht, ist es kein Neuanfang mit völlig offenem Ausgang. Entscheidend kann aber sein, wie der andere damit umgeht. Wenn ein Partner sensibel auf die Ängste des anderen eingehen kann, ermöglicht dies mitunter einen positiveren Verlauf. Doch irgendwann ist das Verständnis des Partners vielleicht erschöpft, er fühlt sich von der Eifersucht und den Ängsten des anderen zu stark eingeschränkt und beansprucht, und die bekannten Muster gewinnen wieder Oberhand.

Also ist die Chance, aus Beziehungsmustern auszubrechen, die auf die Art der Bindung zurückgehen, wie wir sie in unserer frühesten Kindheit gelernt haben, eher klein?
Es bräuchte dafür jahrelange neue Erfahrungen, die zeigen: Ich werde akzeptiert und geliebt, der Partner oder die Partnerin ist verlässlich und trägt mir Sorge; so kann Vertrauen neu gelernt und der Bindungsstil überschrieben werden. Hinzu kommt jedoch, dass auch die Art und Weise, wie die Eltern ihre Partnerschaft gelebt haben, für die Partnerschaft der Kinder eine Rolle spielt. Verhaltensmuster tradieren sich über Generationen. Entsprechend ist dieses familiäre Gepäck – dieses Herkunftsgepäck – ein weiterer wichtiger Faktor innerhalb der Partnerschaftsdynamik.


Das Gespräch führte Beate Breidenbach.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 43, Oktober 2016
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Volker Hagedorn trifft 2018...


Daniel Behle

Frag ihn nicht nach seiner Mutter, habe ich mir vorher gedacht, Kinder berühmter Eltern mögen das nicht. Aber die Frage erweist sich sowieso als überflüssig. «Meine Mutter», sagt Daniel Behle nach wenigen Minuten, «hat ja auch viel übereinandergesungen, Rosina am einen Abend und Tosca am nächsten.»

Wir sitzen in der kleinen Kantine des Neubaus neben dem Nationaltheater München, wo der Tenor gerade die Meistersinger geprobt hat, in der Rolle des David, mit der er im vorigen Jahr in Bayreuth debütierte. Dem David in München wird der Freischütz-Max in Stuttgart folgen und diesem in Zürich Belmonte in Mozarts Entführung aus dem Serail. Zwei Tage nach unserem Treffen singt Behle in Frankfurt Lieder von Dvořák und Ligeti, ausserdem ist eine Sony-Produktion mit 26 Weihnachtsliedern fertig, deren Bearbeitungen für Sänger und sechs Instrumente er selbst komponiert hat.

Ja, er singt selbst «viel übereinander». Er kommt mit Bach ebenso klar wie mit Mozart, Lehár und Strauss. Er setzt sich einerseits gern im Ringelpulli ans Klavier und intoniert Seemannslieder seiner Geburtsstadt Hamburg – und fasst andererseits gerade seinen ersten Lohengrin ins Auge. Man könnte bei so einem zweierlei vermuten: Erstens, dass er früh anfing, zweitens, dass er mit einer beträchtlichen Bugwelle von einer Produktion zur anderen rauscht und schwer zur Ruhe kommt. Mitnichten. Der Sänger, mittelgross, jungenhaft, 43 Jahre alt, hat Zeit und spricht gern über seine Arbeit, aber so leise wie einer, der fast mehr nachdenkt als singt. Und an eine Sängerlaufbahn hat er erst mit 24 Jahren gedacht. Obwohl doch Renate Behle seine Mutter ist, die in hochdramatischen Rollen von Reimanns Kassandra bis Wagners Brünnhilde gefeiert wurde.

«Das Singen stand für mich zuerst gar nicht zur Debatte», sagt er, «ich war auch kein Fan des Operngesangs wegen des grossen Vibratos. Ich hab sogar meiner Mutter gesagt, als ich sechs war: mach doch mal weniger Vibrato …» Er lacht. Sie hat ihm das offenbar nicht übel genommen und ist später sogar seine Lehrerin geworden. Zugehört hat Daniel Behle natürlich schon früh sehr genau, nicht nur der Mutter, sondern auch dem Orchester, in dem sein Vater Oboe spielte. Es war das Hamburger NDR-Orchester der «goldenen Ära», wie er sagt, mit Günter Wand als Chefdirigent. Bruckner! Posaunen! Die vor allem haben ihn beeindruckt, «die stärkere forza, drei, vier Posaunen gegen den Rest des Orchesters!», mehr als das Cello, auf dem er spielte, und die Oboe, in deren Spiel ihn sein Vater unterwies. Also startete er mit der Posaune in ein Schulmusikstudium, «aber auf sehr moderatem Niveau.»

Er suchte weiter, nahm Kompositionsunterricht («ich hab’ Magnificats und Madrigale rauf und runter geschrieben»), lernte Jazzimprovisation auf dem Klavier, «aber ich habe gemerkt, dass ich auf der Posaune nicht der Bringer bin und auf dem Klavier auch nicht und dass die Kompositionen schön ins Mittelfeld abfallen. Dass man langsam mal etwas braucht, wovon man auch leben kann.» Das erste, was er mit 24 Jahren seiner Mutter vorsang, war «Horch, die Lerche singt im Hain» aus den Lustigen Weibern. «Es war stimmlich fast nichts da, aber das gis fand sie so schön, dass sie sagte, wir müssen unbedingt am Rest arbeiten, du hast eine gute Höhe, und es gibt nicht so viele Tenöre.» Es war auch «ein bisschen Familientherapie», wie Daniel Behle sagt, denn zwei Jahre zuvor, 1996, war viel zu früh sein Vater gestorben. «Ich habe jeden Tag Unterricht bekommen. Sehr lange mit den Übungen von Vaccai», das war ein Zeitgenosse Rossinis und Gesangslehrer, «und ganz früh auch mit der Entführung.» Dann studierte er weiter beim Tenor James Wagner, bekam ein erstes Engagement in Oldenburg – aber so chronologisch erzählt Daniel Behle selbst das alles keineswegs, sondern wie der Sänger, der viele Rollen gleichzeitig im Kopf hat, von der Oper zum Liedgesang kommt, vom Liedgesang zum Weihnachtsspass. Alles ist verbunden. In Oldenburg machte er die Erfahrung, dass er dienstags in La cenerentola besser sang als samstags, da aber viel mehr Effekt machte, «weil das Publikum dann ausgeschlafen war», und das bringt ihn auf Bayreuth: «Die Leute applaudierten in den Meistersingern dieses Jahr gefühlt 80 Prozent mehr als im letzten Jahr. Da hatten sie über Barrie Koskys Inszenierung noch nicht so viel gelesen … Sie haben uns jetzt gefeiert wie Rockstars. Ich sagte zu Michael Volle, unserem Sachs: So viel besser als letztes Jahr sind wir aber nicht! Er meinte bloss: Naja, wir sind schon gut …»

Wagner, meint Behle, könne einen Sänger müde machen, «wenn er nicht immer wieder versucht, leicht anzusetzen.» Ihm selbst helfe immer der «perfekte Zustand, zu dem mich das Lied zurückbringt. Wo man begreift, wie ein stimmlicher Muskel funktioniert, ohne dass ein Orchester einen pusht.» Was ist der perfekte Zustand? «Ah», macht er kurz, den Vokal zart und entspannt anstossend, «Ah … Und dazu das mmmm … schmeckt das gut … Wenn das da ist, dann kannst du daraus auch das Heldische entwickeln: Seeenta, willst du mich verderben», das allerdings schmettert er nicht in die stille Kantine, sondern parodiert eher den Erik aus dem Holländer. Und wenn es nicht da ist? Es folgen unbeschreibliche Würgegeräusche und Gelächter: «Ich muss für die nächsten Jahre meinen Terminplan so hinkriegen, dass ich eine Richtung vorantreiben kann, aber behutsam. Zwei Schritt vor, einer zurück.»

Denn er ist zwar «vielleicht ein superguter lyrischer Tenor für das Mozartfach», aber zum einen reizen ihn Wagners Partien, zum andern will er auch seine «Mezzoforte-Talente» weiter blühen lassen: Das Klavier, das Komponieren, zusammengeführt in Projekten wie der Schubertschen Winterreise, die er für Tenor und Klaviertrio bearbeitet hat, behutsam und pointiert Querbezüge schaffend, wenn etwa die Krähe aus dem fünfzehnten Lied schon durch den Anfang schwebt. Dahinter steht Behles Psychogramm des Winterreisenden: «Anders als der Müller in der Schönen Müllerin bringt er sich nicht um. Er hat sich hinausjagen lassen und ist seiner Liebe nicht gefolgt. Er wird alt und leiert seine Lieder immer wieder. Das machen Menschen, wenn sie einen Fehler begangen haben. Sie wiederholen sich ständig, kratzen an der Wunde und hoffen, dass irgendwann der Schmerz nachlässt. Was er nicht tut.»

Daniel Behle indessen ist seiner Liebe gefolgt, aus Hamburg nach Basel, hat mit ihr inzwischen drei Kinder und ist deswegen entzückt, dass er von den Zürcher Proben abends immer wird heimfahren können. Den Belmonte, der seiner Liebe ja ebenfalls folgt, sieht er skeptisch, zwischen Verlierer und Held: «Er kommt eigentlich mal kurz in den Orient, um seine Frau zu befreien, jammert sie aber voll, anstatt zu sagen, ‹hier bin ich, komm zu mir, lass uns heimfahren!›». Die knappe Ansage spricht Behle so wie der friesische Komiker Otto Walkes zu seinen besten Zeiten. Tja, mit so einem Belmonte wäre die Oper kurz und lustig. «Mozarts Held ist aber gar nicht so einfach. Er scheint noch eine Leiche im Keller zu haben.» Auch stimmlich ist er nicht bequem, «hoch gelegen, eine Mischung von Kopf- und Bruststimme, viele stehende Töne auf dem ,i’».

Was ist denn an Opern, nicht nur Mozarts Entführung, aktuell? Abgesehen von den zeitlosen Themen Liebe, Eifersucht, Macht, Tod? «Wenn du eine Oper hast», sagt Daniel Behle, ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen, «bist du authentisch, egal ob dir die Musik gefällt oder nicht. Das ist aktueller denn je mit all den fake news. Und ein live event wie die Oper, wo zweihundert Leute zusammenwirken, ist immer echt. Der Mensch will das heute, der will Operndarsteller!» Und dann führt Daniel Behle mir noch vor, wie man Oper und Weihnachtslieder so zusammenbringen kann, dass es ein authentischer Spass wird. Aus seinem Smartphone erklingt eine Art Kreuzung aus Meistersinger-Vorspiel und O Tannenbaum für sechs Instrumente. Sehr durchgeknallt, sehr elegant. «Das können mir die Traditionalisten dann gern um die Ohren hauen!»


Text von Volker Hagedorn.
Foto von Marco Borggreve.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 62, Oktober 2018.
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Audio-Einführung zu «Die Entführung aus dem Serail»

Programmbuch

Die Entführung aus dem Serail

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Synopsis

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Die Entführung aus dem Serail